Verweigertes Krankengeld wegen verspäteter AU-Bescheinigung
Der Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Der Kläger leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung und ist seit dem 29. Oktober 2018 arbeitsunfähig erkrankt. Mit Bescheid vom 20. Dezember 2018 gewährte die ihm Beklagte Krankengeld in Höhe von 103,24 Euro brutto. Im März des Folgejahres stellte der Arzt des Klägers diesem eine weite AU-Bescheinigung bis zum 15. April 2019 aus. An diesem Tag besuchte der Kläger die Arztpraxis erneut, um eine weitere Krankschreibung zu erhalten. Aufgrund einiger Terminverschiebungen konnte der Arzt den Kläger erst um 17 Uhr untersuchen. Zu diesem Zeitpunkt waren keine Schreibkräfte mehr anwesend, weshalb der Kläger seinen Attest nicht am gleichen Tag, sondern erst am 20. April 2019 per Post erhielt. Die AU-Bescheinigung wurde der Beklagten noch am selben Tag per Post übersandt und traf dort am 24. April 2019 ein.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Krankengeld für den Zeitraum vom 16. April bis zum 23 April 2019 mit Bescheid am gleichen Tag ab, da die Bescheinigung nicht innerhalb einer Woche bei der Beklagten eingegangen sei. Die Wochenfrist begann am 16. April und endete am 22. April 2019. Der Einspruch des Klägers wurde von der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 2019 zurückgewiesen. Die Kläger sei auf die Meldepflichten bei Arbeitsunfähigkeit durch das Merkblatt der Beklagten hingewiesen worden. Der Anspruch auf das Krankengeld ruhe, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht innerhalb von einer Woche gemeldet werde. Der Versicherte habe dafür zu sorgen, dass die Meldung die Krankenkasse rechtzeitig erreicht.
Mit Schreiben vom 25.6.2019 erhob der Patient Klage. Er beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24. April 2019 zur Nachzahlung des gesetzlichen Krankengeldes für den Zeitraum vom 16. April bis zum 23. April 2019 zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand sei unzulässig, da es sich bei der Frist um eine Ausschlussfrist handele. Ferner liege auch kein Ausnahmetatbestand vor, wodurch die fristgerechte Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch Verschulden der Beklagten verhindert wurde. Weiterhin hätte der Kläger die Meldung fristgemäß per Telefon, Mail oder Fax übermitteln können, es bedürfe bei der Meldung keiner bestimmten Form.
Die Klage hatte Erfolg. Der Bescheid der Beklagten vom 24. April 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Juni 2019 sei rechtswidrig und dem Kläger gegenüber rechtsverletzend. Der Kläger habe für den Zeitraum vom 16. April bis zum 23. April 2019 Anspruch auf Krankengeld (SG München vom 17. Juni 2020 – S 7 KR 1719/19).
Meldung der Arbeitsunfähigkeit obliegt Versichertem
Nach § 44 Absatz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankengeld, wenn sie durch eine Krankheit arbeitsunfähig sind oder auf Kosten der Krankenkasse in einem Krankenhaus oder einer Rehabilitationseinrichtung behandelt werden. Der Anspruch besteht gemäß § 46 Satz 1 SGB V vom Tag der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit an.
Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Krankengeld müssen bei zeitlich befristeter Feststellung der Arbeitsunfähigkeit und dementsprechender Gewährung von Krankengeld für jeden Bewilligungsabschnitt jeweils erneut vorliegen (vgl. BSG vom 16. Dezember 2014 – B 1 KR 25/14 R).
Bei Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit muss der Versicherte nach § 49 Absatz 1 Nummer 5 SGB V diese rechtzeitig feststellen lassen und seiner Krankenkasse innerhalb einer Woche mitteilen.
Das Gesetz geht davon aus, dass der erkrankte Versicherte selbst die nötigen Schritte unternimmt, um seine Arbeitsunfähigkeit feststellen zu lassen und damit seine Ansprüche zu wahren. Die Meldeobliegenheit des § 49 Absatz 1 Nummer 5 SGB V sowie die Ausschlussregelung nach § 46 Satz 1 Nummer 2 SGB V soll die Krankenkasse davon befreien, die Voraussetzungen eines zu spät geltend gemachten Krankengeld-Anspruchs im Nachhinein aufklären zu müssen. Sie soll die Möglichkeit haben, die Arbeitsunfähigkeit zeitnah durch den MDK überprüfen zu können, um Leistungsmissbräuchen entgegenzutreten und die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit einzuleiten.
Nach Rechtsprechung des BSG ist die Gewährung von Krankengeld bei verspäteter Meldung auch dann ausgeschlossen, wenn die Leistungsvoraussetzungen im zweifelsfrei gegeben sind und den Versicherten keinerlei Verschulden an dem unterbliebenen oder verspäteten Zugang der Meldung trifft. Bei der Meldung der Arbeitsunfähigkeit handelt es sich um eine Obliegenheit des Versicherten. Die Folgen einer unterbliebenen oder nicht rechtzeitigen ärztlichen Feststellung oder Meldung sind grundsätzlich von ihm zu tragen. Die Ausschlussregelung des § 46 Satz 1 Nummer 2 und des § 49 Absatz 1 Nummer 5 SGB V seien daher strikt zu handhaben (vgl. BSG vom 10. Mai 2012 – B 1 KR 20/11 R).
Ausnahme bei Verschulden der Krankenkasse
Das Ruhen des Leistungsanspruchs darf den Rechten des Versicherten jedoch nicht entgegengestellt werden, wenn die Feststellung oder die Meldung der Arbeitsunfähigkeit durch Umstände verhindert oder verzögert wurden, die in den Verantwortungsbereich der Krankenkasse fallen (vgl. BSG vom 8. Februar 2000 – B 1 KR 11/99 R). Darunter fallen beispielsweise organisatorische Mängel der Kasse, von denen der Versicherte nichts wissen konnte. Unterbleibt die Feststellung aus Gründen, die dem Verantwortungsbereich des Kassenarztes zuzurechnen sind, so darf dies nicht zum Nachteil des Versicherten auswirken (vgl. BSG, Urteil vom 17. August 1982 – 3 RK 28/81).
Die gesetzliche Obliegenheit zur zeitgerechten ärztlichen Feststellung und geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit erfülle der Versicherte dann, wenn er alles in seiner Macht stehende unternimmt, um die Feststellung zu erhalten.
Der Patient muss demnach den Arzt aufsuchen, ihm seine Beschwerden vortragen und eine Krankschreibung beantragen. Wurde der Versicherte jedoch durch einen Fehler der Krankenkasse (zum Beispiel durch eine Fehlbeurteilung der Arbeitsunfähigkeit des Vertragsarztes oder des MDK, vgl. BSG, Urteil vom 8. November 2005 – B 1 KR 30/04 R) daran gehindert, seine Ansprüche zu wahren und macht er seine Rechte bei der Kasse unverzüglich (innerhalb einer Woche) nach dem Befund des Fehlers kenntlich, so kann er sich auf den Mangel auch zu einem späteren Zeitpunkt berufen, um sein Recht auf nachträgliche Zuerkennung der Krankengeldansprüche zu wahren.
Im aktuellen Fall ist die Kammer der Ansicht, dass die Überschreitung der einwöchigen Meldefrist nach § 49 Absatz 1 Nummer 5 SGB V nicht in den Schuldbereich des Klägers falle. Dieser habe die Bescheinigung erst fünf Tage nach der Untersuchung, am 20. April 2019 erhalten. Die Verzögerung falle in den Einflussbereich der Krankenkasse, die nach der gesetzlichen Verteilung der Einfluss- und Risikosphären (§ 44 ff. SGB V) sicherstellen muss, dass der Vertragsarzt eine AU-Bescheinigung nach § 46 Satz 1 Nummer 2 SGB V unverzüglich aushändigt. Erst dann erfülle auch die strikte Meldeobliegenheit des Versicherten gemäß § 49 Absatz 1 Nummer 5 SGB V ihren Zweck, der Kasse eine zeitnahe Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit und ggf. eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu ermöglichen.
Es sei ausreichend, dass der Kläger die AU-Bescheinigung innerhalb einer Woche ab dem verspäteten Erhalt an die Kasse übermittelt. Die Krankenkasse habe auch unter Berücksichtigung des verspäteten Zugangs der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf die Wochenfrist des § 49 Absatz 1 Nummer 5 SGB V noch ausreichende Handlungsmöglichkeiten, gerade bei Langzeiterkrankungen eine Überprüfung durch den MDK einzuleiten.
In unserem Fall hat der Kläger also alles in seiner Macht stehende unternommen, um seine Ansprüche auf das Krankengeld zu wahren, indem er den Arzt aufgesucht und das Attest nach Erhalt umgehend zur Post gebracht hatte. Die verspätete Ausstellung der AU-Bescheinigung durch die unzureichende Büroorganisation und Versäumnis des Kassenarztes falle in den Risikobereich der Krankenkasse und rechtfertige nicht die Unterlassung der Krankengeldzahlung an den Kläger. Das gesetzliche Krankengeld für den Zeitraum vom 16. bis zum 23. April 2019 sowie die Kosten des Rechtsstreits sind an dem Kläger zu erstatten.