§ 57 StGB
Freiheit in Aussicht: Nach §57 StGB wird eine Haftstrafe unter bestimm­ten Voraus­set­zun­gen zur Bewäh­rung ausge­setzt. Bild: Desireé Gorges

Wie schmal der Grat zwischen Recht und Unrecht verlau­fen kann, zeigt einer der größten Medizin­skan­dale der letzten Jahrzehnte: Ein Bottro­per Apothe­ker panschte über Jahre syste­ma­tisch Krebs­me­di­ka­mente und setzte damit bewusst das Leben von mehre­ren Tausend schwer­kran­ken Menschen aufs Spiel. So hat er sich selbst berei­chert und ein Luxus­le­ben finan­ziert.

Schließ­lich flog er auf und wurde 2018 vom Landge­richt Essen wegen Betrugs in 59 Fällen und vorsätz­li­chem Verstoß gegen das Arznei­mit­tel­ge­setz in 14.500 Fällen zu zwölf Jahren Haft verur­teilt. Dazu wurde ein lebens­lan­ges Berufs­ver­bot verhängt und ein „Werter­satz­be­trag“ für den nachweis­ba­ren Kranken­kasse-Schaden in Höhe von 17 Millio­nen Euro festge­setzt, der aus seinem Vermö­gen einge­zo­gen werden sollte.

Der habgie­rige Apothe­ker zeigte weder Reue, noch äußerte er sich zu seinen Taten. Statt­des­sen wehrte er sich. Gegen seine Verur­tei­lung legte er Revision ein. Diese wurde zwei Jahre später vom Bundes­ge­richts­hof abgewie­sen, der festge­setzte Werter­satz­be­trag gleich­zei­tig um 3,3 Millio­nen auf rund 13,7 Millio­nen Euro reduziert, was sich wiederum auf das anberaumte Insol­venz­ver­fah­ren auswirkte. Es folgten noch eine Klage gegen den Entzug seiner Appro­ba­tion und eine Verfas­sungs­be­schwerde, die jeweils abgewie­sen wurden.

§ 57 StGB: Haftprü­fung von Amts wegen

Jetzt sind zwei Drittel seiner zwölf­jäh­ri­gen Haftstrafe um, acht Jahre hat er im Gefäng­nis verbracht, zwei davon im offenen Vollzug. Schon 2023 hatte er einen Antrag auf vorzei­tige Haftent­las­sung gestellt, nun wurde sie auch von Amtswe­gen geprüft.

Die Grund­lage dafür liefert § 57 StGB, der die „Ausset­zung des Straf­rests bei zeiti­ger Freiheits­strafe“ festschreibt. Demnach wird eine Freiheits­strafe zur Bewäh­rung ausge­setzt, wenn zwei Drittel der Strafe verbüßt sind und dies im Sicher­heits­in­ter­esse der Allge­mein­heit verant­wor­tet werden kann. Zudem muss die verur­teilte Person einver­stan­den sein.

Und tatsäch­lich: Im Rahmen der Prüfung nach § 57 StGB kommt der Apothe­ker nach acht Jahren frei. Die restli­chen vier Jahre werden zur Bewäh­rung ausge­setzt. Viele Betrof­fene macht das fassungs­los.

Gutes Recht?

Das Landge­richt Biele­feld, welches die vorzei­tige Entlas­sung Ende Dezem­ber 2024 entschie­den hat, machte keine Angaben zur Begrün­dung. Im Geset­zes­text heißt es dazu: „Bei der Entschei­dung sind insbe­son­dere die Persön­lich­keit der verur­teil­ten Person, ihr Vorle­ben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedroh­ten Rechts­guts, das Verhal­ten der verur­teil­ten Person im Vollzug, ihre Lebens­ver­hält­nisse und die Wirkun­gen zu berück­sich­ti­gen, die von der Ausset­zung für sie zu erwar­ten sind.“

Während der Apothe­ker unabhän­gig von Schuld und Einsicht von § 57 StGB profi­tie­ren darf, ist der Fall für viele Opfer und Angehö­rige noch immer nicht abgeschlos­sen – juris­tisch wie mental.

Schwie­rige Rechts­lage für Opfer

Die Rechts­lage gestal­tete sich für Betrof­fene und Hinter­blie­bene in diesem Medizin­skan­dal von Anfang an mehr schlecht als recht. So wurden Revisio­nen mehre­rer Neben­klä­ger abgewie­sen, die eine Verur­tei­lung des Apothe­kers auch wegen Körper­ver­let­zung errei­chen wollten. In dieser Hinsicht konnte das Gericht gemäß Urteils­be­grün­dung im Prozess nämlich keine hinrei­chen­den Feststel­lun­gen machen.

Finan­zi­elle Entschä­di­gun­gen in Form von Schaden­er­satz oder Schmer­zens­geld müssen betrof­fe­nen Patien­ten und Angehö­ri­gen gericht­lich zunächst zugespro­chen werden. Nur so können sie einen Anspruch aus der Insol­venz­masse geltend machen, welche sich einem WAZ-Bericht zufolge auf 12,5 Millio­nen Euro beläuft – und der mittler­weile Forde­run­gen der Kranken­kas­sen in Höhe von 124 Millio­nen Euro gegen­über­ste­hen sollen.

Langwie­rige Verfah­ren

Verfah­ren zu finan­zi­el­len Entschä­di­gun­gen laufen in dem Fall seit Länge­rem – nur in wenigen hatten die Kläger Erfolg. Oftmals erweist sich die Durch­set­zung eines Entschä­di­gungs-Anspruchs nämlich als schwie­rig, wird dieser oft herab­ge­setzt oder abgewie­sen. Die Kläger gehen dann meist in Berufung. Da die meisten Urteile somit noch nichts rechts­kräf­tig sind, wird vor dem Oberlan­des­ge­richt Hamm im Jahr 2025 erneut eine Prozess­welle erwar­tet.

Von einem Hilfs­fonds in Höhe von 10 Millio­nen Euro, der vom Land NRW für Geschä­digte des Bottro­per Apothe­ken­skan­dals einge­rich­tet wurde, sollte zunächst nur ein definier­ter Perso­nen­kreis profi­tie­ren, der sich unter anderem an bestimm­ten Krebs­mit­teln und Zeiträu­men orien­tierte. So konnten zunächst viele Betrof­fe­nen und Angehö­rige die Hilfe von bis zu 5.000 Euro nicht beantra­gen. Der Kreis der berech­tig­ten Perso­nen wurde nach einem Beschluss des Landtags aber erwei­ter­tet.

Mentale Belas­tung

Die mentale Belas­tung und quälende Ungewiss­heit, die viele betrof­fene Patien­ten und Hinter­blie­bene von verstor­be­nen Patien­ten bis heute umtreibt und die Trauer­be­wäl­ti­gung erschwert, dürfte mit Geld aber ohnehin nicht aufzu­wie­gen sein. Auch die Tatsa­che, dass sich der Apothe­ker zu den Vorwür­fen im Prozess nicht äußerte, macht vielen zu schaf­fen. Der Täter hinge­gen darf sich nach der Ausset­zung der Reststrafe zur Bewäh­rung nach § 57 StGB befreit fühlen – im wahrs­ten Sinn.

FAQ

Worum geht es beim Bottro­per Apothe­ken­skan­dal?

Ein habgie­ri­ger Apothe­ker aus Bottrop hat Krebs­me­di­ka­mente gepanscht und somit das Leben von schwer­kran­ken Patien­ten wissent­lich aufs Spiel gesetzt. Für seine Taten wurde der Apothe­ker 2018 unter anderem zu zwölf Jahren Haft verur­teilt.

Warum wurde der Bottro­per Apothe­ker vorzei­tig aus der Haft entlas­sen?

§ 57 StGB regelt die „Ausset­zung des Straf­rests bei zeiti­ger Freiheits­strafe“ und besagt, dass eine Haftstrafe zur Bewäh­rung ausge­setzt wird, wenn der Verur­teilte zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hat und dies unter Berück­sich­ti­gung des allge­mei­nen Sicher­heits­in­ter­es­ses verant­wor­tet werden kann. Vor diesem Hinter­grund kam der Apothe­ker nach acht Jahren auf freien Fuß.

Wie läuft die Entschä­di­gung von Opfern und Angehö­ri­gen?

Der Apothe­ker wurde nicht wegen Körper­ver­let­zung verur­teilt. Die betrof­fe­nen Patien­ten und Angehö­rige von verstor­be­nen Patien­ten müssen einen Anspruch auf Schaden­er­satz oder Schmer­zens­geld vor Gericht erwir­ken, um eine finan­zi­elle Entschä­di­gung aus der Insol­venz­masse erhal­ten zu können. Den geschä­dig­ten Kranken­kas­sen wurde im Rahmen des Urteils ein Werter­satz­be­trag von 13,7 Millio­nen Euro zugespro­chen, die tatsäch­li­chen Forde­run­gen sollen sich auf 124 Millio­nen Euro belau­fen.