Ich glaube, dieser Mensch im Mittelpunkt ist in den letzten Jahren verlorengegangen.
Seit 50 Jahren in der Pflege
Ich bin seit 50 Jahren in der Pflegeentwicklung unterwegs, habe 1995 den ersten Studiengang an einer Universität mitgegründet (Witten/Herdecke). Damals schien alles möglich, es gab viele Ideen: Patientenedukation, Primärpflege, Familienorientierung usw.
Mein Hauptthema war und ist „die sprechende Pflege“. Vor drei Monaten war ich selbst Patientin, Sturz, neues Hüftgelenk, zwei Wochen Regelleistung, niemand kannte mich. Medizinisch ist alles gut gelaufen, ich kann mich nun wieder einigermassen bewegen. Aber ich habe den Eindruck, dass die Pflege „auf den Hund gekommen ist“ – ich war in den letzten 10 Jahren dreimal in verschiedenen Krankenhäusern, es ist alles viel schlimmer geworden.
Kein Personal, Aushilfen, niemand stellt sich vor, keinerlei Gespräche, keine Pflegeanamnese. Auf Schellen wartet man lange Zeit bis jemand kommt, eine Nacht habe ich in Not (Fuss abgeklemmt) die 112 angerufen – das kommt wohl öfter vor. Die Heparinspritzen und Verbandwechsel bei mir hat eine Realschulpraktikantin gemacht.
Wichtige Rolle der Angehörigen
Mahlzeiten wurden durch Catering organisiert, die Essensanamnese dauerte 10 Minuten. Körperpflege gab es garnicht, es wurden Feuchttücher verteilt. Wahrscheinlich haben wir in früheren Jahrzehnten auch Unsinn gemacht mit Waschprüfungen und Bettenmachenzeremonien. Mir ist jetzt nochmal die wichtige Rolle der Angehörigen (wenn welche da sind) deutlich geworden, sie haben viele kleine Dienstleistungen täglich übernommen, Haare waschen, Rücken einreiben, Wäschewechsel usw.. Ein wichtiger Schritt wäre für mich heutzutage, die Angehörigen freundlich um Hilfe zu bitten (auch schriftlich), sie sollten oft kommen. In vielen Ländern der Welt kümmert sich die Familie um das Wohlergehen – auch wir sind an dieser Notwendigkeit angekommen.
Ich weiss, dass Kliniken dies meiden – wenn jemand von Ihnen sich da auf den Weg machen will, ich helfe gerne.
Später habe ich gesehen, dass umfängliche EDV-Kataloge das Geschehen bestimmen – EPAC, LEP in der Klinik – wird alles automatisch ausgefüllt, trotzdem wird dafür viel Zeit von den wenigen Pflegefachpersonen verbraucht. Dringend nötig sind EDV-Assistenten für die Pflege. Nötig sind strengere fachliche Abgrenzungen, leider wird heute jeder Einfaltspinsel genommen.
Problem ist, dass sich nirgendwo das tatsächliche Geschehen abbildet – wir brauchen Forschung zum Thema „wo geht die Zeit hin“.
Der Mensch in der Langzeitpflege
In der Altenpflege wird alles von SIS bestimmt, die Biografiearbeit ist entsorgt, DAN-Dokumentation ist prioritär. Letzte Woche habe ich einen grossen Altenheimkonzern zur Biografiearbeit (Mensch im Mittelpunkt) beraten – geht alles nicht, weil das Dokusystem andere Fragen stellt, ausserdem machen die Hilfs-und Betreuungskräfte die Personenorientierung. Damit wird unser Tafelsilber „verscherbelt“, gerade in der Langzeitpflege geht es ja um die unterschiedlichsten Menschen mit ihren Lebenserfahrungen. In den letzten drei Monaten habe ich viele Menschen zu ihren Eindrücken befragt, ich bin gut vernetzt – alle meine Erfahrungen wurden bestätigt.
Tja, all dies was ich 50 Jahre in der Pflege gelehrt und auf den Weg gebracht habe, findet nicht mehr statt.
Auch unsere kleine Pflegewissenschaft hat nichts geändert, es geht um Pöstchen und Projekte, die Entfernung von der Praxis wird immer grösser. Ausbildungen und Studiengänge werden kaum nachgefragt, es fehlen ANP-Programme und Stellen in der Praxis – allein für eine Klinik kann ich mir 30 ANP-Spezialisierungen vorstellen.
„Gute Pflege “ ist nicht definiert
Ein Problem ist, dass „Gute Pflege“ nicht definiert und untersucht ist, ich bin davon überzeugt, dass eine professionelle Begleitung in Akutphasen sich auszahlt . Beforscht ist lediglich „Missing Care“, also die Einbussen durch mangelnde Qualifikation und Zahl der Pflegenden. Ich bin viel unterwegs mit Thema „Berufsstolz in der Pflege“, ein Buchbestseller, zusammen mit German Quernheim. Seltsam, die Sache interessiert – aber in der Praxis ist niemand mehr stolz, alle wollen reduzieren, aussteigen. Klagen über mangelnde Information und Wertschätzung „von oben“.
Pflegeplanung findet nicht mehr statt, Pflegetheorien – hat es wohl nie gegeben. Speziell Deutschland scheint mir das Schlusslicht der beruflichen Pflege zu sein. Ehrlich gesagt, ich kann diese ganzen wohlmeinenden Ideen zur Patientenorientierung nicht mehr hören – es ist ein riesiger GAP zur Realität.
Letzte Woche war Beiratssitzung vom Hogrefeverlag, wir haben diskutiert, dass wir Werke brauchen zum „Aufstehen“ oder: „Ich mache das nicht mehr“. Ich denke, dass Zweidrittel der notwendigen Pflegearbeit nicht mehr stattfinden und der Nachwuchs dies nicht mehr kennenlernt. Leitungen und Praxisanleitungen haben hier grosse Verantwortung.
Viele gute Seiten im Pflegeberuf
In meinen Vorträgen rede ich über die vielen guten Seiten, mir fallen über 30 Argumente für den Pflegeberuf ein. Gerade junge Leute heute suchen „Sinn“.
Wir brauchen Kontakte in Schulen, Praktika usw., kurzum ein neues und gutes Image. Stattdessen wird unser Beruf als „Jammertal“ wahrgenommen, als einfachste Tätigkeit. Seit drei Jahren bin ich mit der Idee eines Kinderbuches zum Pflegeberuf unterwegs, die Cheflektorinnen der Kinderbuchverlage sagten am Telefon zu mir: „Was wollen sie denn übers Hinternabputzen schreiben?“ Oder: „Das ist doch gar kein richtiger Beruf…“
Tja, das ist die gesellschaftliche Meinung.
Politisierung ist nötig
Die Berufspflegenden sind kaum organisiert, deswegen sitzen sie auch nicht in Entscheidungsgremien. Sie kennen noch nicht einmal die Gremien, die politischen Player, dies wird kaum gelehrt.
Wir sollten uns ein Vorbild nehmen an Lokführern, Ärzten, Bauern usw. auch international sind die Pflegeberufe besser organisiert. Ich arbeite daran, eine Handreichung zur Politisierung vorzubereiten.
Die Professionalisierung in der Pflege zeigt sich durch die Orientierung an der Person und ihrem Alltag.
Liebe KollegInnen, bitte helfen Sie mit, eine Wende einzuleiten – auch in ihrem kleinen Wirkungskreis. Gerne unterstütze ich Sie. Der Pflegeberuf steht am Abgrund.
Von Prof. Dr. Angelika Zegelin
9 Kommentare
Vielen Dank für Ihre umfassende Einschätzung.
Ich habe in den letzten Jahren ähnliche Erfahrungen in Kliniken gemacht.
Durch meine medizinischen Kenntnisse konnte ich Gottseidank in den Therapieprozess eingreifen.
Ich bin sehr stolz auf meinen Beruf und mein Wirken als Praxisanleiter in der stationären Langzeitpflege.
Gerne würde ich Sie und Ihr Team bei zukünftigen Projekten unterstützen.
Diana Nickl
Sehr geehrte Frau Professor Zegelin, Ihre persönlichen Erlebnisse aus dem Krankenhaus kennen wir sicher alle und diese sind wirklich erschüttern! Das ist das Produkt politischer Entscheidungen aus den vergangenen Jahrzehnten – wirklich traurig! Jedoch würde mich gern interessieren, in welchen „Konzernen“ Sie beratend tätig sind? Das dürften dann, aus meiner Sicht, die schwarzen Schafe der Branchen sein! Alles Negative, was Sie über die Langzeitpflege berichten, kann ich nicht bestätigen und möchte das auch klar widersprechen! Die operative Praxis sieht ganz anders aus! Sie hat sich sehr positiv gewandelt – wir gewinnen heute viel mehr junge Menschen für eine Ausbildung als noch vor 10 Jahren! In unseren Einrichtungen der AWO steht der Bewohner eindeutig im Mittelpunkt – das können Sie glauben und wir tun sehr viel dafür, den älteren hilfsbedürftigen Menschen einen schönen Lebensabend geprägt von Wertschätzung und Lebensfreude zu schenken! Mit Ihrer Darstellung diskreditieren Sie alle hart arbeitenden Menschen in der Pflege, die jeden Tag den uns anvertrauten Menschen ein Lächeln, eine hochqualitative Pflege und Betreuung schenken! Das schmerzt zu lesen und beeinflusst Branchenfremde sehr negativ innerhalb ihrer Meinungsbildung über die Pflege in Deutschland allgemein! Kommen Sie einmal zu uns und wir überzeugen Sie vom Gegenteil! Es gibt sie, die Guten – und diese sind sicher in der Mehrzahl! Herzliche Grüße aus Bernburg! Marco Kählke / Einrichtungsleiter
Liebe Frau Prof. Dr. Zegelin, Ihre Einschätzung bewegt mich sehr. Nicht weil ich um die Situation nicht weiß, sondern weil Sie und Ihre Arbeit für mich ein Beweis dafür sind, dass sich (auch im deutschsprachigen Raum) wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis implementieren lassen.
Ihre Veröffentlichungen haben mir Mut gemacht, dass ich mein Bachelorstudium (Pflege) nicht schon im ersten Semester an den Nagel gehängt habe. (Es werden dort einige „tote Pferde geritten“)
Ich verwende regelmäßig in meinen Seminaren, Empfehlungen von Ihnen, z. B. die Drei-Schritt-Methode und verweise auf Ihre Arbeiten.
Herzliche Grüße und alles Gute für Sie
Ina Tristl
Die Beschreibung von Frau Dr. ZEGELIN trifft voll zu. Die Pflegekräfte können dies nur mit den Bürger zusammen ändern. Breite Aufklärung tut Not.
Langsam reicht es aber, wie will man jahrelang eine Pflege glorifizieren, wenn man nur in der Pflegelehre tätig war und sehr vieles nur durch hören sagen und theoretisch kennt. Und jetzt plötzlich kommt die Realität und man das am eigenen Körper wahrnimmt nur weil man jetzt selber zum Patienten geworden ist? Aber jammern heißt immer noch, die arme Pflege. Die Qualität in der Pflege ist schon seit Jahren schlecht und die wird von Menschen gemacht, die in ihrer Ausbildung mal angetreten waren, den Ihnen anvertrauten Menschen zu helfen und beizustehen und es besser zu machen. Aber das will ja keiner wahr haben. Wacht doch mal auf……Warum wohl hat die Pflegekammer NRW sich zur Aufgabe gemacht, ein Whistleblower System zu implementieren? Weil alles so toll in der Pflege ist?…….
Sehr geehrte Frau Professor Zegelin,
als ich heute Morgen Ihren Kommentar gelesen habe, hatte ich Tränen in den Augen. Zumeinen, weil – bitte nicht persönlich nehmen- endlich jemand aus der Pflegewissenschaft und ‑forschung (aus der Bildungstheorie sozusagen) gemerkt hat oder merken musste, was wirklich passiert in „der Praxis, im wirklichen Pflegeleben“ und außerhalb der Theorien. Und zum zweiten, weil ich in meiner inzw. 20jähriger Lehrtätigkeit schon so oft verzweifelt und entmutigt Kolleginnen und Kollegen gefragt habe: WAS tue ich hier eigentlich? Was unterrichte ich? Und was passiert „da draußen“ eigentlich? Was passiert mit der Praxis? Ich war schon sehr oft und sehr nah an dem Punkt, diesen Beruf zu verlassen. Es ist mehr als erschreckend, was aus der Pflege geworden ist!! In meinen Augen ist das einem großen Teil dem politischen Willen und politischen Entscheidungen geschuldet. Aber eben nicht nur, sondern geht auch zu Lasten fehlender Motivation und einem anderem Berufsverständnis. Heutzutage ist der Patient (ich spreche hier immer vom Krankenhaus) lästig, früher gehörte ihm unser Hauptaugenmerk. Ich bin mir inzwischen nicht mehr sicher, dass diese Entwicklung, dieser Zustand zu stoppen ist. Ich weiß nur, dass ich mich weder in der akuten noch der Langzeitpflege als Patientin/Bewohnerin in Deutschland wiederfinden möchte.
Sehr geehrte Frau Prof. Zegelin,
Sie haben sich viele Jahre profund und engagiert wissenschaftlich mit unserem Pflegesystem befasst. Wir sind uns 2009 in München im Rahmen Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit begegnet. Ich war beeindruckt von Ihrer empathischen Herangehensweise an das damalige Studienthema.
In der Zwischenzeit habe ich mich auf Grund der Erfahrungen einer 20 jährige ambulanten und stationären Begleitung meiner demenzkranken Mutter intensiv mit der Situation „der Pflege“ und explizit der informellen Pflege befasst.
Mein Fazit:
Bei Einführung der Pflegeversicherung wurden die Rahmenbedingungen für die Pflege von Menschen mit Pflegebedarf jeden Alters und der sie professionell und informell pflegenden und versorgenden Menschen den Kriterien der freien Marktwirtschaft folgend organisiert und finanziert: Angebot und Nachfrage sollen die Qualität regeln. Dieser Plan hat nicht funktioniert.
Im Vordergrund stehen mittlerweile wirtschaftliche Interessen der Pflege- und Gesundheitswirtschaft. Sie ist zur relevantesten Wirtschaftssäule der deutschen Wirtschaft geworden und bestimmt die Richtung in den maßgeblichen Entscheidungsgremien.
Die Interessen der AuftraggeberInnen und Finanziers, der BürgerInnen, werden mangels gesetzlicher Grundlage und fehlender Lobbybildung nur indirekt wahrgenommen.
Eine grundlegende Reform unseres Gesundheits- und Pflegesystems ist längst überfällig.
Nur wenn wir selbst eine Lobby für unsere Interessen bilden, wenn wir unsere Interessen und Bedarfe konstruktiv selbst einbringen in allen Ebenen der Politik, können wir meiner Überzeugung nach etwas verändern.
Diese Aufgabe übernimmt systemisch bedingt niemand sonst für uns.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich auf Grund der „normativen Kraft des Faktischen“ ein Reform-Weg finden lassen wird.
Danke
Ich kann Ihnen nur zustimmen! Anfang Dezember war ich auf einer Kardiologie , ich hatte noch ziemlich viel Glück, da man mich aus Platzmangel, auf der Entbindungsstation untergebracht hat. Nötige Messungen des Herz- Kreislauf Systems automatisiert, Grät dran, Zeitabstände eingestellt. Egal ob die Messung alle 4 Stunden oder jede Stunde nötig ist man hängt an den Geräten, dabei wird sogar der Toilettengang zur Tortur, kleiner Spaziergang über den Flur nicht möglich, aber sehr nötig. Die Essesasssitentin legte nach ihrem Gutdünken fest was man zu Essen bekam. Ich bekam nie Sauce oder Butter, nichts was das Essen etwas schmackhafter machte. Ich hatte normale Vollkost, keine Diät, ich hatte in sehr kurzer Zeit 25kg aufgrund meiner Krankheit verloren. Hätte Aufbaukost gebraucht. Das Bett wurde nicht 1x gemacht, das Zimmer wurde morgens um 5h geputzt. Normale Serviceleistungen wurde von Personal erbracht das kein Deutsch sprach. Den Arzt habe ich in einer Woche 1x gesehen bei einer Blutabnahme. Ja man kann im Krankenhaus an Einsamkeit und Nichtbeachtung sterben.