
Verbeugen, lächeln und entschuldigen als Ausdruck des Respekts und der Höflichkeit hat in Japan traditionell einen hohen Stellenwert – besonders im Arbeitsleben. Doch das Land der aufgehenden Sonne sieht sich seit einigen Jahren mit einem Phänomen konfrontiert, das dieser Mentalität komplett entgegensteht. „Kasu-hara“ lautet die umgangssprachliche Bezeichnung für Kundenbelästigung, in welche sich auch die Belästigung von Pflegepersonal durch Patienten einreiht.
Die Problematik ist kürzlich in den Fokus der japanischen Öffentlichkeit gerückt, weil die bekannte Schauspielerin Ryoko Hirosue Anfang April eine Krankenschwester in einem Krankenhaus in der Präfektur Shizuoka getreten und gekratzt haben soll. Die 44-Jährige wurde daraufhin verhaftet, ihre Agentur begründete das Verhalten mit Panik nach einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall und entschuldigte sich für „die Unannehmlichkeiten und Sorgen, die wir den Opfern und allen anderen Betroffenen bereitet haben.“
Gewalt im japanischen Pflegealltag keine Seltenheit
Wie das Onlinemagazin Sumikai berichtete, löste der Fall Empörung unter japanischen Pflegekräften aus. In den sozialen Netzwerken teilten zahlreiche Betroffene ihre Erfahrungen und machten das Ausmaß der Patientenbelästigung deutlich: Bedrohungen, Beschimpfungen und körperliche Angriffe sind keine Seltenheit und gehören längst zum japanischen Pflegealltag.
Verschiedene Umfragen bestärken den Eindruck. So zum Beispiel haben gemäß einer aktuellen Umfrage einer Beratungsfirma über 40 Prozent der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen schon einmal Erfahrungen mit verschiedenen Formen der Gewalt gemacht. Besonders oft kommt es dabei mit jeweils über 60 Prozent zu verbalen Angriffen und gewalttätigem Verhalten. Direkte körperliche Attacken haben rund ein Viertel der Betroffenen erlebt. Mit rund 11 Prozent haben im Vergleich zu anderen Branchen besonders viele Beschäftigte sexuelle Belästigung erfahren.
In einer anderen Umfrage gaben 50 von 54 befragten Krankenhäusern und Pflegediensten in der Präfektur Tottori an, Patientenbelästigung in Form von Beleidigungen oder Gewaltandrohungen zu erfahren. Auch ungerechtfertigte Beschwerden und daraus resultierende Zahlungsverweigerungen stehen auf der Tagesordnung.
Belästigung durch Patienten ist in Japan jedoch nicht erst seit dem jüngsten Fall rund um die Prominente Ryoko Hirosue bekannt. Sumikai berichtete bereits im vergangenen Jahr von der zunehmenden Bedrohung von medizinischem Personal in Japan durch Gewalt und sexuelle Belästigung. Diese Entwicklung beurteilten Experten als eine Folge der Pandemie. Die Auswirkungen sind fatal: Die hohe psychische Belastung der Fachkräfte führt zu Erkrankungen, viele haben Angst, immer mehr können ihren Beruf nicht mehr ausüben und kündigen. Dadurch verschärft sich ein anderes drastisches Problem, mit dem Japan – wie auch Deutschland – infolge einer immer älter werdenden Bevölkerung zu kämpfen hat: Personalmangel.
Maßnahmen gegen Patientenbelästigung
Auf politischer Ebene und Arbeitgeberseite werden bereits Gegenmaßnahmen zum Schutz der Beschäftigten ergriffen. In vielen medizinischen Einrichtungen wurden zum Beispiel Handbücher zum Umgang mit aggressiven Patienten ausgegeben, mehr Sicherheitspersonal eingestellt oder Handlungsanweisungen wie das Dokumentieren und Filmen von Gewaltattacken oder die Verständigung der Polizei erteilt.
Neben Pflegekräften sind in besonderem Maße auch Beschäftigte im öffentlichen Dienst, im Handel, in der Gastronomie und in Transportunternehmen von „Kasu-hara“ betroffen.
Vor diesem Hintergrund gelten seit Kurzem in mehreren Präfekturen Verordnungen zur Verhinderung von Kundenbelästigung. Vorreiter ist Tokyo, wo die Verordnung Kunden verbietet Personal zu belästigen und Unternehmen zu Präventionsmaßnahmen verpflichtet. Auch müssen Arbeitgeber im akuten Belästigungsfall eingreifen und den Beschäftigten beistehen. Was genau unter Kundenbelästigung zu verstehen ist, soll noch konkret definiert werden – auch um eine potentielle Belästigung von berechtigten Beschwerden abzugrenzen.
Darüber hinaus hat auch die japanische Regierung erst kürzlich einen Gesetzesentwurf zur Kundenbelästigung verabschiedet, nach dem Unternehmen verpflichtet werden, verbindliche Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten festzulegen. Kundenbelästigung ist hierbei allgemein als ein Verhalten abseits gesellschaftlicher Normen definiert, welches Beschäftigte in ihrem Arbeitsalltag beeinträchtigt.
Ob das Gesetz und die regionalen Verordnungen eine Verbesserung bewirken, muss sich erst noch zeigen. Eine Umfrage unter Pflegekräften ergab, dass mehr als 60 Prozent nicht daran glauben, unter anderem weil in vielen Verordnungen keine konkreten Strafen vorgesehen sind. Unternehmen, die die gesetzlich verordneten Präventionsmaßnahmen nicht umsetzen, können dagegen von den Behörden öffentlich bekannt gemacht werden.
Vorbild für Deutschland?
In Sachen demografischer Entwicklung und Pflegenotstand ist das ferne Japan Deutschland ganz nah – und auch hierzulande nimmt die Gewalt gegen medizinisches Personal immer weiter zu. Forderungen nach Meldesystemen, Schutzmaßnahmen wie Wachdienste und Kameras, oder eine generell höhere Sensibilisierung für das Problem werden auch hier seit einiger Zeit laut.
Gesetze, die direkt oder indirekt einen Schutzrahmen gewähren können – zum Beispiel durch die Erteilung von Hausverbot – liegen dem Zivil- oder Strafrecht zugrunde. Genau wie in Japan gibt es auch in Deutschland einige Handlungshilfen für medizinisches Personal in Gefahrensituationen.
Neuerdings setzen Einrichtungen im Gesundheitswesen auch auf Deeskalationstrainings, die die Mitarbeitenden mit den nötigen Fähigkeiten ausrüsten sollen, selbst angespannte Situationen mit Patienten lösen zu können – auch ohne zusätzliches Sicherheitspersonal.
FAQ
Was bedeutet Patientenbelästigung in Japan?
Darunter ist im Allgemeinen die Belästigung von medizinischem Personal durch Patienten zu verstehen, zum Beispiel durch verbale Angriffe, körperliche Übergriffe, gewalttätiges Auftreten oder sexuelle Belästigung. Da dieses Verhalten nicht nur im Gesundheits- und Sozialwesen auftritt, wird auch von Kundenbelästigung („Kasu-hara“) gesprochen.
Was hat die Schauspielerin Ryoko Hirosue damit zu tun?
Ryoko Hirosue soll nach einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall eine Krankenschwester attackiert und verletzt haben. Sie wurde verhaftet und machte Schlagzeilen, woraufhin zahlreiche Pflegekräfte in den sozialen Netzwerken von Gewalterfahrungen berichteten und somit die Problematik in den Fokus der Öffentlichkeit rückten.
Welche Schutzmaßnahmen gegen Gewalt werden in Japan ergriffen?
Im medizinischen Bereich werden zum Beispiel Handbücher zum Umgang mit aggressiven Patienten ausgegeben, konkrete Handlungsanweisungen erteilt und das Sicherheitspersonal erhöht. Darüber hinaus existieren regionale Verordnungen, die Kunden beziehungsweise Patienten die Belästigung von Personal verbietet und Arbeitgeber zu verbindlichen Maßnahmen gegen „kasu-hara“ verpflichtet.