Mensch
Angelika Zegelin (71) Bild: privat

Ich glaube, dieser Mensch im Mittel­punkt ist in den letzten Jahren verlo­ren­ge­gan­gen.

Seit 50 Jahren in der Pflege

Ich bin seit 50 Jahren in der Pflege­ent­wick­lung unter­wegs, habe 1995 den ersten Studi­en­gang an einer Univer­si­tät mitge­grün­det (Witten/Herdecke). Damals schien alles möglich, es gab viele Ideen: Patien­ten­e­du­ka­tion, Primär­pflege, Famili­en­ori­en­tie­rung usw.

Mein Haupt­thema war und ist „die sprechende Pflege“. Vor drei Monaten war ich selbst Patien­tin, Sturz, neues Hüftge­lenk, zwei Wochen Regel­leis­tung, niemand kannte mich. Medizi­nisch ist alles gut gelau­fen, ich kann mich nun wieder einiger­mas­sen bewegen. Aber ich habe den Eindruck, dass die Pflege „auf den Hund gekom­men ist“ – ich war in den letzten 10 Jahren dreimal in verschie­de­nen Kranken­häu­sern, es ist alles viel schlim­mer gewor­den.

Kein Perso­nal, Aushil­fen, niemand stellt sich vor, keiner­lei Gesprä­che, keine Pflege­ana­mnese. Auf Schel­len wartet man lange Zeit bis jemand kommt, eine Nacht habe ich in Not (Fuss abgeklemmt) die 112 angeru­fen – das kommt wohl öfter vor. Die Hepar­in­sprit­zen und Verband­wech­sel bei mir hat eine Realschul­prak­ti­kan­tin gemacht.

Wichtige Rolle der Angehö­ri­gen

Mahlzei­ten wurden durch Catering organi­siert, die Essen­sana­mnese dauerte 10 Minuten. Körper­pflege gab es garnicht, es wurden Feucht­tü­cher verteilt. Wahrschein­lich haben wir in frühe­ren Jahrzehn­ten auch Unsinn gemacht mit Wasch­prü­fun­gen und Betten­ma­chen­ze­re­mo­nien. Mir ist jetzt nochmal die wichtige Rolle der Angehö­ri­gen (wenn welche da sind) deutlich gewor­den, sie haben viele kleine Dienst­leis­tun­gen täglich übernom­men, Haare waschen, Rücken einrei­ben, Wäsche­wech­sel usw.. Ein wichti­ger Schritt wäre für mich heutzu­tage, die Angehö­ri­gen freund­lich um Hilfe zu bitten (auch schrift­lich), sie sollten oft kommen. In vielen Ländern der Welt kümmert sich die Familie um das Wohlerge­hen – auch wir sind an dieser Notwen­dig­keit angekom­men.

Ich weiss, dass Klini­ken dies meiden – wenn jemand von Ihnen sich da auf den Weg machen will, ich helfe gerne.

Später habe ich gesehen, dass umfäng­li­che EDV-Kataloge das Gesche­hen bestim­men – EPAC, LEP in der Klinik – wird alles automa­tisch ausge­füllt, trotz­dem wird dafür viel Zeit von den wenigen Pflege­fach­per­so­nen verbraucht. Dringend nötig sind EDV-Assis­ten­ten für die Pflege. Nötig sind stren­gere fachli­che Abgren­zun­gen, leider wird heute jeder Einfalts­pin­sel genom­men.

Problem ist, dass sich nirgendwo das tatsäch­li­che Gesche­hen abbil­det – wir brauchen Forschung zum Thema „wo geht die Zeit hin“.

Der Mensch in der Langzeit­pflege

In der Alten­pflege wird alles von SIS bestimmt, die Biogra­fie­ar­beit ist entsorgt, DAN-Dokumen­ta­tion ist priori­tär. Letzte Woche habe ich einen grossen Alten­heim­kon­zern zur Biogra­fie­ar­beit (Mensch im Mittel­punkt) beraten – geht alles nicht, weil das Dokusys­tem andere Fragen stellt, ausser­dem machen die Hilfs-und Betreu­ungs­kräfte die Perso­nen­ori­en­tie­rung. Damit wird unser Tafel­sil­ber „verscher­belt“, gerade in der Langzeit­pflege geht es ja um die unter­schied­lichs­ten Menschen mit ihren Lebens­er­fah­run­gen. In den letzten drei Monaten habe ich viele Menschen zu ihren Eindrü­cken befragt, ich bin gut vernetzt – alle meine Erfah­run­gen wurden bestä­tigt.

Tja, all dies was ich 50 Jahre in der Pflege gelehrt und auf den Weg gebracht habe, findet nicht mehr statt.

Auch unsere kleine Pflege­wis­sen­schaft hat nichts geändert, es geht um Pöstchen und Projekte, die Entfer­nung von der Praxis wird immer grösser. Ausbil­dun­gen und Studi­en­gänge werden kaum nachge­fragt, es fehlen ANP-Programme und Stellen in der Praxis – allein für eine Klinik kann ich mir 30 ANP-Spezia­li­sie­run­gen vorstel­len.

„Gute Pflege “ ist nicht definiert

Ein Problem ist, dass „Gute Pflege“ nicht definiert und unter­sucht ist, ich bin davon überzeugt, dass eine profes­sio­nelle Beglei­tung in Akutpha­sen sich auszahlt . Beforscht ist ledig­lich „Missing Care“, also die Einbus­sen durch mangelnde Quali­fi­ka­tion und Zahl der Pflegen­den. Ich bin viel unter­wegs mit Thema „Berufs­stolz in der Pflege“, ein Buchbest­sel­ler, zusam­men mit German Quern­heim. Seltsam, die Sache inter­es­siert – aber in der Praxis ist niemand mehr stolz, alle wollen reduzie­ren, ausstei­gen. Klagen über mangelnde Infor­ma­tion und Wertschät­zung „von oben“.

Pflege­pla­nung findet nicht mehr statt, Pflege­theo­rien – hat es wohl nie gegeben. Spezi­ell Deutsch­land scheint mir das Schluss­licht der beruf­li­chen Pflege zu sein. Ehrlich gesagt, ich kann diese ganzen wohlmei­nen­den Ideen zur Patien­ten­ori­en­tie­rung nicht mehr hören – es ist ein riesi­ger GAP zur Reali­tät.

Letzte Woche war Beirats­sit­zung vom Hogre­fe­ver­lag, wir haben disku­tiert, dass wir Werke brauchen zum „Aufste­hen“ oder: „Ich mache das nicht mehr“. Ich denke, dass Zweidrit­tel der notwen­di­gen Pflege­ar­beit nicht mehr statt­fin­den und der Nachwuchs dies nicht mehr kennen­lernt. Leitun­gen und Praxis­an­lei­tun­gen haben hier grosse Verant­wor­tung.

Viele gute Seiten im Pflege­be­ruf

In meinen Vorträ­gen rede ich über die vielen guten Seiten, mir fallen über 30 Argumente für den Pflege­be­ruf ein. Gerade junge Leute heute suchen „Sinn“.

Wir brauchen Kontakte in Schulen, Praktika usw., kurzum ein neues und gutes Image. Statt­des­sen wird unser Beruf als „Jammer­tal“ wahrge­nom­men, als einfachste Tätig­keit. Seit drei Jahren bin ich mit der Idee eines Kinder­bu­ches zum Pflege­be­ruf unter­wegs, die Cheflek­to­rin­nen der Kinder­buch­ver­lage sagten am Telefon zu mir: „Was wollen sie denn übers Hintern­ab­put­zen schrei­ben?“ Oder: „Das ist doch gar kein richti­ger Beruf…“

Tja, das ist die gesell­schaft­li­che Meinung.

Politi­sie­rung ist nötig

Die Berufs­pfle­gen­den sind kaum organi­siert, deswe­gen sitzen sie auch nicht in Entschei­dungs­gre­mien. Sie kennen noch nicht einmal die Gremien, die politi­schen Player, dies wird kaum gelehrt.

Wir sollten uns ein Vorbild nehmen an Lokfüh­rern, Ärzten, Bauern usw. auch inter­na­tio­nal sind die Pflege­be­rufe besser organi­siert. Ich arbeite daran, eine Handrei­chung zur Politi­sie­rung vorzu­be­rei­ten.

Die Profes­sio­na­li­sie­rung in der Pflege zeigt sich durch die Orien­tie­rung an der Person und ihrem Alltag.

Liebe Kolle­gIn­nen, bitte helfen Sie mit, eine Wende einzu­lei­ten – auch in ihrem kleinen Wirkungs­kreis. Gerne unter­stütze ich Sie. Der Pflege­be­ruf steht am Abgrund.

Von Prof. Dr. Angelika Zegelin

www.angelika-zegelin.de