Nachhaltigkeit
Arztpra­xen können viel für die Umwelt tun – auch bei der Medika­tion. Bild: © Emily­pro­fa­mily | Dreamstime.com

Umfang­rei­cher Krite­ri­en­ka­ta­log

Das Inter­esse für das Thema Nachhal­tig­keit im Praxis­all­tag wächst: Knapp andert­halb Jahre nach dem Start des Zerti­fi­zie­rungs-Programms „Nachhal­tige Praxis – Klima, Umwelt, Mensch“ haben bereits 50 Arztpra­xen den Auditie­rungs-Prozess durch­lau­fen, die vorletzte Stufe vor dem letzt­end­li­chen Erhalt des Siegels.

Wie das „Deutsche Ärzte­blatt“ meldet, hätten sich seit Projekt­be­ginn mehr als 170 Praxen für das Programm einge­schrie­ben. Angesichts der laut Statis­tik des Kassen­ärzt­li­chen Bundes­ver­bands (KBV) fast 100.000 regis­trier­ten Arztpra­xen in Deutsch­land eine immer noch überschau­bare Gruppe – aber eben eine mit stark steigen­der Tendenz.

Anbie­ter des Siegels ist das 1995 gegrün­dete aQua-Insti­tut aus dem nieder­säch­si­schen Göttin­gen, in Zusam­men­ar­beit mit der „Stiftung Praxis­sie­gel“ aus Berlin. In vier Katego­rien wird überprüft, wie gut Arztpra­xen das Thema Nachhal­tig­keit in ihren Alltag integriert haben:

  • Indivi­du­elle Resili­enz – die mentale und seeli­sche Stärkung der Beschäf­tig­ten
  • Krisen­prä­ven­tion – die Handlungs­fä­hig­keit der Praxis im Krisen­fall durch eine umfang­rei­che Vorbe­rei­tung
  • Praxis­or­ga­ni­sa­tion – die Vernet­zung mit anderen Ärzten und weite­ren Akteu­ren des Gesund­heits­we­sens
  • Klima­re­si­li­enz – das schonende, ressour­cen­spa­rende Wirtschaf­ten, wozu auch der möglichst sparsame Einsatz von Medika­men­ten, aber auch etwa die Sensi­bi­li­sie­rung für klima­be­dingte Erkran­kun­gen gehört.

Insge­samt 32 Krite­rien, zuzüg­lich Unter­kri­te­rien, werden im Laufe des Zerti­fi­zie­rungs-Prozes­ses in den vier Themen­fel­dern überprüft.

Konkrete Vorga­ben

Auf die Praxen wartet, wie in der Check­liste ersicht­lich wird, ein buntes Kalei­do­skop an Heraus­for­de­run­gen: Im Handlungs­feld „Indivi­du­elle Resili­enz“ wird etwa erfragt, ob es Angebote zur Selbst­stär­kung für Mitar­bei­tende gibt, wie Achtsamkeits‑, Entspan­nungs­trai­nings oder Bildungs­ur­laube, ob es regel­mä­ßige struk­tu­rierte Teamsit­zun­gen und im Bedarfs­fall spontane Teambe­spre­chun­gen gibt, sowie Schutz­maß­nah­men gegen Patien­ten­ge­walt.

Bei „Krisen­prä­ven­tion“ geht es um Maßnah­men wie Notfall­trai­nings für Beschäf­tigte, das Vorhan­den­sein von Krisen­plä­nen oder eine Einschät­zung von aktuel­len Risiken.

In „Praxis­or­ga­ni­sa­tion“ sind regio­nale Netzwerke mit anderen Praxen und Apothe­ken, die Teilnahme oder Ausrich­tung von Quali­täts­zir­keln, ein siche­rer Umgang mit Daten für den Fall eines EDV-Ausfalls oder ein ausrei­chen­des Vorhan­den­sein von Medizin­pro­duk­ten und Hilfs­mit­teln Thema.

Bei „Klima­re­si­li­enz“ geht es etwa um Klima-Infor­ma­tio­nen für Patien­ten, das Bewusst­sein für klima­tisch (mit)bedingte Erkran­kun­gen, Hitze­schutz­pläne oder den Einsatz für umwelt­scho­nende Mobili­tät, sowohl für das Praxis­team als auch gegen­über Patien­ten.

Auch die Vorbeu­gung von Überme­di­ka­tion ist ein Ansatz­punkt: Hierbei geht es um einen ratio­na­len, zielge­rich­te­ten und hinter­frag­ten Einsatz von Medika­men­ten. Das Thema ist von großer Bedeu­tung: Laut einer Erhebung der Bundes­ver­ei­ni­gung Deutscher Apothe­ker­ver­bände (ABDA) aus dem Jahr 2019 nahmen rund 23 Prozent der Bevöl­ke­rung mindes­tens drei Medika­mente paral­lel zuein­an­der ein, neun Prozent der Menschen in Deutsch­land sogar fünf oder mehr.

Nicht immer sind die einge­nom­me­nen Medika­mente aufein­an­der abgestimmt; insbe­son­dere, wenn mehrere Ärzte betei­ligt sind und die Kommu­ni­ka­tion unter ihnen unzurei­chend ist.

In vier Schrit­ten zum Erfolg

Vier Schritte führen zum Siegel: Zunächst lernen die teilneh­men­den Ärztin­nen und Ärzte mit Hilfe von E‑Lear­ning-Modulen die Prinzi­pien der Nachhal­tig­keit im Praxis­all­tag kennen; anschlie­ßend führen sie eine Bestands­auf­nahme ihres eigenen Betriebs durch. In der zweiten Stufe geht es an die Umset­zung: Gemein­sam mit dem Praxis­team werden die Verbes­se­rungs­maß­nah­men geplant und umgesetzt; die Ergeb­nisse werden in einem Portal, dem Praxis­da­sh­board, festge­hal­ten.

Die dritte Schritt ist das bereits angespro­chene Audit: Projekt­be­treute des aQua-Insti­tuts überprü­fen das Erreichte. Im letzten Schritt überprüft die Stiftung Praxis­sie­gel, ob die Ergeb­nisse den Quali­täts­an­for­de­run­gen für das Quali­täts­sie­gel Nachhal­tige Praxis entspre­chen.

Bei Bestehen wird das Siegel zugesandt, das es in zwei Stufen gibt: „Standard“ und Exzel­lent – salopp gesagt, eine Sieger- bezie­hungs­weise Ehren­ur­kunde. Für die Verlei­hung des Exzel­lenz-Prädi­kats für nachhal­tige Praxen müssen mehr Krite­rien erfüllt sein als für die Standard-Auszeich­nung. Die Teilnahme am Zerti­fi­zie­rungs­pro­zess kostet 949 Euro brutto; der Prozess dauert insge­samt von zwei bis zu sechs Monaten. Nach der Verlei­hung ist das Siegel drei Jahre gültig.

„Manche der Praxen sind überrascht, was alles in die Nachhal­tig­keit hinein­spielt“, so Chris­tina Degener, die das Siegel beim aQua-Insti­tut betreut, im Gespräch mit dem Ärzte­blatt. Beispiels­weise, dass das Abset­zen einer nicht notwen­di­gen Medika­tion nicht nur Neben- und Wechsel­wir­kun­gen vermeide, sondern auch Treib­haus­gase einspare, die bei Herstel­lung und Trans­port der Medika­mente entstün­den.