
Wie schmal der Grat zwischen Recht und Unrecht verlaufen kann, zeigt einer der größten Medizinskandale der letzten Jahrzehnte: Ein Bottroper Apotheker panschte über Jahre systematisch Krebsmedikamente und setzte damit bewusst das Leben von mehreren Tausend schwerkranken Menschen aufs Spiel. So hat er sich selbst bereichert und ein Luxusleben finanziert.
Schließlich flog er auf und wurde 2018 vom Landgericht Essen wegen Betrugs in 59 Fällen und vorsätzlichem Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz in 14.500 Fällen zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Dazu wurde ein lebenslanges Berufsverbot verhängt und ein „Wertersatzbetrag“ für den nachweisbaren Krankenkasse-Schaden in Höhe von 17 Millionen Euro festgesetzt, der aus seinem Vermögen eingezogen werden sollte.
Der habgierige Apotheker zeigte weder Reue, noch äußerte er sich zu seinen Taten. Stattdessen wehrte er sich. Gegen seine Verurteilung legte er Revision ein. Diese wurde zwei Jahre später vom Bundesgerichtshof abgewiesen, der festgesetzte Wertersatzbetrag gleichzeitig um 3,3 Millionen auf rund 13,7 Millionen Euro reduziert, was sich wiederum auf das anberaumte Insolvenzverfahren auswirkte. Es folgten noch eine Klage gegen den Entzug seiner Approbation und eine Verfassungsbeschwerde, die jeweils abgewiesen wurden.
§ 57 StGB: Haftprüfung von Amts wegen
Jetzt sind zwei Drittel seiner zwölfjährigen Haftstrafe um, acht Jahre hat er im Gefängnis verbracht, zwei davon im offenen Vollzug. Schon 2023 hatte er einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung gestellt, nun wurde sie auch von Amtswegen geprüft.
Die Grundlage dafür liefert § 57 StGB, der die „Aussetzung des Strafrests bei zeitiger Freiheitsstrafe“ festschreibt. Demnach wird eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt, wenn zwei Drittel der Strafe verbüßt sind und dies im Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Zudem muss die verurteilte Person einverstanden sein.
Und tatsächlich: Im Rahmen der Prüfung nach § 57 StGB kommt der Apotheker nach acht Jahren frei. Die restlichen vier Jahre werden zur Bewährung ausgesetzt. Viele Betroffene macht das fassungslos.
Gutes Recht?
Das Landgericht Bielefeld, welches die vorzeitige Entlassung Ende Dezember 2024 entschieden hat, machte keine Angaben zur Begründung. Im Gesetzestext heißt es dazu: „Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind.“
Während der Apotheker unabhängig von Schuld und Einsicht von § 57 StGB profitieren darf, ist der Fall für viele Opfer und Angehörige noch immer nicht abgeschlossen – juristisch wie mental.
Schwierige Rechtslage für Opfer
Die Rechtslage gestaltete sich für Betroffene und Hinterbliebene in diesem Medizinskandal von Anfang an mehr schlecht als recht. So wurden Revisionen mehrerer Nebenkläger abgewiesen, die eine Verurteilung des Apothekers auch wegen Körperverletzung erreichen wollten. In dieser Hinsicht konnte das Gericht gemäß Urteilsbegründung im Prozess nämlich keine hinreichenden Feststellungen machen.
Finanzielle Entschädigungen in Form von Schadenersatz oder Schmerzensgeld müssen betroffenen Patienten und Angehörigen gerichtlich zunächst zugesprochen werden. Nur so können sie einen Anspruch aus der Insolvenzmasse geltend machen, welche sich einem WAZ-Bericht zufolge auf 12,5 Millionen Euro beläuft – und der mittlerweile Forderungen der Krankenkassen in Höhe von 124 Millionen Euro gegenüberstehen sollen.
Langwierige Verfahren
Verfahren zu finanziellen Entschädigungen laufen in dem Fall seit Längerem – nur in wenigen hatten die Kläger Erfolg. Oftmals erweist sich die Durchsetzung eines Entschädigungs-Anspruchs nämlich als schwierig, wird dieser oft herabgesetzt oder abgewiesen. Die Kläger gehen dann meist in Berufung. Da die meisten Urteile somit noch nichts rechtskräftig sind, wird vor dem Oberlandesgericht Hamm im Jahr 2025 erneut eine Prozesswelle erwartet.
Von einem Hilfsfonds in Höhe von 10 Millionen Euro, der vom Land NRW für Geschädigte des Bottroper Apothekenskandals eingerichtet wurde, sollte zunächst nur ein definierter Personenkreis profitieren, der sich unter anderem an bestimmten Krebsmitteln und Zeiträumen orientierte. So konnten zunächst viele Betroffenen und Angehörige die Hilfe von bis zu 5.000 Euro nicht beantragen. Der Kreis der berechtigten Personen wurde nach einem Beschluss des Landtags aber erweitertet.
Mentale Belastung
Die mentale Belastung und quälende Ungewissheit, die viele betroffene Patienten und Hinterbliebene von verstorbenen Patienten bis heute umtreibt und die Trauerbewältigung erschwert, dürfte mit Geld aber ohnehin nicht aufzuwiegen sein. Auch die Tatsache, dass sich der Apotheker zu den Vorwürfen im Prozess nicht äußerte, macht vielen zu schaffen. Der Täter hingegen darf sich nach der Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach § 57 StGB befreit fühlen – im wahrsten Sinn.
FAQ
Worum geht es beim Bottroper Apothekenskandal?
Ein habgieriger Apotheker aus Bottrop hat Krebsmedikamente gepanscht und somit das Leben von schwerkranken Patienten wissentlich aufs Spiel gesetzt. Für seine Taten wurde der Apotheker 2018 unter anderem zu zwölf Jahren Haft verurteilt.
Warum wurde der Bottroper Apotheker vorzeitig aus der Haft entlassen?
§ 57 StGB regelt die „Aussetzung des Strafrests bei zeitiger Freiheitsstrafe“ und besagt, dass eine Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, wenn der Verurteilte zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hat und dies unter Berücksichtigung des allgemeinen Sicherheitsinteresses verantwortet werden kann. Vor diesem Hintergrund kam der Apotheker nach acht Jahren auf freien Fuß.
Wie läuft die Entschädigung von Opfern und Angehörigen?
Der Apotheker wurde nicht wegen Körperverletzung verurteilt. Die betroffenen Patienten und Angehörige von verstorbenen Patienten müssen einen Anspruch auf Schadenersatz oder Schmerzensgeld vor Gericht erwirken, um eine finanzielle Entschädigung aus der Insolvenzmasse erhalten zu können. Den geschädigten Krankenkassen wurde im Rahmen des Urteils ein Wertersatzbetrag von 13,7 Millionen Euro zugesprochen, die tatsächlichen Forderungen sollen sich auf 124 Millionen Euro belaufen.