Schon seit anderthalb Monaten hält das Coronavirus Deutschland in Atem. Für viele von uns gehört der morgendliche Blick auf die aktuellen Fallzahlen, und deren Entwicklung, mittlerweile zur Tagesstruktur. Wie stark ist der Anstieg wohl diesmal ausgefallen; setzt sich das seit Anfang April allmählich zu beobachtende Abflachen der registrierten Neuinfektionen fort, stagnieren die Zahlen oder gibt es einen „Rückfall“? Das Robert Koch-Institut (RKI) registrierte rund 130.450 COVID-19-Fälle in Deutschland (Stand 16.04.2020) seit dem Übergreifen der Pandemie auch auf Deutschland; die US-amerikanische Johns Hopkins University – die den RKI-Zahlen durch Live-Auswertung diverser Quellen auf Stadt- und Länderebene stets ein Stück voraus ist – bereits 132.000.
Doch all diese Zahlen können nur einen Teil der Wahrheit darstellen. Schließlich wird immer noch über einen beträchtlichen „Dunkelziffer“-Anteil in der Bevölkerung spekuliert. Jener besteht aus Menschen, die ebenfalls Coronavirus-infiziert sind, bei denen jedoch die Erkrankung entweder aufgrund der Inkubationszeit noch nicht ausgebrochen ist, sie komplett asymptomatisch verläuft oder vielleicht gar schon überwunden wurde. Um sich momentan auf das Coronavirus testen zu können, muss man schließlich konkrete Symptome aufweisen, Kontakt zu dokumentierten Coronainfektionsfällen gehabt und/oder sich in einem Risikogebiet wie Tirol, Norditalien, China, dem Elsass oder New York City aufgehalten haben.
Die Höhe der Dunkelziffer ist bisher reine Spekulation – Erste Erkenntnisse liefert Österreich
Wie hoch genau dieser verdeckte Anteil der unbewusst Infizierten ist – das weiß, erstaunlicherweise, momentan noch niemand. Nicht einmal annähernd. Die gängigen Schätzungen gehen, bezogen auf die offiziellen Infektionszahlen, von einem Dunkelziffer-Faktor von 2 bis 4 aus. Es gibt jedoch auch Spekulationen über eine zehn- bis mehr als zwanzigfach so hohe Verbreitungs-Quote, als es die registrierten Zahlen verlautbaren. Höchste Zeit also, hier durch groß angelegte Stichproben-Untersuchungen Licht ins Dunkel zu bringen.
Bei unseren österreichischen Nachbarn ist ein genau solcher Test, wenngleich in noch kleinem Umfang, absolviert worden. Das Ergebnis hier: Gegenüber den dort rund 8.500 zum Testzeitpunkt amtlich registrierten Coronavirus-Infizierten kam die auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnete Stichprobe auf rund 28.500 Corona-Positive als statistisch wahrscheinlichsten Wert. Also fast dreieinhalb Mal so viel wie amtlich bekannt. Weitere Stichproben, mit einem besonderen Fokus auf Medizin- und Pflegepersonal sowie auf Seniorenheime, sollen folgen. Ein bisschen zur Erhellung trägt unterdessen auch die Corona-Studie aus Gangelt im Kreis Heinsberg bei. Die Gemeinde an der niederländischen Grenze gilt als eine der Ursprungsorte der COVID-19-Ausbreitung in Deutschland, seitdem es auf der dortigen Karnevalssitzung Mitte Februar zu rund 40 Ansteckungen durch ein infiziertes Pärchen kam. Das dortige Ergebnis: 15 Prozent der rund 500 Probanden trugen das Virus, oder Antikörper dagegen, bereits im Körper. Da es sich jedoch um eine besonders schwer von COVID-19 betroffene Gemeinde handelt, dürften die Ergebnisse nur schwer auf Gesamtdeutschland übertragbar sein.
Denn die Informationen über die wahre Verbreitung des Virus in der Bevölkerung sind unverzichtbar. Nämlich dann, wenn es darum geht, über eine schrittweise Lockerung der gegenwärtigen Kontakt-Einschränkungen zu entscheiden. Je höher die Zahl der unbemerkt Infizierten, desto größer wird zwar die Herausforderung, die Virus-Ausbreitung hierzulande in den Griff zu bekommen und die Reproduktionsrate unter 1 zu halten – jedoch würde sich andererseits auch der Erkrankungsschwere- und Sterblichkeitsfaktor nach unten relativieren.
Klar bleibt bei alledem: Akute Corona-Verdachtsfälle müssen bei den Tests natürlich weiterhin Priorität haben. Jedoch könnte man zumindest einen Teil der täglichen Testkapazität für Stichproben in der Gesamtbevölkerung, nämlich unter (mutmaßlich) gesunden Menschen, abzweigen. Aus allen Landesteilen, in allen Altersgruppen und Berufen. Argumentiert wurde bislang, dass die begrenzten Testkapazitäten den wirklichen Verdachtsfällen vorbehalten bleiben müssten. Doch diesen Kraftakt zu vollbringen, scheint gar nicht so utopisch: Schon heute gelten rund 60.000 Tests pro Tag als möglich; diese Zahl wird sich durch eine Ausweitung der Testkapazitäten und neue, schnellere Diagnoseverfahren in der nächsten Zeit wohl stark erhöhen. Wie groß die Stichprobe sein sollte – etwa 20.000, 40.000 oder auch 80.000 Menschen – bleibt dabei den statistisch versierten Kräften in den Instituten vorbehalten. Je größer die Probe, desto eher sorgt allerdings schon das „Gesetz der großen Zahl“ für eine Repräsentivität der Studie.
Erkenntnisse über berufliche Risiken und den Einfluss des Alters
Die momentane Zeit, inmitten der geltenden Kontakteinschränkungen, bietet sich für eine große Allgemein-Erhebung geradezu an. Schließlich dürfte, durch den momentanen Wegfall von Massenveranstaltungen wie Konzerten oder Fußballspielen, die nur noch sehr eingeschränkten privaten Treffen sowie das allgemeine Distanzhalten im Alltag, die Zahl der hier und jetzt tatsächlich erfolgenden Neuinfektionen (hoffentlich!) überschaubar sein. Denn zur Erinnerung: Die tagtäglich gemeldeten Zahlen reflektieren das Infektionsgeschehen in der Vergangenheit, etwa eine bis zwei Wochen zuvor – bevor es nach einer Infektion zum Auftreten von Symptomen, der Durchführung des Tests sowie der Auswertung und Ergebnis-Übermittlung kommt. Somit würde es die Statistik nicht allzu sehr verfälschen, sollte sich die Untersuchungsdauer über zwei oder drei Tage hinziehen.
Weiterhin ließen sich aus einer solchen Großuntersuchung, neben dem tatsächlichen Dunkelziffer-Faktor, weitere wertvolle Erkenntnisse ziehen. Wie stark erhöht ist das Übertragungsrisiko für Berufstätige mit vielen Kontakten – vor allem für Beschäftigte in Medizin und Pflege, aber auch Einzelhandels-Beschäftigte mit Kundenkontakt im Laden, für Bus- und Bahnfahrer, Polizisten usw., im Vergleich zu reinen „Home Office“-Beschäftigten? Welche zusätzlichen Schutzmaßnahmen sollte es deswegen für sie geben? Es ist an der Zeit, dies alles zu klären.