Rettungswagen überholte Auto
Ein Rettungswagen fährt mit über 75 km/h auf eine Kreuzung zu und überholt dabei links ein Auto. Das Martinshorn wurde 7,11 Sekunden und 127,7 Meter zuvor eingeschaltet.
Der Fahrer des überholten Autos hat die Warnsignale jedoch nicht bemerkt und ist beim Linksabbiegen mit dem Rettungswagen zusammengestoßen.
Vor Gericht klagt die Frau des Fahrers – ihr gehört das Auto – gegen die Fahrerin des Rettungswagens. Die Klägerin fordert Schadensersatz auf einer Haftungsquote von 75 Prozent für die materiellen Unfallschäden am Auto.
Außerdem fordert sie Schadensersatz für die immateriellen Schäden ihres Ehemanns. Er hatte bei dem Unfall eine Gehirnerschütterung und ein Schleudertrauma im Bereich der Halswirbelsäule erlitten.
Auto-Fahrer wollte nur Platz machen
Das Landgericht Kiel hatte die Klage zunächst abgewiesen. Es konnte nicht bewiesen werden, dass die Fahrerin des Rettungswagens ihre Sonderrechte im Straßenverkehr missachtet hätte. Ansprüche aus Amtshaftung (§ 839 BGB, Artikel 34 GG) bestünden nicht.
Die Fahrerin habe rechtzeitig Blaulicht und Martinshorn eingesetzt, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie habe deshalb darauf vertrauen dürfen, dass sich alle Verkehrsteilnehmenden auf den nahenden Rettungswagen einstellen können.
Gegen diese Entscheidung wehrte sich die Klägerin mit einer Berufung. Ihrer Ansicht nach dürfe die Fahrerin des Rettungswagens ihre Sonderrechte nur dann ausüben, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausreichend berücksichtigt wird.
Das sei bei einer Überschreitung der vorgegebenen Geschwindigkeit um das 2,5‑fache nicht gegeben, so die Klägerin. Ihr Mann sei es deshalb bemüht gewesen rechtzeitig auszuweichen. Er wollte durch das Einscheren auf die Linke Spur den Weg frei machen.
Auto oder Rettungswagen? Die Schuld ist klar!
Doch auch die Berufung wurde vom Gericht abgelehnt. Eine Amtspflichtverletzung liegt nicht vor. Die Verstöße der RTW-Fahrerin, wie die hohe Geschwindigkeit und das Überholen des PKWs trotz Abbiegeanzeige, sind nach § 35 Absatz 5a StVO gerechtfertigt.
Demnach sind Fahrzeuge des Rettungsdienstes von den Vorschriften der StVO befreit, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden.
Die Fahrerin des Rettungswagens konnte durch Vorlage des Einsatzprotokolles und Angabe des Einsatzgrundes belegen, dass es sich bei der Fahrt um einen Notfall handelte.
Auch ein Verstoß gegen § 35 Absatz 8 StVO liegt demnach nicht vor. Danach dürfen Sonderrechte nur unter Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden.
Die im Vergleich zur angeordneten Geschwindigkeit von 30 km/h überhöhte Geschwindigkeit von 75 km/h begründet keinen Verstoß. Es handelte sich bei der Unfallstelle nämlich um eine gut übersehbare Hauptstraße.
Besonders ist an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass der Fahrer des PKWs sich als Linksabbieger ohnehin vorher durch Schulterblick über den rückwärtigen Verkehr hätte versichern müssen. Die doppelte Rückschaupflicht ist in § 9 Absatz 1 Satz 4 StVO geregelt.
Fahrer hätte Rettungswagen bemerken müssen
Das bedeutet, selbst wenn er Martinshorn und Blaulicht nicht bemerkt hätte, dann hätte ihm durch den Schulterblick der nahende Rettungswagen auffallen müssen.
Vielmehr hat der Fahrer des PKW gegen geltendes Recht verstoßen (§ 38 Absatz 1 StVO) in dem er nicht freie Bahn gemacht hat.
Das Gericht folgt den Angaben der Klägerin nicht, nach der ihr Mann durch das Linksabbiegen versucht hatte, den Weg freizumachen.
Die Gegenspur – die vom Rettungswagen genutzt wurde – war nämlich unstreitig frei, weshalb das Linksabbiegen gar nicht nötig gewesen wäre, um Platz zu schaffen.
Im Zweifel hätte der Fahrer stehenbleiben müssen, sofern kein Platz war nach rechts abzubiegen.
Fazit
Das Gericht wies die Klage ab. Die Fahrerin des Rettungswagens hatte ihre Sonderrechte korrekt ausgeübt. Die überhöhte Geschwindigkeit und das Überholen wurden durch den dringenden Notfalleinsatz gerechtfertigt. Schuld trägt der Fahrer des überholten PKW, der seine doppelte Rückschaupflicht aus § 38 Absatz 1 StVO verletzte.
Sonderrechte für Rettungswagen dürfen nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Je mehr sich der Einsatzfahrer über allgemeine Verkehrsregeln hinwegsetzt und dadurch die Unfallgefahren erhöht, desto größer ist die ihm obliegende Sorfaltspflicht.
Quelle: OLG Schleswig-Holstein vom 4.1.2024 – 7 U 141/23