Karenztag
Eine altbe­kannte Debatte flammt wieder auf: Wie sinnvoll sind Karenz­tage? Bild: © Ralf Liebhold | Dreamstime.com

Worum geht es in der aktuel­len Diskus­sion?

Der Vorschlag von Oliver Bäte, Chef des Versi­che­rungs­kon­zerns Allianz, schlägt hohe Wellen. Angesichts des erhöh­ten Kranken­stan­des in Deutsch­land hatte er Anfang der Woche im Handels­blatt einen sogenann­ten Karenz­tag bei Krank­mel­dun­gen gefor­dert.

Der würde dafür sorgen, dass Arbeit­neh­mer, sollten sie sich krank­mel­den, keinen Lohn für den ersten Krank­heits­tag erhiel­ten und die Kosten selbst tragen müssten. Dass Arbeit­neh­mer bei einer Krank­mel­dung das volle Gehalt bekom­men, war in Deutsch­land nicht immer so. Bis 1970 gab es hierzu­lande Karenz­tage.

Es ist nicht das erste Mal, dass der aktuelle Kranken­stand in Deutsch­land zu Forde­run­gen nach einem kriti­sche­ren Umgang mit Krank­mel­dun­gen führt. Ex-Bundes­fi­nanz­mi­nis­ter Chris­tian Lindner (FDP) forderte beispiels­weise im Septem­ber 2024 die Abschaf­fung der telefo­ni­schen Krank­schrei­bung. Auch er berief sich auf neue Höchst­werte bei den Krank­mel­dun­gen. Sein Vorstoß ist damals nach hefti­ger Kritik geschei­tert.

Media­les Aufse­hen erreg­ten auch Fälle, in denen Unter­neh­men krank­ge­schrie­bene Mitar­bei­tende zu Hause überwa­chen ließen. So etwa der Elektro-Automo­bil­her­stel­ler Tesla, der Manager losschickte, um unange­kün­digte Hausbe­su­che bei den Mitar­bei­ten­den durch­zu­füh­ren.

Ein Einzel­fall ist das nicht. Wirtschafts­de­tek­tiv Marcus Lentz erfreut sich derweil über steigende Aufträge, die er aktuell zur Überwa­chung von krank­ge­mel­de­ten Mitar­bei­ten­den erhalte und macht damit sogar inter­na­tio­nal Schlag­zei­len als „sick leave detec­tive“.

Auf Arbeit­ge­ber­seite ist also ein deutlich gestie­ge­nes Misstrauen gegen­über den eigenen Mitar­bei­ten­den festzu­stel­len, was Krank­mel­dun­gen angeht. In diese Kerbe schlägt nun auch Allianz-Chef Bäte mit seinem Vorschlag. Inwie­fern ist der aber gerecht­fer­tigt?

Argumente für einen unbezahl­ten Karenz­tag

Bäte begrün­det seinen Vorschlag vor allem durch die steigen­den Kosten aufgrund des Kranken­stan­des in Deutsch­land. „Deutsch­land ist mittler­weile Weltmeis­ter bei den Krank­mel­dun­gen“, sagte er gegen­über dem Handels­blatt. Dadurch würden die Kosten im System steigen, mit denen man irgend­wie umgehen müsse.

Hohe Kosten für das Sozial­sys­tem

Laut Bäte seien die Arbeit­neh­mer in Deutsch­land im Schnitt 20 Tage pro Jahr krank, während der EU-Durch­schnitt bei acht Tagen liege. Die finan­zi­elle Belas­tung durch Krank­mel­dun­gen sei damit deutlich höher als im Rest der EU: Rund 77 Milli­ar­den Euro Gehäl­ter würden die Arbeit­ge­ber in Deutsch­land für kranke Mitar­bei­ter zahlen, hinzu­kä­men 19 Milli­ar­den Euro von den Kranken­kas­sen. Das entspre­che rund sechs Prozent der gesam­ten Sozial­aus­ga­ben, im EU-weiten Durch­schnitt betrage der Anteil etwa 3,5 Prozent.

Orien­tie­rung am EU-Durch­schnitt

Nur durch eine Leistungs­kür­zung könne das Sozial­sys­tem weiter funktio­nie­ren, behaup­tete Bäte. Man müsse sich fragen, „was wir uns in einer altern­den Gesell­schaft noch leisten können“. Deutsch­land müsse sich bei den Kosten am EU-Durch­schnitt orien­tie­ren. In Ländern wie Schwe­den, Spanien oder Griechen­land gelte die Karenz­tag­re­ge­lung noch.

Bäte ist aller­dings nicht der Erste, der sich für die Wieder­ein­füh­rung von Karenz­ta­gen ausspricht. Bereits im Dezem­ber 2024 hatte sich Wirtschafts­wei­sen-Chefin Monika Schnit­zer in der Rheini­schen Post zum Kranken­stand in Deutsch­land geäußert. Auch sie schlug mit Blick auf andere Länder die Wieder­ein­füh­rung eines Karenz­ta­ges vor.

Vorschläge für bis zu drei Karenz­tage

Unter­stüt­zung gibt es auch von Michael Thomas, Haupt­ge­schäfts­füh­rer des Unter­neh­mens­ver­bands Nord. Im Inter­view mit dem NDR forderte er: „Wenn wir im komplet­ten Jahr 2025 bei über 20 Fehlta­gen bleiben, dann werden wir die Diskus­sion um einen Karenz­tag – vielleicht sogar auch um bis zu drei Karenz­tage führen müssen“.

In Deutsch­land laufe aktuell einiges aus dem Ruder, so Thomas. Die Fehlzei­ten seien noch höher als während der Corona­pan­de­mie.

Argumente gegen eine neue Regelung

Die Diskus­sion um die Wieder­ein­füh­rung des Karenz­tags in Deutsch­land ist nicht neu. Sebas­tian Maiß, Fachan­walt für Arbeits­recht, fühlt sich bei der aktuel­len Debatte an das Jahr 1996 erinnert. Im Inter­view mit beck-online erklärte er, dass viele der aktuel­len Pro-Argumente schon von der Regie­rung unter Helmut Kohl (CDU) vorge­bracht wurden.

Auch sie sei auf die Idee gekom­men, dass die Entgelt­fort­zah­lungs­kos­ten zu hoch und ein Grund für die wirtschaft­li­che Schwä­che Deutsch­lands seien. Damals habe es zwar immer noch eine Entgelt­fort­zah­lung ab dem ersten Krank­heits­tag gegeben, jedoch nur zu 80 Prozent des Gehalts. Dagegen wehrten sich schließ­lich die Gewerk­schaf­ten – mit Erfolg.

Finan­zi­elle Belas­tung für Menschen, die tatsäch­lich krank sind

In der aktuel­len Debatte regt sich ebenfalls starker Wider­stand. Bundes­ar­beits­mi­nis­ter Huber­tus Heil (SPD) weist die Forde­run­gen von Allianz-Chef Bäte zurück. Gegen­über dem Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land sagte er: „Die Deutschen sind keine Drücke­ber­ger und Faulen­zer“.

Wer krank gemel­dete Beschäf­tigte unter General­ver­dacht des Blauma­chens stelle, habe ein verzerr­tes Bild von den arbei­ten­den Menschen in Deutsch­land, so Heil. Außer­dem würde die Wieder­ein­füh­rung des Karenz­ta­ges beson­ders Arbeit­neh­me­rin­nen und Arbeit­neh­mer mit niedri­gen Einkom­men belas­ten und dieje­ni­gen hart treffen, die tatsäch­lich krank sind.

Gesund­heit­li­che Risiken und höhere Ausfall­zah­len durch Karenz­tage

Ähnlich sieht das auch Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter und Partei­kol­lege Karl Lauter­bach (SPD). Dieje­ni­gen, die sich einen Lohnaus­fall nicht leisten könnten, würden sich trotz Krank­heit zur Arbeit schlep­pen, sagte Lauter­bach dem MDR. Dadurch sei auch die Gesund­heit anderer gefähr­det.

Vonsei­ten der Kassen­ärzt­li­chen Verei­ni­gung Nieder­sach­sen (KVN) gibt es ebenfalls Beden­ken. Detlef Haffke, Sprecher der Verei­ni­gung, sagte dem NDR, dass Beschäf­tigte mit einer Karenz­tag­re­ge­lung mögli­cher­weise krank zur Arbeit gehen und so Kolle­gin­nen und Kolle­gen anste­cken. So würden die Ausfall­zah­len noch weiter steigen.

Angriff auf soziale Errun­gen­schaf­ten

Gegen­wind kommt erwar­tungs­ge­mäß auch von den Gewerk­schaf­ten. Anja Piel, Vorstands­mit­glied des Deutschen Gewerk­schafts­bun­des (DGB), warnte vor einem zuneh­men­den Präsen­tis­mus. Wer krank zur Arbeit komme, erhöhe die Gefahr für Unfälle und Fehler, die zu Produk­ti­vi­täts­ver­lus­ten führen und dann erst recht Kosten für die Unter­neh­men verur­sa­chen würden.

Norbert Reuter, Leiter der Tarif­po­li­ti­schen Grund­satz­ab­tei­lung bei der Gewerk­schaft Ver.di, sagte dem Deutschen Ärzte­blatt, dass Bätes Forde­rung ein Angriff auf die sozia­len Errun­gen­schaf­ten der Gewerk­schaf­ten sei. In wirtschaft­li­chen Schwä­che­pha­sen seien die Forde­run­gen nach einer Abschaf­fung der Lohnfort­zah­lun­gen am ersten Krank­heits­tag „wie das Amen in der Kirche“.

Hoher Kranken­stand ist nicht auf Faulen­zen zurück­zu­füh­ren

Gegen die Argumen­ta­tion von Bäte sprechen zudem Zahlen der Organi­sa­tion für wirtschaft­li­che Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung (OECD). Diese legen nahe, dass der Kranken­stand in Deutsch­land nicht wirklich einen neuen Höchst­stand erreicht habe. Vielmehr seien die Werte ein rein statis­ti­scher Effekt, der durch eine gründ­li­chere Erfas­sung von Krank­heits­ta­gen entstehe. Ähnlich argumen­tierte Anfang Januar auch der Präsi­dent der Bundes­ärz­te­kam­mer, Klaus Reinhardt, mit Verweis auf die Komplet­ter­fas­sung der Fehltage durch die Einfüh­rung der eAU im Jahr 2021.

Die OECD wider­spricht damit Meldun­gen der Kranken­kas­sen; Die AOK beispiels­weise vermel­dete in ihrem Fehlzei­ten­re­port 2024 noch histo­ri­sche Höchst­stände bei den Krank­mel­dun­gen. Laut OECD liege Deutsch­land hier aller­dings nicht deutlich über dem EU-Durch­schnitt. In Frank­reich etwa seien die Zahlen höher, Belgien und Schwe­den lägen mit Deutsch­land gleich­auf.

Warum der Karenz­tag 1970 per Gesetz abgeschafft wurde

Die aktuel­len Diskus­sio­nen erinnern, wie von einigen Akteu­ren bereits angemerkt, stark an vergan­gene Ausein­an­der­set­zun­gen über Lohnfort­zah­lun­gen im Krank­heits­fall.

Schon im Jahr 1955 setzte sich der Deutsche Gewerk­schafts­bund (DGB) dafür ein, dass Arbei­tern – genauso wie Angestell­ten – eine Lohnfort­zah­lung im Krank­heits­fall zusteht. Ein entspre­chen­der Gesetz­ent­wurf der SPD schei­terte aller­dings, weil auch damals zu starke Belas­tun­gen für das Wirtschafts­sys­tem befürch­tet wurden.

Nach gewerk­schaft­li­chen Streiks in den Folge­jah­ren, rangen sich die Verant­wort­li­chen im Bundes­tag schließ­lich dazu durch, das Gesetz zur Verbes­se­rung der wirtschaft­li­chen Situa­tion der Arbeit im Krank­heits­falle zu verab­schie­den. Das sah aller­dings noch keine Lohnfort­zah­lung, sondern einen Zuschuss zum Kranken­geld vor, der ab dem dritten Krank­heits­tag bis zu sechs Wochen ausge­zahlt wurde.

Die Arbei­ter bekamen von da an 90 Prozent des Netto­ge­halts im Krank­heits­fall. Der Zuschuss wurde einige Jahre später auf die volle Höhe des Netto­ein­kom­mens erhöht und galt von da an schon ab dem zweiten Krank­heits­tag.

Die vollstän­dige Gleich­stel­lung von Arbei­tern und Angestell­ten erfolgte aller­dings erst 1970 durch das Gesetz über die Fortzah­lung des Arbeits­ent­gelts im Krank­heits­falle und über Änderun­gen des Rechts der gesetz­li­chen Kranken­ver­si­che­rung – auch Lohnfort­zah­lungs­ge­setz genannt. Erstmals hatten alle Arbeit­neh­mer in Deutsch­land im Krank­heits­fall einen Anspruch auf die Auszah­lung des vollen Gehalts ohne Karenz­tage.

Der Karenz­tag wurde 1970 also abgeschafft, um die Ungleich­be­hand­lung zwischen Angestell­ten und Arbei­tern bei der Lohnfort­zah­lung zu beenden und für mehr soziale Gerech­tig­keit zu sorgen. Die Regelung war schließ­lich Wegbe­rei­ter für das Entgelt­fort­zah­lungs­ge­setz wie es heute gilt.

Die Wieder­ein­füh­rung von unbezahl­ten Karenz­ta­gen wäre deshalb nur mit einer Änderung des aktuell gelten­den Entgelt­fort­zah­lungs­ge­set­zes möglich.

FAQ

Was ist ein unbezahl­ter Karenz­tag?

Ein unbezahl­ter Karenz­tag ist ein Tag, an dem Arbeit­neh­mer bei Krank­heit keinen Anspruch auf Lohnfort­zah­lung haben, sodass sie die finan­zi­el­len Kosten des ersten Krank­heits­ta­ges selbst tragen. Diese Regelung gab es in Deutsch­land bis 1970, wurde jedoch mit dem Lohnfort­zah­lungs­ge­setz abgeschafft, um soziale Gerech­tig­keit zu fördern.

Welche Pro- und Kontra-Argumente gibt es für einen unbezahl­ten Karenz­tag?

Befür­wor­ter argumen­tie­ren, dass ein Karenz­tag die Sozial­aus­ga­ben senken und Fehlzei­ten reduzie­ren könnte. Es würde die finan­zi­el­len Belas­tun­gen für Arbeit­ge­ber und das Gesund­heits­sys­tem mindern. Kriti­ker betonen die soziale Ungerech­tig­keit und Gesund­heits­ri­si­ken, da Arbeit­neh­mer trotz Krank­heit arbei­ten könnten, was Ausfälle und Infek­ti­ons­ri­si­ken erhöht. Gewerk­schaf­ten sehen darin einen Angriff auf soziale Errun­gen­schaf­ten.

Ist der unbezahlte Karenz­tag recht­lich möglich?

Die Wieder­ein­füh­rung eines unbezahl­ten Karenz­ta­ges wäre nur durch eine Änderung des Entgelt­fort­zah­lungs­ge­set­zes möglich. Dieses Gesetz garan­tiert aktuell die volle Lohnfort­zah­lung ab dem ersten Krank­heits­tag. Eine solche Änderung müsste gesell­schaft­lich und politisch breit abgestützt sein, was angesichts des Wider­stands von Gewerk­schaf­ten und Politik fraglich ist.