Gesundheits-Apps, von denen bereits eine Vielzahl zur Marktreife gelangt sind, sollen künftig von den Krankenkassen bezahlt werden.
Gesund­heits-Apps, von denen bereits eine Vielzahl zur Markt­reife gelangt sind, sollen künftig von den Kranken­kas­sen bezahlt werden. Bild: © Tyler Olson | Dreamstime.com

Die Digita­li­sie­rung ist eines der Handlungs­fel­der, mit denen sich in der Pflege inner­halb kurzer Zeit vieles zum Besse­ren wenden lassen könnte. So überrascht es nicht, dass auch Minis­ter Spahn sich dem Thema widmet. Nun macht unser Gesund­heits­mi­nis­ter zwar nicht alles richtig, aber er macht immer­hin sehr viel, und langwei­lig wird es nie mit ihm. Eine seiner Ideen: Gesund­heits-Apps, von denen bereits eine Vielzahl zur Markt­reife gelangt sind, sollen künftig von den Kranken­kas­sen bezahlt werden. An den Kosten schei­tert nämlich bisher häufig die Markt­durch­drin­gung, also die Verbrei­tung. Dem Minis­ter ist zu wünschen, dass er damit weiter kommt als mit dem berühmt-berüch­tig­ten § 105 Absatz 2 SGB XI. Dieser bestimmt eigent­lich, dass „bis zum 1.1.2018 die Einzel­hei­ten für eine elektro­ni­sche Daten­über­tra­gung“ der Abrech­nung pflege­ri­scher Leistun­gen vorlie­gen sollten. Wer heute diese Einzel­hei­ten sucht, muss beim Blick auf den Kalen­der aller­dings zu der Einsicht kommen, dass der Gesetz­ge­ber manch­mal besser auf Frist­set­zun­gen verzich­tet, als sich mit ihnen vor den Augen der inter­es­sier­ten Öffent­lich­keit zu blamie­ren.

E‑Rezept und E‑Verordnung sollen kommen

Tatsäch­lich jedoch geizt auch die gerade veröf­fent­lichte Dokumen­ta­tion zu den Ergeb­nis­sen der von den Bundes­mi­nis­te­rien für Gesund­heit, Arbeit und Familie angescho­be­nen Konzer­tier­ten Aktion Pflege wieder nicht mit Termi­nen. So soll die elektro­ni­sche Pflege­ab­rech­nung nun „bis zum 30. Septem­ber 2019“ umgesetzt sein, ab dann also eine elektro­ni­sche Abrech­nung von Pflege­sach­leis­tun­gen nach dem SGB XI ohne Papier­be­lege möglich werden. Erst ab dem II. Quartal 2020 soll auch die papier­lose Abrech­nung für Leistun­gen der Häusli­chen Kranken­pflege nach dem SGB V erfol­gen.

Bis 30. Juni 2020 sollen die gesetz­li­chen Voraus­set­zun­gen geschaf­fen werden, um elektro­ni­sche Verord­nun­gen für Arznei­mit­tel nutzen zu können. Falls es tatsäch­lich bei diesem Termin bleibt, wird das E‑Rezept und die E‑Verordnung in abseh­ba­rer Zeit Wirklich­keit. Das wäre ein sehr großer Schritt nach vorn. Für Heilmit­tel, Hilfs­mit­tel und vor allem die Häusli­che Kranken­pflege soll es dagegen vorerst bei Modell­pro­jek­ten bleiben. Hier muss dringend mehr Geschwin­dig­keit ins System.

Einiges von dem, was die KAP beschreibt, ist bereits auf den Weg gebracht. So soll mit dem Termin­ser­vice- und Versor­gungs­ge­setz (TSVG) bis spätes­tens 2021 endlich die ePA vorlie­gen, also die elektro­ni­sche Patien­ten­akte. Mit ihr sollen sowohl die Versi­cher­ten als auch die medizi­ni­schen Dienst­leis­ter rasch und sicher auf Behand­lungs­da­ten zugrei­fen können, um Trans­pa­renz herzu­stel­len und so die Behand­lungs­si­cher­heit zu erhöhen. Der Zugriff soll dabei mit allen Endge­rä­ten möglich sein, auch mit Smart­phone und Tablet. Ob die Kassen das tatsäch­lich schaf­fen, steht in den Sternen. Bis heute waren, wie bereits darge­stellt, die Kosten­trä­ger nicht einmal in der Lage, Angebote für die Digita­li­sie­rung der sehr viel einfa­che­ren Leistungs­ab­rech­nung aufzu­bauen. Um hier den seit Jahren frustrie­ren­den Entwick­lungs­stau aufzu­lö­sen, hat der Bund nun die Mehrheit an der Gematik übernom­men, jener Gesell­schaft, die in naher Zukunft die Telema­tik-Infra­struk­tur gewähr­leis­ten soll. Ordnungs­recht­lich ist das proble­ma­tisch, zumal der Staat bei Infra­struk­tur­pro­jek­ten nicht für innova­tive Lösun­gen bekannt ist. Pragma­tisch sinnvoll aber ist diese Lösung allemal – schlim­mer konnte es kaum noch kommen.

Keine andere Wahl: Ärzte müssen bei Digita­li­sie­rung mitma­chen

Neben der Idee, die Kranken­kas­sen für Gesund­heits-Apps zahlen zu lassen, gehört zu den neues­ten Geset­zes­vor­ha­ben weitaus mehr. Mit dem DVG, also dem Digitale-Versor­gung-Gesetz, will der Minis­ter die Ärzte zwingen, bei der Digita­li­sie­rung mitzu­ma­chen. Wer nicht will, dem droht ab 2020 eine Honorar­kür­zung um 2,5 %. Bisher gibt es nämlich Tausende Praxen, die sich dem aus unter­schied­lichs­ten Gründen verwei­gern. Wenn man der Kassen­ärzt­li­chen Bundes­ver­ei­ni­gung glauben will, ist alles ganz einfach (YouTube: Das Sichere Netz für Ärzte und Psycho­the­ra­peu­ten). Die Wirklich­keit ist aber deutlich komple­xer als das Erklär­vi­deo. Die von der KBV empfoh­le­nen Konnek­to­ren schaf­fen zwar Sicher­heit für das Telema­tik-Netz, machen jedoch gleich­zei­tig Software-Updates für die sonsti­gen notwen­di­gen IT-Programme oder selbst Online-Termin­ver­ein­ba­run­gen für Patien­ten unmög­lich. Auch dazu gibt es inzwi­schen von den betrof­fe­nen Ärzten Videos im Netz.

Man fragt sich natür­lich, wie das Gesund­heits­mi­nis­te­rium die Ärzte mit diesen Fragen allein lassen kann. Das ist, als ob das Verkehrs­mi­nis­te­rium Pendler zwingt, ausnahms­los vom Auto auf die Schiene umzustei­gen, und nur mit den Schul­tern zuckt, wenn der Zug ausfällt. Man fragt sich auch, warum dem Minis­ter Sanktio­nen für die Ärzte einfal­len, nicht aber für die Kassen. Diese Asymme­trie der Mittel trägt mit Sicher­heit nicht dazu bei, das Innova­ti­ons­tempo auf Seiten der Kosten­trä­ger zu erhöhen. Dabei sind es gerade in der Pflege die Kassen, an denen die Digita­li­sie­rung bisher schei­tert.

Wichtig und erfreu­lich ist, dass künftig auch die Pflege in die Telema­tik-Infra­struk­tur einge­bun­den sein soll. Hier wird darauf zu achten sein, dass das System unter hoher Last wirklich stabil funktio­niert. Zudem muss es zur Einbin­dung der Pflege tatsäch­lich kommen. Einiger­ma­ßen sicher ist gemäß dem Referen­ten­ent­wurf bisher nämlich nur ein Modell­pro­gramm zur Nutzung der Telema­tik-Infra­struk­tur in der Alten­pflege, das bis 2022 laufen soll, also noch nicht ein Regel­an­ge­bot in dauer­haf­ter Struk­tur. Wir brauchen aber neben den im DVG geplan­ten Doc-2-Doc-Konfe­ren­zen, also ärztli­chen Online-Konsi­len, solche digita­len Kommu­ni­ka­ti­ons­wege auch Doc-2-Nurse, also zwischen Arzt und Pflege­fach­kräf­ten, und Nurse-2-Nurse. Die Pflege­dienste und Pflege­heime müssen an dieses Netz angeschlos­sen werden. Sie sind längst fit für die Digita­li­sie­rung. Und fit sind übrigens auch die Patien­ten, selbst die Hochalt­ri­gen. Wer Muße hat, möge sich auf YouTube einmal ansehen, wie selbst­ver­ständ­lich Oma und Opa mit den neuen Medien umgehen und dabei riesi­gen Spaß haben.

„Pflege­kräfte sollen nicht nur mehr können, sondern auch mehr dürfen“

Es gibt aber einen ernste­ren Grund, warum es mit der Digita­li­sie­rung der Pflege dringend voran­ge­hen muss. Der Pflege­be­auf­tragte der Bundes­re­gie­rung hatte im Juni 2018, also vor ziemlich genau einem Jahr, erheb­li­ches Aufse­hen erregt mit einigen unortho­do­xen, aber von der Sachkennt­nis des Prakti­kers zeugen­den Vorschlä­gen für eine rasche und spürbare Steige­rung der Attrak­ti­vi­tät des Pflege­be­rufs. Unter den „Fünf Vorschlä­gen für eine gute und verläss­li­che Pflege“ von Andreas Wester­fell­haus fanden sich sowohl mit Blick auf den Pflege­not­stand angemes­sen großzü­gige Rückkehr­prä­mien für Pflege­kräfte als auch Maßnah­men für mehr „Freude am Beruf“. Allein dafür, an diese notwen­dige Freude gedacht zu haben, gebührt ihm Applaus. Zu ihr gehört zweifel­los eine deutli­che Auswei­tung des Kompe­tenz­spek­trums durch Übertra­gung heilbe­ruf­li­cher Tätig­kei­ten. Pflege­kräfte sollen nicht nur mehr können, sondern auch mehr dürfen. Die Einschrän­kung der pflege­ri­schen Kompe­ten­zen gegen­über jenen der Ärzte in Deutsch­land ist mit Blick auf den Rest der entwi­ckel­ten Welt völlig anachro­nis­tisch. Bei Diabe­ti­kern etwa sind die Pflege­kräfte durch ihre tägli­chen Einsätze viel näher an der Lebens­wirk­lich­keit der Patien­ten als Ärzte und könnten enorm zur Optimie­rung der Versor­gung beitra­gen.

Leider ist bisher keiner der fünf Vorschläge umgesetzt worden. Ob es nun daran liegt, dass der Pflege­be­auf­tragte keine Hausmacht hat im Gesund­heits­mi­nis­te­rium, oder daran, dass er einfach zu schnell und zu innova­tiv ist für die immer noch zwischen Bonn und Berlin geteilte Verwal­tung: Es muss etwas gesche­hen, und zwar mehr als bisher. Die paar Tausend Euro pro Pflege­dienst und Pflege­heim aus dem TSVG sind nicht der notwen­dige große Schritt nach vorn. Dieser gelingt nur, wenn in die Telema­tik-Infra­struk­tur wirklich alle Player vom Versi­cher­ten bis zu Kassen, Pflege­dienst­leis­tern, Ärzten, Klini­ken, Reha-Einrich­tun­gen, Apothe­ken, Thera­peu­ten und Sanitäts­häu­sern einge­bun­den werden.

Die Pflege­fach­kräfte werden nicht vom Himmel fallen

Statt konkre­ter Umset­zung gibt es zu diesen Themen aus der KAP überwie­gend unver­bind­li­che Ankün­di­gungs­rhe­to­rik. Waren schon die 13.000 neuen Stellen reiner Populis­mus, werden jetzt 10% mehr Ausbil­dungs­plätze angekün­digt. Die neuen Pflege­fach­kräfte sind bis heute nicht in den Heimen und Klini­ken angekom­men und werden auch künftig nicht vom Himmel fallen, weil es sie nicht gibt. Der Arbeits­markt ist leer. Wer heute nicht in der Pflege arbei­tet, will nicht arbei­ten. Und ob tatsäch­lich ein Kranken­haus den Mut hat, Statio­nen vorüber­ge­hend zu schlie­ßen, weil der Perso­nal­schlüs­sel nicht erfüllt werden kann, darf bezwei­felt werden. Vielmehr wird es erst recht die Flucht ins Leasing geben, obwohl es gerade angesagt ist, Leasing in der Pflege verbie­ten zu wollen. Genauso lassen sich auch 10% mehr Auszu­bil­dende nicht politisch festle­gen. Die Ausbil­dung schei­tert bisher ja nicht etwa daran, dass es zu wenige inter­es­sierte Pflege­ein­rich­tun­gen oder zu wenige freie Plätze an den Schulen gibt. Vielmehr stehen sowohl bei den Trägern der prakti­schen Ausbil­dung als auch in den Schulen die Türen für Inter­es­sierte weit offen. Es inter­es­sie­ren sich aber unver­än­dert zu wenige für eine Ausbil­dung in der Pflege.

Warum? Die von den Kranken­kas­sen gezahl­ten Vergü­tun­gen für die Leistun­gen der Häusli­chen Kranken­pflege sind weiter­hin zu niedrig, um daraus attrak­tive Gehäl­ter zu finan­zie­ren. Und das Kompe­tenz­pro­fil der Pflege­fach­kräfte stagniert seit Jahren. Auch zu dessen Weiter­ent­wick­lung trägt die KAP leider kaum Verbind­li­ches bei. Die einzige konkrete Maßnahme ist die Verein­ba­rung aus der Arbeits­gruppe 3, dass immer­hin bereits ab Ende 2019 „in einem ersten Schritt die Verord­nung von Pflege­hilfs­mit­teln durch Pflege­fach­per­so­nen“ auf Grund­lage des § 63 Absatz 3b SGB V erprobt werden soll. Aller­dings geht es auch da wieder nur um Modell­vor­ha­ben. Warum Modell­vor­ha­ben und keine Regel­ver­sor­gung? Warum nur Hilfs­mit­tel und keine Heilmit­tel? Traut man den Pflege­fach­kräf­ten wirklich nicht mehr zu, als über Rolla­to­ren zu entschei­den?

Ende 2020 soll der GKV-Spitzen­ver­band dem Gesund­heits­mi­nis­te­rium einen ersten Bericht zu den Modell­pro­jek­ten vorle­gen. Bis dahin ist wieder eine gefühlt unend­lich lange Zeit vergan­gen. Bei der Masse der Pflege­fach­kräfte wird also weiter­hin nichts ankom­men von einer Erwei­te­rung ihres Kompe­tenz­spek­trums. Beim § 63 Absatz 3c SGB V wurde sogar nur eine Regelung zur „Nutzung von Vordru­cken“ verein­bart. Das reicht nicht. Das ist noch nicht die erfor­der­li­che Daten­au­to­bahn für die Pflege. Es ist allen Betei­lig­ten zu wünschen, dass die politisch Verant­wort­li­chen auf ihrem langen Marsch bis zu einer echten Digita­li­sie­rung nicht der Mut verlässt. Die Pflege hat es verdient.

Dr. Jan Basche ist Pflege­ex­perte und Geschäfts­füh­rer mehre­rer ambulan­ter Pflege­dienste.