Nach der HHVG-Definition zeichnen sich Verbandmittel dadurch aus, dass ihre Hauptwirkung darin besteht, oberflächengeschädigte Körperteile zu bedecken, Körperflüssigkeiten von oberflächengeschädigten Körperteilen aufzusaugen oder beides zu erfüllen. Mit dem Blick auf die Produkte, die durch bestimmte Eigenschaften diese Hauptwirkungen ergänzen, heißt es in der Gesetzesbegründung: „Die Verbandmitteleigenschaft entfällt aber nicht, wenn der Gegenstand ergänzend weitere Wirkungen hat, die der Wundheilung dienen, beispielsweise indem er eine Wunde feucht hält, reinigt oder geruchsbindend beziehungsweise antimikrobiell wirkt“ (vgl. BT-Drucks. 18/10186, S. 26).
Im Gesetz ist ferner vorgesehen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA) die Einzelheiten zur Abgrenzung von Verbandmitteln zu sonstigen Produkten zur Wundbehandlung regelt. Die Umsetzung dieses Auftrages im Rahmen der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) wurde jedoch vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) beanstandet, da der G‑BA den Verbandmittelbegriff deutlich enger fasste als vom Gesetzgeber beabsichtigt. Das Inkrafttreten der Richtlinie hätte beispielsweise dazu geführt, dass auch Wundauflagen mit einer ergänzenden antimikrobiellen Eigenschaft – die in aller Regel auf eine pharmakologische Wirkweise zurückgeht – nicht mehr als Verbandmittel verordnungsfähig gewesen wären. Gegen die Beanstandung des BMG hat der G‑BA beim LSG Berlin-Brandenburg Klage eingereicht.
Neue Entwicklungen
Der Streit zwischen dem BMG und dem G‑BA belegt, dass eine gesetzliche Ergänzung sinnvoll ist, um den gesetzgeberischen Willen in der Praxis für alle Anwender und auch für zukünftige Auslegungsfragen klarzustellen. Der Bundesrat hat vor diesem Hintergrund bereits in seiner Stellungnahme vom 23. November 2018 zum Entwurf des Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) eine entsprechende Ergänzung des Gesetzestextes beantragt. Hierdurch soll gewährleistet werden, dass alle ergänzenden Eigenschaften, die der Wundheilung dienen, zum Beispiel indem sie eine Wunde feucht halten, reinigen oder dort geruchsbindend, antimikrobiell oder proteasenmodulierend wirken, nicht der Einordnung eines Gegenstands als Verbandmittel entgegenstehen, unabhängig davon, auf welche Weise diese Wirkungen erreicht werden (physikalisch, pharmakologisch etc.).
In ihrer Gegenäußerung hierzu vom 12. Dezember (BT-Drucks. 19/6436) hat die Bundesregierung mitgeteilt, dass sie das Anliegen des Bundesrates teile und dass im Referentenentwurf für ein „Gesetz für mehr Sicherheit in der Arzneimittelversorgung“ (GSAV) eine Änderung zur Verbandmitteldefinition vorgesehen sei, die diese Punkte auch berücksichtigt. In Abweichung zu diesem Referentenentwurf sieht allerdings der nun vorliegende Kabinettsentwurf zum GSAV eine Änderung des § 31 Absatz 1a Satz 2 SGB V vor, die zu größeren Rechtsunsicherheiten führen dürfte und dem ursprünglichen Gesetzeswillen zuwiderlaufen würde.
Würdigung und Kritik
Dadurch, dass Verbandmittel danach nur solche ergänzenden Eigenschaften haben dürfen, die nicht pharmakologisch, immunologisch oder metabolisch wirken, wird die bisherige gesetzliche Zielsetzung konterkariert.
Auf diese Weise wären beispielsweise Wundauflagen mit antimikrobiellen Eigenschaften nicht mehr als Verbandmittel verordnungsfähig. Denn antimikrobielle Substanzen, wie z.B. Silberionen, Chlorhexidin, Polyhexanid oder Jod, die eine bakteriostatische oder bakterizide Wirkung aufweisen, wirken in aller Regel pharmakologisch. Damit wären eine Vielzahl von antimikrobiellen Wundauflagen, nicht mehr Teil der Regelversorgung in Deutschland.
Auch andere ergänzende Eigenschaften, die in der modernen Wundversorgung eine große Rolle spielen, wären dann womöglich nicht mehr verordnungsfähig, zumal in vielen Fällen nicht abschließend wissenschaftlich geklärt ist, wie der häufig komplexe Wirkmechanismus im Detail aussieht, der die positive wundheilende Wirkung auslöst. Da auch die Rechtsprechung bei Abgrenzung der pharmakologischen Wirkung zu anderen Wirkungen nicht eindeutig ist, dürfte dies große Rechtsunsicherheiten bei allen Beteiligten verursachen.
Zudem bestehen erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der vom Kabinett vorgeschlagene Neufassung von § 31 Absatz 1a Satz 2 SGB V. Diese verfehlt ihren Zweck, da sie wohl nicht geeignet ist, die Klarstellung gegenüber der bisherigen Regelung zu erreichen. Überdies würde die vollständige Ausgrenzung von Verbandmitteln mit ergänzenden, nicht-physikalischen therapeutischen Wirkungen auf die Wundheilung bewirkt, was einen nicht hinnehmbaren unangemessenen Grundrechtseingriff darstellt. Schließlich mangelt es auch an einem sachlichen Grund, weshalb nicht auch proteasenmodulierende und andere vergleichbare ergänzende Wirkungen in die beispielhafte Aufzählung in § 31 Absatz 1a Satz 2 SGB V aufgenommen werden sollen. Dadurch wird der allgemeine Gleichheitssatz (Artikel 3 Absatz 1 GG) verletzt. Der Gesetzesentwurf lässt im Übrigen offen, ob über die vier exemplarisch aufgeführten weiteren Wirkungen („feucht hält, reinigt, geruchsbindend oder antimikrobiell“) hinaus noch Raum für die Ergänzung von weiteren Eigenschaften bleibt. Dadurch wird versäumt, dem G‑BA den erforderlichen steuernden und begrenzenden Handlungsmaßstab zu geben. Die Normadressaten können sich folglich nicht auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen. Schließlich wird auch eine wirksame Rechtskontrolle der AM-RL durch die Sozialgerichte gefährdet, weswegen die neue Verbandmitteldefinition auch gegen den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz verstößt.
Auswirkungen
Zusammengefasst würde das Inkrafttreten des GSAV-Entwurfs eine erhebliche Verschlechterung der Versorgungssituation von Wundpatienten bedeuten, deren Anzahl in Deutschland auf circa 2,7 Mio Menschen geschätzt wird. Eine Verbandmitteldefinition auf Basis des Kabinettentwurfs zum GSAV würde dazu führen, dass von den derzeit cica 8.000 erstattungsfähigen Verbandmitteln der modernen Wundversorgung ungefähr 3.000 aus der Erstattung fallen würden.
So hat sich nach zutreffender Ansicht des BVMed die bisherige Vielfalt der modernen Verbandmittel aber gerade auch aus Sicht der Anwender als zielführend und notwendig gezeigt, weil es viele unterschiedliche Wunden gibt und jeder Patient eine auf ihn und seine Bedürfnisse angepasste medizinisch notwendige Versorgung benötigt.
Auch die Initiative Chronische Wunden (ICW) beurteilt die Verbandmitteldefinition des GSAV kritisch: „Allerdings besteht die Sorge, dass langjährig bewährte Verbandmittel den Versicherten in kurzer Zeit nicht mehr zur Verfügung stehen und es zu Versorgungsengpässen kommt, sollte das Gesetz in der vorgeschlagenen Form wirksam werden. Insbesondere der Wegfall antimikrobiell wirksamer Verbandmittel birgt die Gefahr des Einsatzes von lokal angewandten Antibiotika, die in der Wundbehandlung sinnlos sind. Systemische Antibiotika würden vermehrt eingesetzt, was nicht nur medizinisch unsinnig ist, sondern auch den erklärten Zielen der Bundesregierung widerspräche.“
Zwar ist anzuführen, dass im Falle des erwähnten Wegfalls von derzeit noch erstattungsfähigen Produkten den Herstellern noch die Möglichkeit verbleibt, einen Antrag auf Aufnahme in die Verordnungsfähigkeit zu stellen. Hierfür ist ein Nutzennachweis vorzunehmen. Die dafür zu erbringenden Evidenzbeweise müssten aber auch angemessen sein. So sind Nachweise der höchst verfügbaren und nicht nur der höchsten Evidenzklasse zuzulassen – das heißt nicht nur vergleichende, kontrollierte klinische Studien (RCTs) oder Metaanalysen, sondern Nachweise aller Evidenzklassen müssen zur Bewertung herangezogen werden.
Und die Studien müssen entsprechend der Zweckbestimmung der sonstigen Produkte zur Wundbehandlung geeignete Endpunkte oder Surrogatparameter aufweisen können – der Endpunkt „Wundverschluss“ kann hier nicht der alleinige Maßstab sein: So müssen für antimikrobielle Wundauflagen auch die Keimreduktion und die Verkleinerung der Wundfläche berücksichtigt werden; an dieser Stelle macht der ausschließlicher Bezug auf den Endpunkt der kompletten Abheilung oder des Wundverschlusses keinen Sinn, da die dementsprechenden Produkte aufgrund der Indikation nur circa 3–6 Wochen zur Anwendung bestimmt sind.
Daher fordert der ICW in seiner Stellungnahme „transparente und erfüllbare Standards für geforderte Nachweise der Wirksamkeit.“ Auch fordert der ICW zwingend eine genügend lange Übergangszeit, in der die laufenden Therapien abgeschlossen bzw. umgestellt werden können. Damit wird sichergestellt, dass die Produkte auch entsprechend weiterhin (nach erfolgten Nutzennachweis) verordnungsfähig bleiben und ein – wenn auch nur vorübergehender Verordnungsauschluss – vermieden wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass zum Beispiel der geforderte Nutzennachweis für die NPWT-Therapie bereits seit 2004 bzw. 2009 angestoßen wurde und bislang noch kein abschließender Beschluss vorliegt. Im Falle der Umsetzung des Kabinettsentwurf wären für tausende Produkte der Nutzennachweis vorzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass dies trotz entsprechender Ressourcen und Kenntnisse der beteiligten Akteure (Hersteller und G‑BA) nicht innerhalb eines Jahres umzusetzen wäre.
Letztendlich würde auch der Ausschluss von entsprechenden Produkten sicherlich zu einem Anstieg der Gesamtkosten für die Versorgung von Wundpatienten führen. Neben einer Zunahme der Krankenhauskosten infolge der Notwendigkeit von Notfallbehandlungen wegen häufigeren Komplikationen steigen auch im niedergelassenen Bereich die Kosten, da sowohl die Abheilungsdauer, als auch Multimorbiditäten und auch die Folgekosten, zum Beispiel für häusliche Krankenpflege, weiter ansteigen werden.
Bundesratsbeschluss vom März 2019
Zwischenzeitlich hat am 15.3.2019 auch der Bundesrat im Rahmen seiner Stellungnahme zum Kabinettsentwurf zum GSAV (BR-Drucks. 53/19) die Streichung einer Neuregelung der bisherigen Definition zu den Verbandmitteln beschlossen, sodass Wundauflagen mit pharmakologischer, immunologischer oder metabolischer ergänzenden Eigenschaften weiterhin – zumindest bis zu einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung – verordnungsfähig wären.
Ausblick
Es ist zu hoffen, dass die vorgenannten rechtlichen Bedenken und die Interessen der zum Teil über Jahre hinweg an chronischen Wunden leidenden und oft multifaktoriell erkrankten Patienten einer hinreichenden Berücksichtigung zugeführt werden. Daher muss die im GSAV-Entwurf enthaltene Modifizierung zumindest auf den Stand des Referentenwurfs zurückgesetzt werden oder aber der Vorschlag des Bundesrates im Rahmen des TSVG berücksichtigt werden. Damit wird gleichzeitig auch eine Entscheidung des Kompetenzstreits zwischen BMG und G‑BA durch die Gerichte vermieden, Rechtsklarheit für die Zukunft hergestellt und auch der Zielsetzung des HHVG und weiterer nachfolgender Gesetze Rechnung getragen, langfristig die Versorgungsqualität zu verbessern.