MedLetter: Frau Ulsperger, in der Arzthaftpflicht ist immer von „Verfahren vor der Gutachterkommission oder Schlichtungsstelle die Rede“. Das gibt es in anderen Berufen so nicht. Daher würden wir gerne mehr zu dieser Einrichtung erfahren. Frau Ulsperger, Seit wann gibt es diese Institutionen?
Ulsperger: 1975 wurden bei den Landesärztekammern Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen eingerichtet. Dort werden auf Antrag von Patienten, aber auch von Ärzten Behandlungsgeschehen nach Aktenlage untersucht und beurteilt, wenn Behandlungsfehler vermutet bzw. behauptet werden.
In manchen Bundesländern wurden Gutachterkommissionen eingerichtet, in anderen Schlichtungsstellen. Die Gutachterkommissionen erstellen ein Gutachten zur ärztlichen Behandlung und beurteilen, ob ein Behandlungsfehler festgestellt werden kann, durch den der Patient einen Schaden erlitten hat. Die Schlichtungsstellen beurteilen dabei in ihrer Stellungnahme zudem, ob zivilrechtliche Schadenersatzansprüche dem Grunde nach bestehen.
Beide Gremien sind regelmäßig besetzt durch Juristen (die die Befähigung zum Richteramt haben müssen) und durch Ärzte des jeweils zu beurteilenden Fachgebiets, sodass Sachverstand und Objektivität gewährleistet wird.
MedLetter: Warum gibt es die Gutachterkommissionen?
Ulsperger: Anders als bei Sachschäden oder der Verletzung von Personen z. B. im Rahmen eines Verkehrsunfalls ist es für den geschädigten Patienten schwer, die haftungsrechtliche Situation zu bewerten, d. h., ob vorliegend ein Behandlungsfehler gegeben ist oder aber sich ein allgemeines Lebensrisiko bzw. behandlungsimmanentes Risiko verwirklicht hat. Für den Patienten ist meist ein erhoffter Behandlungserfolg ausgeblieben oder aber im Zusammenhang mit einer ärztlichen Behandlung ein gesundheitlicher Schaden entstanden, ohne dass er die Ursache hierfür beurteilen und begründen kann, weil dies nur mit medizinischer Fachkenntnis möglich ist.
Zielrichtung dieser Verfahren ist insoweit die objektive Begutachtung von Behandlungsgeschehen, bei denen aus
Sicht des Patienten ein Behandlungsfehler vorliegt bzw. nicht ausgeschlossen wird. Die Verfahren sollen in erster Linie befrieden. Mit einer objektiven Sachverhaltsklärung sollen die Parteien in die Lage versetzt werden, beurteilen zu können, ob ein haftungsbegründendes und entschädigungspflichtiges ärztliches Fehlverhalten vorliegt. Mithilfe dieser Verfahren werden somit häufig unnötige und langwierige gerichtliche Auseinandersetzungen vermieden.
MedLetter: Wie funktioniert das System? Nach welchem Prozedere läuft ein Verfahren ab?
Ulsperger: Die Schlichtungs-/Gutachterverfahren werden ganz überwiegend auf Antrag der Patienten durchgeführt. Sie sind allerdings für alle Beteiligten freiwillig und bedürfen deshalb auch der Zustimmung der betroffenen Ärzte.
Die meisten landesrechtlichen Satzungen sehen darüber hinaus auch die Beteiligung der Berufshaftpflichtversicherer vor. Diese Gutachter-/Schlichtungsstellen erkennen die den Berufshaftpflichtversicherern per Gesetz zugewiesene Schadenregulierungs- und Prozessführungsbefugnis an und gehen zu Recht davon aus, dass eine Befriedung der Parteien nur erreicht werden kann, wenn auch die schadenregulierende Institution einbezogen wird und das Verfahren damit die erforderliche breite Akzeptanz erfährt.
Die Verfahren sind im Übrigen nicht rechtsbindend. Das heißt, die Beteiligten können auf der Grundlage der dort erfolgten Sachverhaltsklärung entscheiden, ob Sie der Beurteilung des Gutachters bzw. der Gutachter-/Schlichtungsstelle folgen wollen. Die breite Akzeptanz aller in den Schadenprozess eingebundenen Parteien und Institutionen bildet damit die Grundlage für eine Befriedung und damit für eine erfolgreiche Vermeidung unnötiger Prozesse.
Auch nachdem die Verfahren vor den Gutachterkommissionen/ Schlichtungsstellen abgeschlossen sind, bleibt häufig längere Zeit unklar, ob Ansprüche von Patienten weiterverfolgt werden, wenn im Ergebnis kein Behandlungsfehler festgestellt wurde. Deshalb sind im Zweifel diese Schadenakten auch mit der erforderlichen Reserve bis zum Ablauf der Verjährungsfrist offenzuhalten.
MedLetter: Zieht ein solches Verfahren eine mögliche Entschädigung des Patienten nicht extrem in die Länge und auf welche Bearbeitungszeiten müssen sich die beteiligten Parteien einstellen?
Ulsperger: Die Verfahrensdauer vor den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen ist unterschiedlich, in der Regel ist mit einer durchschnittlichen Bearbeitungsdauer von etwa 10 bis 12 Monaten zu rechnen. Bei einfachen Sachverhalten kann ein Votum auch nach 6 bis 8 Monaten vorliegen.
Die Dauer ergibt sich zum Teil aus den aufwendigen Recherchen zur Ermittlung des zu beurteilenden Sachverhalts, aber auch aufgrund der notwendigen Einholung aller erforderlichen ärztlichen Stellungnahmen, Berichte oder Sachverständigengutachten. Im Verhältnis zu einer Klage vor Gericht ist der zeitliche Rahmen jedoch überschaubar und akzeptabel.
MedLetter: Gibt es auch Fälle, bei denen die Einholung eines solchen Gutachtens nicht sinnvoll ist? In welchen Fällen widersprechen wir der Teilnahme an einem Verfahren?
Ulsperger: Über die Gutachter-/Schlichtungsverfahren ist nur dann eine Befriedung zu erreichen, wenn das in Rede stehende Behandlungsgeschehen umfassend aufgeklärt und beurteilt wird. Waren in die Behandlung mehrere Behandler involviert, die entweder vom Patienten nicht in die Verfahren einbezogen wurden oder aber einzelne Behandler haben dem Verfahren nicht zugestimmt, wird eine sachgerechte Klärung nicht ermöglicht. Hier macht es keinen Sinn, den Fokus auf nur Teilbereiche möglicher Verursachungsbeiträge zu richten.
Auch in Fällen klarer Haftung oder Nichthaftung ist die Durchführung dieser Verfahren meist entbehrlich. In Fällen
klarer Haftung suchen wir regelmäßig den Kontakt zur Patientenseite, um eine gemeinsame einvernehmliche Lösung zu finden. In Fällen klarer Nichthaftung begründen und erklären wir unsere Haftungsablehnung, damit der Patient – meist vertreten durch einen Rechtanwalt – ohne Zeitverzug entscheiden kann, ob er unsere Ablehnung akzeptiert oder seine Ansprüche gerichtlich weiterverfolgen möchte. In der letztgenannten Fallalternative wäre eine Befriedung äußerst unwahrscheinlich und würde lediglich zu einem unnötigen Zeitverzug führen.
MedLetter: Muss der Arzt einen Antrag auf ein Verfahren seinem Versicherer melden?
Ulsperger: Ja, und zwar in seinem eigenen Interesse. Ungeachtet der Tatsache, dass der Arzt/die Ärztin aufgrund der versicherungsvertraglichen Bedingungen verpflichtet ist, jeden potenziellen Schadenfall unverzüglich seinem/ihrem Berufshaftpflichtversicherer zu melden, sollte die Beurteilung eines Behandlungsfehlervorwurfs niemals ohne die erforderliche juristische Expertise erfolgen. Auch wenn der gewünschte Behandlungserfolg ausbleibt, deutet diese Tatsache noch lange nicht auf ein haftungsbegründendes Behandlungsgeschehen hin. Aus diesem Grunde sollte der Arzt/die Ärztin immer auf die Erfahrung unserer auf die Arzthaftung spezialisierten Schadenjuristen zurück greifen. Zu guter Letzt ist die Vertretung im Schadenfall über die Berufshaftpflicht versichert.
MedLetter: Was ist der Unterschied zu den MDK-Gutachtern der Krankenkassen?
Ulsperger: Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) ist eine Gemeinschaftseinrichtung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen und in jedem Bundesland als eigenständige Arbeitsgemeinschaft organisiert. Ausnahmen: In Nordrhein-Westfalen gibt es zwei medizinische Dienste: den MDK Nordrhein und den MDK Westfalen-Lippe; Berlin und Brandenburg haben einen landesübergreifenden MDK mit Sitz in Potsdam. Die medizinischen Dienste in Hamburg und Schleswig-Holstein haben sich zum MDK Nord zusammengeschlossen. Träger des Medizinischen Dienstes ist die gesetzliche Krankenversicherung.
Nach § 66 SGB V sollen die Krankenkassen die Patienten bei der Durchsetzung etwaiger Ansprüche unterstützen. Dies geschieht regelmäßig über die Erstellung von MDK-Gutachten.
Der MDK steht damit im Lager der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen sowie der dort versicherten Patienten. Demgegenüber sind die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen aus Sicht aller Beteiligten neutrale und weisungsunabhängige Institutionen.
MedLetter: Gibt es Statistiken zur Arbeit der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen?
Ulsperger: Die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bewerten ca. ein Viertel aller vermuteten Arzthaftpflichtfälle. Es gibt eine jährliche Veröffentlichung, die nicht nur die Zahlen, sondern auch die Verteilung auf die Fachgebiete und Diagnosen bzw. Therapiemaßnahmen darstellt. Ziel ist dabei, Fehlermuster und ‑häufigkeiten zu erkennen und dies durch Risikomanagement und Fortbildungen zu reduzieren.
Die Statistik ist transparent, wird jährlich erstellt und ist für alle Beteiligten – Patienten wie Ärzte – einsehbar.
Auf der Internetseite der Bundesärztekammer ist zudem eine Broschüre „Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen bei den Ärztekammern – Ein Wegweiser“ für alle Interessierten abrufbar.
MedLetter: Vielen Dank Frau Ulsperger für das Interview.
Quelle: Dipl.-Betriebswirtin (BA) Annette Dörr, HDI Vertriebs AG, Saarbrücken; Rechtsanwältin Ute Ulsperger, HDI Versicherung AG, Köln