
Rechnung über vollstationäre Behandlung sorgt für Unmut
Im Herbst 2016 suchte eine damals 23-jährige Frau Hilfe in einer Hamburger Klinik. Die junge Versicherte litt unter anderem an einer rezidivierenden depressiven Störung und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Bereits im Frühjahr desselben Jahres war sie in derselben Klinik behandelt worden. Nach einem Aufenthalt in der Türkei kehrte sie zurück – mit dem Bedürfnis nach weiterer Hilfe auf der Psychotherapiestation. Vom 27. September bis 8. Dezember 2016 blieb sie erneut in der Klinik. Die Rechnung an ihre Krankenkasse: 22.026,58 Euro.
Die Summe zahlte die Krankenkasse zwar zunächst. Nach einiger Zeit regten sich allerdings Zweifel: War die vollstationäre Behandlung wirklich notwendig? Der Medizinische Dienst wurde eingeschaltet – und kurze Zeit später zog die Kasse das bereits gezahlte Geld wieder ein, indem sie es gegen andere Forderungen der Klinik aufrechnete.
Weil die Patientin sich zu einem erheblichen Anteil ihres stationären Aufenthalts, außerhalb der Klinik aufgehalten habe, sei die vollstationäre Behandlung nach Ansicht der Kasse nicht nötig gewesen. „Die Behandlung der Versicherten, die sich etwa die Hälfte der vollstationären Behandlungsdauer nicht im Krankenhaus aufgehalten habe, habe nicht dem Wesen einer vollstationären Behandlung entsprochen, sondern allenfalls einer intensivierten ambulanten Behandlung. Eine vollstationäre Behandlung sei auch nicht erforderlich gewesen“, heißt es von der Kasse.
Gerichte sehen medizinische Notwendigkeit
Die Klinik wollte das nicht auf sich sitzen lassen und zog vor Gericht – mit Erfolg. Bereits das Sozialgericht Hamburg gab ihr recht. Auch das Landessozialgericht bestätigte: Die vollstationäre Behandlung war medizinisch notwendig.
Nun musste sich das Bundessozialgericht mit dem Fall beschäftigen – und wies die Revision der Krankenkasse endgültig ab. Die entscheidende Frage: Wann ist eine Behandlung wirklich vollstationär – und wann handelt es sich nur um eine ambulante Therapie im Tarnmantel?
Therapie braucht Stabilität – und ein freigehaltenes Bett
Nach Ansicht des Gerichts sei nicht entscheidend, ob sich die Patientin durchgehend im Klinikgebäude aufhielt. Maßgeblich sei vielmehr, ob die vollstationäre Behandlung unter enger räumlicher und funktioneller Anbindung an das Krankenhaus erfolgte – und ob jederzeit eine Rückkehrmöglichkeit bestand.
In diesem Fall war die Antwort klar: ja, die Klinik hielt während der gesamten Zeit ein Bett für die Patientin frei. Die sogenannten „Belastungserprobungen“ – also gezielte Aufenthalte außerhalb der Klinik unter therapeutischer Beobachtung – waren laut Gericht Teil des Gesamtkonzepts und nicht als „Freizeit“ zu werten. Das gehöre zu modernen multimodalen und multiprofessionellen Therapieansätzen schwerer psychischer Erkrankungen.
Die Richter betonten außerdem die Wichtigkeit einer stabilen therapeutischen Beziehung, insbesondere bei Patientinnen mit Borderline-Störung. Ein abrupter Abbruch oder eine vorzeitige Entlassung wäre demnach nicht zu verantworten gewesen.
Kein Verfahrensfehler – keine Chance für die Kasse
Entgegen der Vorwürfe der beklagten Krankenkasse erkannte das Gericht auch keine Verfahrensfehler in den Vorinstanzen. Der Versuch der Kasse, das Urteil wegen angeblicher Fehler im Prozess zu kippen scheiterte somit auch. Das Bundessozialgericht stellte klar: Die Vorinstanzen hätten sorgfältig gearbeitet, insbesondere gestützt auf ein überzeugendes medizinisches Sachverständigengutachten.
FAQ
Was bedeutet stationäre Behandlung?
Eine stationäre Behandlung bedeutet, dass Patientinnen und Patienten für eine bestimmte Zeit rund um die Uhr in einer Klinik oder einem Krankenhaus aufgenommen und medizinisch betreut werden. Sie schlafen dort, nehmen an Therapien teil und erhalten umfassende Versorgung. Diese Form der Behandlung bietet eine intensive Betreuung, die bei schweren psychischen Erkrankungen notwendig sein kann. Eine Behandlung gilt als vollstationär, wenn sie unter enger räumlicher und funktioneller Anbindung an das Krankenhaus erfolgt – unabhängig davon, ob sich die Patientin ständig im Gebäude aufhält.
Wann ist eine stationäre Behandlung bei Depressionen notwendig?
Eine stationäre Behandlung bei Depressionen ist notwendig, wenn ambulante Maßnahmen nicht ausreichen, die Symptome stark ausgeprägt sind oder eine akute Selbstgefährdung besteht. Auch bei komplexen Diagnosen wie einer Borderline-Störung in Kombination mit Depressionen kann eine engmaschige therapeutische Begleitung in einer Klinik erforderlich sein. Dabei zählt nicht nur der Aufenthalt in der Klinik selbst, sondern auch die therapeutische Struktur und ein freigehaltener Platz für Stabilität und Rückkehrmöglichkeiten.
Quelle: B 1 KR 31/23 R