Trotz erneutem (Teil-)Lockdown: Die täglich vom Robert Koch-Institut (RKI) verkündeten Infektionszahlen bewegen sich weiterhin auf einem erschreckend hohen Niveau: Nicht nur die absolute Anzahl der Infizierten hat deutlich zugenommen, auch die Ansteckungs‑, Erkrankungs- und Todesraten sind signifikant angestiegen.
Doch selbst nach Monaten intensivster Forschung – die bereits sehr früh, das heißt unmittelbar während des erstmaligen Ausbruchs in Wuhan (China), begonnen wurde – wissen wir heute noch immer zu wenig über das neuartige Virus, das vielen Menschen nur wenig etwas anzuhaben scheint und bei anderen wiederum sehr verwirrende Symptome hervorruft, sodass gegenwärtig noch immer keine spezifische, wirksame Behandlungsoption vorliegt. Bekannt ist nur, dass das Virus am Ende unser Immunsystem zu Reaktionen triggert, die uns schaden und in einem scheinbar unaufhaltsamen Prozess tödlich enden.
COVID-19 und Thrombosen
Im März konnten unter anderem die, an den in Italien an COVID-19 verstorbenen Patienten, durchgeführten Autopsien aufzeigen, dass bei besagtem Prozess der Bildung von Thrombosen eine bedeutende Rolle zukommt. Und zwar nicht nur den bekannten Thrombosen in den Beinvenen, wie sie beispielsweise nach großen operativen Eingriffen oder nach längeren Flugreisen gehäuft auftreten und die das lebensbedrohliche Risko einer Lungenembolie bergen. Nein, auch die Lungenarterien selbst schienen bei den Patienten mit tödlichem Verlauf eine hohe Gerinnungsbereitschaft aufzuweisen.
Bis zum Mai 2020 setzte sich dann die Erkenntnis durch, dass die Schwierigkeit, kritische Patienten korrekt zu beatmen – sie also mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff zu versorgen – eben genau darin begründet lag, dass die Arterien in der Lunge durch Blutgerinnsel „verstopfen“. Und nicht nur dort sollten sich Gerinnsel finden: Denn COVID-19 verursacht auch in allen anderen Gefäßen Thromben – mit nicht weniger dramatischen Folgen.[1]
Thrombosen vorbeugen – auch im ambulanten Bereich
Thrombosen in den Schlagadern führen beispielsweise zum Herzinfarkt, wenn sie in den Koronargefäßen auftreten, oder zum Schlaganfall, wenn sie in den Schlagadern des Kopfes auftreten. Die Vorbeugung gegen diese Form der Thrombose erfolgt mit sogenannten Aggregationshemmern, zu deren wohl bekanntester Vertreter die Acetylsalicylsäure (ASS), wie zum Beispiel Aspirin®, zählt.
Zur Vermeidung von venösen Thromboembolien (VTE) werden in Krankenhäusern regelmäßig Heparin-Injektionen verabreicht. Einen Zusammenhang zwischen der Gabe von Heparin und COVID-19 zeigte sich bereits zum Zeitpunkt des Ausbruchs im chinesischen Wuhan. Dort wurde auf den Intensivstationen festgestellt, dass sich die Sterblichkeitsrate bei schwerstkranken Patienten unter der Gabe von Heparin (in Prophylaxedosierung) verringern ließ – von 60 % (ohne Heparin) runter auf 42 % (mit niedrig dosiertem Heparin).
Bereits im April hat in Deutschland die Gesellschaft für Thrombose und Hämostaseforschung (GTH) die Empfehlung ausgesprochen, bei Corona-Infizierten auch im ambulanten Bereich großzügig Heparin einzusetzen:
„Bei allen Patienten mit gesicherter SARS-CoV-2-Infektion sollte die Indikation zur medikamentösen VTE-Prophylaxe mit NMH unabhängig von der Notwendigkeit einer Hospitalisierung fortlaufend geprüft und großzügig gestellt werden.“ (NMH = niedermolekulares Heparin).[2]
In diesem Zusammenhang nimmt die Empfehlung der wichtigsten deutschen Gesellschaft für Gerinnungserkrankungen beinahe schon den Charakter einer Leitlinie ein. Demgegenüber bezieht sich als einzige Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) die Leitlinie „Neues Coronavirus – Informationen für die hausärztliche Praxis“, verfasst von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), auf ambulante Patienten (sprich, solche vor einem stationären Aufenthalt). Darin wird als einziges Medikament Heparin empfohlen, und zwar bei Patienten mit Risikofaktoren, wie Adipositas, Alter und vielen Krankheiten.[3] Allerdings sollte dieser Zusammenhang in Studien belegt werden, so fordert es auch die UIA (Union international de Angiologie, Internationale Vereinigung der Angiologen), als höchstes Gremium der Internisten, die sich mit Gefäßen und ihren Erkrankungen befassen, im September:
„The use of low molecular weight heparin in early stage of the disease could prevent vascular complications and reduce the progression to severe stage of the disease.“[4]
Studien zur Wirksamkeit von ASS[5,6,7] und Heparin[8] zur Senkung der Todesrate gibt es bereits, allerdings nur bei Patienten im Krankenhaus, die bereits schwer krank sind. Wenn Heparin nach der stationären Aufnahme mit bereits vorliegender Luftnot verabreicht wurde, wird die Sterberate circa um ein Drittel gesenkt. Heparin gehört deshalb international zum Standard der Behandlung von Patienten mit Corona in kritischen Phasen.
Zur Autorin: Dr. med. Erika Mendoza ist Generalsekretärin und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie (DGP), Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für CHIVA sowie Begründerin und Vorsitzende des Wundnetzes Hannover West.
[1] Klok FA, Kruip MJHA, Arbous MS, Gommers DAMPJ, Kant KM, Kaptein FHJ, van Paassen J, Stals MAM, Huisman MV, Edeman MV (2020): Incidence of thrombotic complications in critically ill ICU patients with COVID-19. In: Thromb Res 191, S. 145–147. DOI: 10.1016/j.thromres.2020.04.013.
[2] GTH (2020): Aktualisierte Empfehlungen zur Thromboseprophylaxe bei SARSCoV‑2 (COVID-19) vom 21. 4. 2020. Verfügbar unter: bit.ly/2KeiLk2 [11. 2. 2020].
[3] DEGAM (2020): Neues Coronavirus (SARS-CoV‑2) – Informationen für die haus- ärztliche Praxis. S1-Leitlinie, Stand vom 23. 11. 2020. AWMF-Register-Nr. 053–054, S. 28.
[4] Costanzo L, Failla G, Antignani PL, Fareed J, Gu Y, Pitha J, Aluigi L, Karplus T, Mansilha A (2020): The Vascular Side of COVID-19 Disease. Position paper of the International Union of Angiology. In: Int Angiol 2020 Sep 7. DOI: 10.23736/S0392- 9590.20.04539–3.
[5]Belcaro G, Corsi M, Cesarone MR, Cornelli U, Cotellese R, Feragalli B, Hu S (2020): Thrombo-prophylaxis prevents thrombotic events in home-managed COVID pati- ents. A registry study. In: Minerva Med 111 (4), S. 366–368. DOI: 10.23736/S0026- 4806.20.06688–4.
[6]Casini A, Alberio L, Angelillo-Scherrer A, Fontana P, Gerber B, Graf L, Hegemann I, Korte W, Kremer HJ, Lecompte T, Martinez M, Nagler M, Studt J‑D,Tsakiris D, Wuille- min W, Asmis LM, Working Party on Hemostasis of the Swiss Society of Hematology (2020): Suggestions for thromboprophylaxis and laboratory monitoring for in-hospi- tal patients with COVID-19. In: Swiss Med Wkly 150:w20247.
[7]Chow J, Khanna AK, Kethireddy S, Yamane D, Levine A, Jackson AM, McCurdy MT, Tabatabai A, Kumar G, Park P, Benjenk I, Menaker J, Ahmed N, Glidewell E, Presutto E, Cain S, Haridasa NB, Field W, Fowler J, Trinh, D, Johnson KN, Kaur A, Lee AB, Sebastian K, Ulrich A, Peña S, Carpenter R, Sudhakar S, Uppal P, Fedeles BT, Sachs A, Dahbour L, Teeter W, Tanaka K, Galvagno SM, Herr DL, Scalea, TM, Mazzeffi MA (2020): Aspirin Use is Associated with Decreased Mechanical Ventilation, ICU Admis- sion, and In-Hospital Mortality in Hospitalized Patients with COVID-19. In: Anesthesia & Analgesia October 21, 2020. DOI: 10.1213/ANE.0000000000005292.
[8] Nadkarni GN, Lala A, Bagiella E, Chang HL, Moreno PR, Pujadas E, Arvind V, Bose S, Charney AW, Chen MD, Cordon-Cardo C, Dunn AS, Farkouh ME, Glicksberg BS, Kia A, Kohli-Seth R, Levin MA, Timsina P, Zhao S, Fayad ZA, Fuster V (2020): Anticoagu- lation, Bleeding, Mortality, and Pathology in Hospitalized Patients With COVID-19. In: J Am Coll Cardiol 76 (16), S. 1815–1826. DOI: 10.1016/j.jacc.2020.08.041.