Simon Eggert, Leiter des Bereichs Analyse bei der Stiftung ZQP über pflegende Angehörige
Simon Eggert, Leiter des Bereichs Analyse bei der Stiftung ZQP über pflegende Angehö­rige Bild: Laurence Chape­ron

Rechts­de­pe­sche: Herr Eggert, Ihre Studie, über die die Rechts­de­pe­sche letzte Woche bereits berich­tet hat, zeich­net ein sich verschlech­tern­des Bild der häusli­chen Pflege in Deutsch­land durch die COVID-19-Situa­tion. Werden die von Ihnen gemes­se­nen Überfor­de­rungs­ge­fühle nach der Pande­mie wieder komplett zurück­ge­hen?>

Eggert: Unsere Gemein­schafts­stu­die von ZQP und Charité zeigt, dass viele pflegende Angehö­rige in der Tat zusätz­li­che Belas­tun­gen und teilweise eine Verschlech­te­rung der Pflege­si­tua­tion im Zusam­men­hang mit der Corona-Pande­mie erleben bzw. erlebt haben. Bei uns in der Stiftung sind auch sehr emotio­nale Anrufe und E‑Mails einge­gan­gen, in denen Pflegende umfas­send geschil­dert haben, wie schwie­rig ihre Lebens­si­tua­tion in Corona-Zeiten gewor­den war. Wann ein Status quo ante wieder erreicht wird, ist heute nicht seriös zu beant­wor­ten. Aber starke psychi­sche Belas­tun­gen können gerade schon vorbe­las­tete Perso­nen beein­träch­ti­gen und eventu­ell Langzeit­fol­gen haben.

Rechts­de­pe­sche: Gibt es Ergeb­nisse, die Sie (persön­lich) überrascht haben?

Eggert: Also ehrlich gesagt, Prozent­an­ga­ben habe ich vorher nicht geraten. Aber wir hatten natür­lich erwar­tet, dass in vielen Berei­chen Probleme sicht­bar würden. Das ist so einge­tre­ten. Ich denke, beson­ders deutlich macht die Studie unter anderem, wie relevant die COVID-19-bezoge­nen Heraus­for­de­run­gen für Angehö­rige sind, die sich um einen Menschen mit Demenz kümmern. Das ist schon eindrück­lich – heißt aber selbst­ver­ständ­lich nicht, dass nur solche Konstel­la­tio­nen heraus­for­dernd wären.

Rechts­de­pe­sche: Ein Drittel der Befrag­ten spricht von einer sich durch Corona verschlech­tern­den Pflege­si­tua­tion. Gleich­zei­tig geben über drei Viertel an, ihre Lage sei insge­samt eher gut oder sehr gut. Ist das ein Effekt von sozial erwünsch­tem Antwort­ver­hal­ten oder wie erklä­ren Sie sich diesen schein­ba­ren Wider­spruch?

Eggert: Ich stimme Ihnen zu: Es ist kein Wider­spruch. Eine Lage kann sich verschlech­tern, aber trotz­dem noch „eher gut“ sein. Aber es ist wichtig zu betonen, dass jede Unter­su­chungs­me­tho­dik Grenzen hat. Wir haben entspre­chend auch die Limita­tio­nen unseres Studi­en­de­signs darge­stellt. Tatsäch­lich kann unter anderem sozial erwünsch­tes Antwort­ver­hal­ten bei dieser Art Studien eine Rolle spielen. Wir messen hier insge­samt – im übertra­ge­nen Sinne – nicht auf den Milli­me­ter genau. Und es gilt jetzt in der ja noch bestehen­den Pande­mie-Situa­tion erst Recht, dass ein wissen­schaft­li­ches Bild meist genauer wird, wenn mehrere gute Studien vorlie­gen. Wir betrach­ten unsere Studie als einen ersten, aber soliden Einblick in das, was zum Befra­gungs­zeit­punkt war.

Rechts­de­pe­sche: Ärger, Hilflo­sig­keit, Wut und Verzweif­lung nehmen bei den pflegen­den Angehö­ri­gen stark zu. Kann und wird das auch in zuneh­men­der häusli­cher Gewalt münden?

Eggert: Die Frage ist sehr berech­tigt. Die Antwort muss diffe­ren­ziert ausfal­len. Die genann­ten Gefühle können – je nach indivi­du­el­ler Konstel­la­tion – zu einer Eskala­tion einer Pflege­si­tua­tion beitra­gen. Es handelt sich aber keines­falls um einen Gewalt­au­to­ma­tis­mus. Wer sich hilflos fühlt oder wütend ist, wendet deswe­gen noch lange keine Gewalt an. Insofern werden vielleicht zukünf­tige Studien dieses schwer zu unter­su­chende Feld etwas weiter ausleuch­ten. Aus meiner Sicht müssen wir in der aktuel­len Pande­mie­si­tua­tion wegen einer parti­el­len Verstär­kung von Risiko­fak­to­ren insge­samt leider mit einer Zunahme von Gewalt­tä­tig­keit in der Pflege rechnen.

Rechts­de­pe­sche: Was kann und sollte man denn konkret tun, um diese emotio­nale Talfahrt mit Eskala­ti­ons­po­ten­zial für pflegende Angehö­rige zu stoppen?

Eggert: Es gibt einige Ratschläge, die man versu­chen kann umzuset­zen. Wir haben entspre­chende Tipps auf unserem ZQP-Portal www.pflege-praevention.de kosten­los aufbe­rei­tet. Überge­ord­net würde ich sagen: Es ist wichtig, sich mit anderen Menschen über Belas­tun­gen und Sorgen auszu­tau­schen, mitein­an­der in regem Kontakt zu sein. Ob nun über das Telefon, das Inter­net oder per Brief. Man kann auch Hilfs­an­ge­bote nutzen, bei denen man seine Sorgen und Probleme teilen kann. Zum Beispiel die Telefon­seel­sorge, das Angebot „Silber­netz“ oder auch die psycho­lo­gi­sche Online-Beratung „pflegen und leben“.

Rechts­de­pe­sche:Beson­ders schwie­rig ist die Situa­tion bei der Pflege von Demenz­pa­ti­en­ten. Sind die typischen Physi­cal Distancing Maßnah­men da überhaupt realis­tisch umsetz­bar?

Eggert: Keine Pauscha­li­sie­rung stimmt vollstän­dig. Aber klar ist, gerade bei demen­zi­el­len Erkran­kun­gen stellt das Gebot des Abstand­hal­tens pflegende Angehö­rige und die Menschen mit Demenz selbst vor ungemeine Heraus­for­de­run­gen. Das zeigen auch die Ergeb­nisse der Studie. Schließ­lich ist Kommu­ni­ka­tion über Körper­kon­takt bei der Pflege eines Menschen mit Demenz oft sehr wichtig – wie auch generell die Anfor­de­rung, gewohnte Alltags­rou­ti­nen aufrecht zu erhal­ten. Das ist in der Pande­mie vielfach nicht umsetz­bar oder umsetz­bar gewesen.

Rechts­de­pe­sche: Sie haben auch genauer unter­sucht, inwie­fern in Corona­zei­ten Beruf und Pflege verein­bar sind. Wie bewer­ten Sie die dazu ermit­tel­ten Ergeb­nisse?

Eggert: Generell ist die Verein­bar­keit von Beruf und Pflege für erwerbs­tä­tige pflegende Angehö­rige in Deutsch­land teilweise nicht einfach. Das war schon vor der COVID-19-Pande­mie so. Nun haben sich zusätz­li­che Heraus­for­de­run­gen ergeben. Was mache ich zum Beispiel, wenn ich weiter in den Betrieb muss, aber die Tages­pfle­ge­ein­rich­tung geschlos­sen ist? Bringe ich vielleicht das Virus vom Arbeits­platz zur pflege­be­dürf­ti­gen Person – die ja zur Risiko­gruppe gehört – nach Hause? Und: Wie soll ich Home-Office, Homeschoo­ling für die Kinder und die Betreu­ung der demen­zi­ell erkrank­ten Mutter paral­lel schaf­fen? Solche Fragen stellen sich.

Rechts­de­pe­sche: Wie erklä­ren Sie sich, dass der Rechts­an­spruch auf eine zehntä­gige beruf­li­che Auszeit zur Pflege­or­ga­ni­sa­tion laut Ihrer Studie in der Krise aktuell offen­bar kaum wahrge­nom­men wird?

Eggert: Da werden verschie­dene Fakto­ren eine Rolle spielen. Insge­samt ist bekannt – unabhän­gig vom Pande­mie-Kontext in dem ja diese Frage in der Studie stand –, dass viele verfüg­bare Leistun­gen, die in der familiä­ren Pflege helfen sollen, wie Pflege­schu­lun­gen, ‑beratung oder auch die verschie­de­nen Verein­bar­keits­re­ge­lun­gen leider nur bedingt genutzt werden. Für einige gilt das mehr als für andere, manche Angebote sind wohl kaum bekannt oder werden nicht als wirklich attrak­tiv wahrge­nom­men. Es fehlt meines Wissens nach aller­dings auch an umfas­sen­den Erkennt­nis­sen hierzu, um zu einer detail­lier­ten Beurtei­lung zu kommen.

Rechts­de­pe­sche:Welche Empfeh­lun­gen leiten Sie aus den Studi­en­ergeb­nis­sen ab?

Eggert: Im Detail sprengt das hier den Rahmen. Aber mit der erheb­li­chen Dimen­sion von poten­zi­el­ler psycho­so­zia­ler Belas­tung plus der teilweise gar nicht mehr oder sehr schwer nutzbar gewor­de­nen Hilfe­st­ruk­tur im Lebens­um­feld darf man die Leute nicht alleine lassen. Aus unserer Sicht sollte gerade auch in Vorbe­rei­tung auf das, was zukünf­tig noch kommen könnte – ob durch das SARS-CoV‑2 oder einen anderen Erreger – beson­ders darauf geach­tet werden, dass es einen Plan gibt, wie die system­re­le­vante Verant­wor­tungs­über­nahme von pflegen­den Angehö­ri­gen wirksam gestützt wird. Denn wie würde die Lage in den Pflege­haus­hal­ten ausse­hen, wenn wir von dem Virus noch deutlich einschnei­den­der betrof­fen worden wären als dies bisher der Fall ist? Man darf nicht verges­sen: Über die Hälfte aller pflege­be­dürf­ti­gen Menschen in Deutsch­land werden maßgeb­lich von Naheste­hen­den versorgt.

Rechts­de­pe­sche: Immer­hin 12 Prozent sagen in Ihrer Unter­su­chung, sie würden jetzt mehr schöne Momente mit ihren Angehö­ri­gen erleben. Gibt es noch andere Licht­bli­cke im vorlie­gen­den Zahlen­ma­te­rial?

Eggert: Viele Befragte bewer­ten in der Studie die aktuelle Pflege­si­tua­tion selbst unter diesen erschwer­ten Bedin­gun­gen als stabil oder sogar positiv. Pflege­si­tua­tio­nen dürfen also nicht pauschal als proble­ma­tisch stigma­ti­siert werden. Wir wissen auch aus der Forschung, dass pflegende Angehö­rige sehr positive Dinge im Zusam­men­hang mit der Pflege­auf­gabe erleben können. Nur, wie Pflege erlebt wird, hängt stark vom indivi­du­el­len Fall, von der Art und Inten­si­tät der Pflege­si­tua­tion sowie von den eigenen Ressour­cen ab. Viele pflegende Angehö­rige in Deutsch­land sind am Rande des Leist­ba­ren – oder schon darüber hinaus.

Die komplet­ten Studi­en­ergeb­nisse sind hier nachzu­le­sen.