Patientenwille
Wenn der Patient nicht mehr ansprech­bar ist, muss der mutmaß­li­che Patien­ten­wille bestimmt werden. Bild: © Sudok1 | Dreamstime.com

Patien­ten­wille nicht beach­tet? Betreuer schal­tet Beatmung ab

Im vorlie­gen­den Fall geht es um eine Frau, die nach einem Schlag­an­fall künst­lich beatmet werden musste und deshalb in ein Kranken­haus einge­lie­fert wurde. Drei Tage nach ihrer Einlie­fe­rung wurde ein vorläu­fi­ger Betreuer für sie bestimmt, der Sorge für ihre Gesund­heit und Aufent­halts­be­stim­mun­gen überneh­men sollte.

Zwischen diesem Betreuer und der Tochter der Frau kam es am 24. Mai 2019 zu einem Gespräch, das beide Parteien in der späte­ren Gerichts­ver­hand­lung unter­schied­lich wieder­ge­ben.

Unstrei­tig ist, dass in dem Gespräch ein Betreu­er­wech­sel zwischen ihnen verein­bart wurde. Die Tochter sei bereit gewesen, künftig die ehren­amt­li­che Betreu­ung ihrer Mutter zu überneh­men, was so im Anschluss auch dem Betreu­ungs­ge­richt mitge­teilt wurde.

Doch bevor die Tochter die Betreu­ung auch tatsäch­lich überneh­men konnte, starb ihre Mutter. Der vorläu­fige Betreuer hatte sich zwischen­zeit­lich, nach Rückspra­che mit der behan­deln­den Ärztin, dazu entschie­den, die künst­li­che Beatmung der Patien­tin zu beenden. Sie wurde am 31. Mai 2019 extubiert.

Tochter der Frau fühlt sich übergan­gen

Die Tochter der Frau war mit dieser Entschei­dung nicht einver­stan­den. Gegen­über der Klinik­lei­tung hätte sie bereits geäußert, dass sie nicht wolle, dass die lebens­er­hal­ten­den Maßnah­men ihrer Mutter abgestellt werden. Der Betreuer habe die Entschei­dung getrof­fen, ohne sie mitein­zu­be­zie­hen, so ihr Vorwurf.

Er hätte sich vor seiner Entschei­dung zunächst erkun­di­gen müssen, ob sie nicht eine Betreu­ungs­voll­macht von ihrer Mutter erhal­ten habe. Eine solche hatte sie nämlich tatsäch­lich – ausge­stellt am 15. Mai 2009. Aller­dings wusste niemand darüber Bescheid. Weder dem Betreuer, noch den behan­deln­den Ärzten hatte sie davon erzählt.

Täglich hätte sie sich um ihre Mutter geküm­mert, bevor diese ins Kranken­haus einge­lie­fert wurde. Durch den Tod ihrer Mutter habe sie einen tiefgrei­fen­den Schock erlit­ten. Vor Gericht klagt sie deshalb gegen den Betreuer und beantragt unter anderem ein Schmer­zens­geld in Höhe von mindes­tens 10.000 Euro.

Betreuer sieht die Situa­tion anders

Der Betreuer schil­dert die Situa­tion vor Gericht ganz anders. In dem Gespräch am 24. Mai 2019 habe er – entge­gen der Aussage der Tochter – sehr wohl mit ihr über den Willen ihrer Mutter gespro­chen. Damals habe die Tochter noch zu ihm gesagt, dass ihre Mutter keines­falls von Maschi­nen künst­lich am Leben erhal­ten werden möchte.

Auch der behan­deln­den Ärztin seien keine anderen Angaben bekannt gewesen. Weil die Patien­ten nicht ansprech­bar und auch keine Verbes­se­rung ihrer Situa­tion zu erwar­ten war, haben sich Betreuer und Ärztin in Überein­stim­mung dazu entschie­den, die lebens­er­hal­ten­den Maßnah­men zu beenden.

Erst nachdem die Mutter bereits verstor­ben war, habe die Tochter plötz­lich eine andere Meinung vertre­ten und dies auch der Ärztin mitge­teilt, so der Betreuer.

Zudem wider­spricht er der Aussage der Tochter, sie hätte sich täglich um ihre Mutter geküm­mert. Das Verhält­nis der beiden sei sehr schlecht gewesen und vor der Einlie­fe­rung ins Kranken­haus hätte jahre­lang kein Kontakt zwischen ihnen bestan­den.

Ermitt­lung des mutmaß­li­chen Patien­ten­wil­lens erfolgte korrekt

Das Gericht hat die Klage als unbegrün­det zurück­ge­wie­sen. Der Beklagte hat sich bei der Ermitt­lung des mutmaß­li­chen Patien­ten­wil­lens nichts zu Schul­den kommen lassen.

Idealer­weise läuft die Ermitt­lung des mutmaß­li­chen Willens eines Patien­ten wie folgt ab. Wenn keine Patien­ten­ver­fü­gung – wie im vorlie­gen­den Fall – besteht (oder diese nicht mehr aktuell ist) muss der Betreuer konkrete Anhalts­punkte für den Patien­ten­wil­len in Erfah­rung bringen, die sich vor allem aus frühe­ren mündli­chen und schrift­li­chen Äußerun­gen, ethischen oder religiö­sen Überzeu­gun­gen oder sonsti­gen persön­li­chen Wertvor­stel­lun­gen der Perso­nen ergeben. Gesetz­lich festge­schrie­ben ist dieses Vorge­hen durch § 1901a Abs. 2 S. 3 BGB (heute § 1827 BGB).

In diesem Zusam­men­hang sollte der Betreuer, falls möglich, auch Angehö­rige oder andere Vertrau­ens­per­so­nen befra­gen, die etwas über den Patien­ten­wil­len wissen könnten (§ 1901b Abs. 2 BGB, heute § 1828 BGB). Sollte auf diesem Weg kein mutmaß­li­cher Patien­ten­wille ermit­telt werden können, hat immer das Leben des Patien­ten Vorrang. Im Zweifel müssen also die lebens­er­hal­ten­den Maßnah­men fortge­führt werden.

Hat die Tochter gelogen?

Nach Auffas­sung des Gerichts sei der Beklagte diesem Vorge­hen gefolgt. Er konnte überzeu­gend darstel­len, dass das Gespräch zwischen ihm und der Tochter am 24. Mai 2019 so statt­ge­fun­den hat, wie er angab. Seine Äußerun­gen würden sich mit dem Inhalt der Betreu­ungs­akte decken.

Demnach habe die Tochter der Patien­tin ihm erklärt, dass schon ihr Vater vor seinem Tod nicht an Maschi­nen angeschlos­sen werden wollte. In diesem Zug hat auch die Mutter gesagt, dass sie das ebenfalls nicht möchte. Weiter habe die Tochter erzählt, dass die Familie gläubig sei und dass durch lebens­er­hal­tende Maßnah­men in den göttlich gegebe­nen Ablauf einge­grif­fen werden würde. Gleiches erzählte sie wohl auch der behan­deln­den Ärztin.

Die Angaben der Tochter hinge­gen seien nicht glaub­haft. Sie behaup­tete vor Gericht, dass der Betreuer in dem Gespräch ledig­lich fragte, welchen Beruf sie und ihre Eltern haben. Weitere Fragen habe er nicht gestellt.

Außer­dem behaup­tet sie, sie hätte dem Betreuer in dem Gespräch von der Patien­ten­ver­fü­gung ihrer Mutter erzählt. Auch das sei nicht glaub­haft, da weder der Betreuer von der Verfü­gung wusste, noch die behan­delnde Ärztin oder das Betreu­ungs­ge­richt. Auch konnte sie vor Gericht nicht wieder­ge­ben, was der Inhalt der Patien­ten­ver­fü­gung sein soll.

Kein Anspruch auf Hinter­blie­be­nen­geld

Das Gericht weist zudem darauf hin, dass das Betreu­ungs­ge­richt nicht zusätz­lich in die Beendi­gung der lebens­er­hal­ten­den Maßnah­men einwil­li­gen musste. Das wäre nur nötig gewesen, wenn sich Betreuer und Ärztin uneins gewesen wären.

Dass die Tochter gegen­über der Klinik­lei­tung erklärt habe, dass sie mit der Beendi­gung der Beatmung ihrer Mutter nicht einver­stan­den ist, sei hierbei unerheb­lich. Nicht ihr Wille zähle, sondern der Wille ihrer Mutter.

Die Tochter hat somit keinen Anspruch auf eine Hinter­blie­be­nen­ent­schä­di­gung gemäß § 844 Abs. 3 BGB.

FAQ

Was ist der Patien­ten­wille?

Der Patien­ten­wille beschreibt die Entschei­dun­gen, die ein Patient über medizi­ni­sche Maßnah­men treffen würde, wenn er dazu in der Lage wäre. Er kann durch eine Patien­ten­ver­fü­gung schrift­lich festge­legt oder mündlich geäußert werden. Im Falle von Entschei­dungs­un­fä­hig­keit des Patien­ten ist dieser Wille richtungs­wei­send für Ärzte und Betreuer und dient der Wahrung der Selbst­be­stim­mung.

Wie wird der mutmaß­li­che Patien­ten­wille bestimmt?

Wenn keine aktuelle Patien­ten­ver­fü­gung vorliegt, wird der mutmaß­li­che Patien­ten­wille gemäß § 1827 BGB durch die Auswer­tung frühe­rer Äußerun­gen, religiö­ser und ethischer Überzeu­gun­gen sowie persön­li­cher Wertvor­stel­lun­gen ermit­telt. Der Betreuer hat hierzu Angehö­rige oder andere Vertrau­ens­per­so­nen zu befra­gen (§ 1828 BGB). Ziel ist es, die Entschei­dun­gen des Patien­ten so gut wie möglich nachzu­voll­zie­hen, wobei das Leben des Patien­ten im Zweifels­fall Vorrang hat.

Was droht Verant­wort­li­chen, wenn der mutmaß­li­che Patien­ten­wille falsch bestimmt wird?

Wird der mutmaß­li­che Patien­ten­wille falsch ermit­telt und führt dies zu medizi­ni­schen Entschei­dun­gen gegen den tatsäch­li­chen Willen des Patien­ten, können recht­li­che Konse­quen­zen wie Schadens­er­satz- oder Schmer­zens­geld­for­de­run­gen drohen. Ärzte und Betreuer könnten für eine falsche Entschei­dungs­fin­dung haftbar gemacht werden.

Quelle: BGH vom 21.3.2024 – 3 StR 163/23