„Wir haben nicht die Absicht, Menschenleben zu gefährden, sondern möglichst vielen Menschen eine Teilhabe an Medizinversorgung in Krisenzeiten zu ermöglichen“, stellte Prof. Dr. med. Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), in der virtuellen Presserunde (2. bis 4.12.2020) des jährlichen Kongresses zum Thema Triage klar. Aber „wenn die Ressourcen nicht ausreichen, weder im Haus noch regional, muss entschieden werden, wer behandelt wird und wer nicht.“
Er erinnerte an die Bilder vom Frühjahr aus der schwer von der Coronapandemie betroffenen norditalienischen Stadt Bergamo. „4.305 Infektionen gab es allein dort in der Stadt. Ältere Patienten wurden alleine gelassen und starben in der Notaufnahme, weil die Kapazitäten nicht mehr reichten.“ Ähnliche Bilder einer kollabierenden Notfallversorgung habe es kurz darauf aus New York gegeben. Angesichts der Eindrücke hätten sich Mitarbeiter im Gesundheitswesen die Frage gestellt, wie im Falle einer explodierenden Patientenzahl vorgegangen werden müsse. Es habe sich herausgestellt, dass es keine verbindlichen Richtlinien hierzu gegeben habe.
Das Thema der Triage war daher einer der Schwerpunkte des DIVI-20-Kongresses, der aus Pandemiegründen diesmal komplett virtuell stattfand. Mit rund 4.200 Teilnehmern in 14 parallelen Sitzungssälen war es eine Veranstaltung der Superlative. Neben 173 wissenschaftlichen Sitzungen, gab es zahlreiche Themen- und Industriesymposien, Fortbildungssitzungen, interaktive Workshops und vieles mehr bei dem dreitägigen Kongressprogramm. „So ein großer Kongress, das ist eigentlich eine Maschinerie, wo Zahnräder ineinander greifen und man weiß, was man zu tun hat“, erläuterte Prof. Dr. med. Eckhard Rickels, der DIVI-Kongresspräsident 2020. Im Mai sei schweren Herzens die Entscheidung gefallen, auf „Nummer sicher“ zu gehen und den Kongress rein virtuell stattfinden zu lassen. Ein Entschluss mit vorausschauender Weisheit, wie sich nun angesichts der hohen Infektionszahlen herausstellte.
„Kein Patient mit Behandlungs-Garantie, aber auch niemand von vornherein ausgeschlossen“
Bei der Triage sei die medizinische Chance, die ein konkreter Patient habe, entscheidend für die Priorisierung der Therapieleistungen, so das Ergebnis des Kongresses. „Wir blicken nicht auf ein singuläres Organ, sondern auf das Gesamtbild, das ein Patient als Komorbidität mitbringt. Bei einem Patienten blicken wir auf viele Einzelfaktoren, die dann zusammengeführt werden“, so Janssens weiter. Dies sei das einzige geeignete objektive Kriterium. „Kein Patient hat eine Behandlungs-Garantie, aber auch niemand ist von vornherein ausgeschlossen. Jeder erhält Chance auf eine faire medizinische Behandlung.“
Es gelte daher, aus vielen Einzelfaktoren ein Gesamtbild herzustellen. Auch ein Patient mit einer schweren akuten Erkrankung sei dann nicht von vornherein chancenlos. Alternative Ansätze wie „First come, first serve“ oder gar ein Losverfahren schieden aus. Sie würden zu „massiven Problemen führen, auch psychischer Natur.“ Wenngleich es auch beim besten Verfahren unvermeidbar sei, dass es in einer Notfallsituation, vergleichbar wie in Bergamo oder New York, zu tragischen Entscheidungen komme. Ein zusätzliches Problem bei alledem sei die mangelhafte Rechtssicherheit der Mediziner. „Das Bundesverfassungsgericht lässt uns Ärzte, überspitzt gesagt, im berühmten Regen stehen.“
Die Triage spiele aber nicht nur im Notfall eine Rolle, sondern auch im relativen medizinischen „Tagesgeschäft“ der Notdienstpraxen, ergänzte Prof. Dr. med. André Gries vom Uniklinikum Leipzig. Immer mehr Notdienststandorte an Kliniken gingen dazu über, einen zentralen Anlaufpunkt für Behandlungen nachts oder am Wochenende zu schaffen – sowohl für den Rettungsdienst als auch für fußläufig eintreffende Patienten. „An diesem Tresen soll entschieden werden: die zeitliche Dringlichkeit, und welche Versorgungsebene – ambulant oder stationär – man wählt.“ Derweil bereiten sich die Mediziner bereits auf die Corona-Impfkampagne vor. „Es steht uns eine Mammutaufgabe bevor, die Impfzentren aufzubauen. Wir sind bereits auf Freiwilligensuche“, so Janssens. Der DIVI-21-Kongress im kommenden Jahr soll vom 1. bis 3. Dezember im Congress-Center Hamburg (CCH) stattfinden.