
In Sicherheit leben, in Würde altern – wer wünscht sich das nicht? Für zehn kolumbianische Pflegekräfte und 48 Pflegeheim-Bewohner im niedersächsischen Wilstedt entwickelte sich dieser zutiefst menschliche Wunsch im vergangenen Jahr zum Skandal.
„Stoppt die Abschiebung der Pflegekräfte im Haus Wilstedt! Rettet das Zuhause unserer demenzerkrankten Mütter, Väter und Ehepartner!“, forderten Angehörige und die Heim-Belegschaft im November 2024 in einer Petition. Diese zählte am Ende über 89.000 Unterschriften und rief den damaligen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach höchstpersönlich auf den Plan.
Warum drohte den Pflegekräften die Abschiebung aus Deutschland?
Lauterbach versprach eine Lösung für die Pflegekräfte, welche als Pflegehelferinnen und Pflegehelfer in dem Wilstedter Heim für Demenzerkrankte im Einsatz waren. Sie alle hatten Asyl beantragt, ihre Anträge wurden jedoch abgelehnt. „Mit nicht nachvollziehbaren Begründungen“, wie es von Seiten der Initiatoren hieß. Die Pflegekräfte hätten „das falsche Tor nach Deutschland gewählt“, wie das für die Abschiebungen zuständige Innenministerium Niedersachsen einem taz-Bericht zufolge später erklärte.
Neben dem „Tor Asyl“ hätte den Kolumbianern demnach auch der Weg über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und ein Visum offengestanden – zumindest theoretisch. In der Realität hätten die kolumbianischen Pflegekräfte die Einlasskontrolle auch am „Tor Arbeitsvisum“ nicht bestanden.
Asyl gegen Arbeit
Für beide Tore gelten bestimmte Voraussetzungen, damit sie sich öffnen. Wer das „Tor Asyl“ wählt, sucht Schutz. Die Schutzbedürftigkeit von Menschen aus Kolumbien steht derzeit jedoch nicht besonders hoch im Kurs.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen und die exil-kolumbianische Initiative „Recht auf Asyl“ forderten erst vor wenigen Tagen die niedersächsische Landesregierung dazu auf, „sich auf Bundesebene gegen die Abschiebepraxis nach Kolumbien einzusetzen und sich deutlich gegen die Verharmlosung der dortigen Menschenrechtslage und somit auch gegen die Einstufung Kolumbiens als sog. sicheren Herkunftsstaat zu positionieren.“
Mehr als 1.600 Kolumbianerinnen und Kolumbianern drohe derzeit die Abschiebung. Für sie forderten der Flüchtlingsrat und die Organisation der Exil-Kolumbianer eine Legalisierung zu prüfen. Vorbild: Der Fall aus Wilstedt.
Vorläufiger Schutz vor Abschiebung aus Deutschland
Das Tor „Arbeitsvisum“ wäre für die zehn Pflegekräfte aus Kolumbien verschlossen geblieben, weil sie nicht über eine entsprechende Qualifikation in der Pflege verfügten. Doch die dramatische Personalsituation in der Pflege, der Medienrummel rund um die Petition und Karl Lauterbachs Versprechen haben ein drittes Tor für die Kolumbianer geöffnet: die Ausbildungsduldung.
Die Ausbildungsduldung nach § 60c Aufenthaltsgesetz (AufenthG) besagt, dass die Duldung eines Asylbewerbers zu erteilen ist, wenn dieser eine Berufs‑, Assistenz- oder Helferausbildung in einem anerkannten oder auch von Personalmangel betroffenen Beruf aufgenommen hat. Kommt es im Anschluss zu einer Beschäftigung in diesem Beruf, kann aus der Duldung unter bestimmten Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis werden.
In Wilstedt wurden vor diesem Hintergrund Ausbildungsplätze für acht Pflegeassistenten und Pflegefachkräfte und einen Koch geschaffen. Die Qualifikation der zehnten Kraft, ein Pflegestudium in Kolumbien, soll perspektivisch als Ausbildung anerkannt werden. Auch wenn die Abschiebung der kolumbianischen Pflegekräfte mit dieser Lösung vorerst vom Tisch ist – ganz gegessen ist sie damit noch nicht.
Konsequenzen der Abschiebung aus Deutschland
Wäre die Abschiebung der zehn Kolumbianer im vergangenen November vollzogen worden, hätte das drastische Konsequenzen für alle Beteiligten gehabt: Für das Heim, das wahrscheinlich hätte schließen müssen, da die kolumbianischen Kolleginnen und Kollegen ein Drittel der Belegschaft ausmachen. Für die Bewohner, die in anderen, weiter entfernten Einrichtungen untergebracht hätten werden müssen. Für die Angehörigen, die auf die Versorgung ihrer Eltern und Partner angewiesen sind.
Der Pflegestandort Deutschland hätte mit der Abschiebung der kolumbianischen Pflegekräfte ein fatales Signal gesendet: Der Flüchtlingsrat Niedersachsen und die Organisation „Recht auf Asyl“ attestierten in ihrem Aufruf an die Landesregierung einen politischen und humanitären Widerspruch.
„Bevor die Landesregierung Pflegekräfte in Kolumbien anwirbt, sollte sie kolumbianischen Schutzsuchenden eine Arbeitserlaubnis und ein Bleiberecht geben, die schon in Deutschland leben, für diese Aufgabe oftmals gut qualifiziert sind und bereits in kürzester Zeit Deutschkenntnisse erworben haben“, fordert der Flüchtlingsrat.
Anwerbeabkommen mit Kolumbien
Anlass für den Aufruf war eine Anwerbereise der niedersächsischen Ministerien für Wirtschaft und Soziales nach Kolumbien Anfang Juli 2025. Im Vordergrund der Reise stehen die Fachkräftemigration und Vernetzung vor Ort, ein besonderer Fokus liegt dabei auf dem Bereich Pflege.
Auf Bundesebene existieren bereits seit einigen Jahren Vereinbarungen zur Fachkräftevermittlung aus Kolumbien. Dazu zählt unter anderem das Lateinamerika Projekt der Zentralen Auslandsvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit, welches seit 2022 auch Pflegefachkräfte aus Kolumbien rekrutiert und vermittelt.