
Ein Problem mit tragischen Folgen
Die jüngsten Gewalttaten, darunter die Fälle in München, Aschaffenburg, Magdeburg, Solingen und Mannheim haben erneut die Debatte um Migration und Gewaltkriminalität entfacht. Oft werden psychische Erkrankungen im Allgemeinen, kulturelle Prägungen oder soziale Umstände als ursächlich thematisiert.
Die spezifische Bedeutung von psychotischen Erkrankungen, die mit Wahnvorstellungen einhergehen, ist dabei unterbelichtet. Doch gerade diese können zu schwerwiegenden Gewalttaten führen, wenn nicht ausreichend interveniert wird. Aktuell scheint es einen Nachahmeeffekt zu geben; die Ausgestaltung wahnhafter Inhalte orientiert sich auch an zeitgeistigen Diskursen und dem Geschehen in der Welt.
Warum das psychiatrische Versorgungssystem bei der Prävention versagt
Die psychotische Störung und ihr Gefährdungspotenzial, das nur bei einer Minderheit der an Psychosen erkrankten Menschen besteht, wird häufig nicht rechtzeitig – idealerweise beim Erstkontakt mit der Psychiatrie – diagnostiziert oder zu kurzzeitig behandelt.
Erstens werden zur Aufnahme führende Verhaltensentgleisungen fälschlich einem Drogenkonsum oder einer Persönlichkeitsstörung zugeschrieben und diagnosesichernde Details übersehen.
Zweitens werden Betroffene, nachdem sie von der Polizei in die zuständige Klinik gebracht wurden, nach kurzer Zeit entlassen, weil ihre Gefährlichkeit „nicht akut“ erscheint. Dabei wird verkannt, dass die Gefährdung durch wahnhaft Erkrankte nicht immer unmittelbar besteht, gleichwohl sie sich aufgrund der wahnhaften Symptomatik erwartbar jederzeit verwirklichen kann.
Gerichte und Gesetze schützen nur unzureichend
Die richterlichen Entscheidungen zur zwangsweisen Unterbringung nach den Landesgesetzen (PsychKG) in der psychiatrischen Versorgungsklinik erfolgen hochschwellig, was verständlich, aber in der gegenwärtigen Praxis nicht zielführend im Sinne der Gefahrenabwehr ist. So werden Patienten entlassen, obwohl sie wenige Tage zuvor ein Gefährdungspotenzial gezeigt haben.
Die Gerichte neigen dazu, die Formulierungen der Landesgesetze zur „gegenwärtigen Gefahr“ sehr kurzfristig als „akute Gefährdung“ und ausgehend von einem unmittelbaren intuitiven Eindruck auszulegen, der von den medizinisch-psychiatrischen Grundlagen der Erkrankung losgelöst ist. So wird der Patient, der sich auf der Station beruhigt hat, entlassen, ohne dass die erwartbare rasche Reaktualisierung der symptomatischen Verhaltensentgleisung Berücksichtigung findet.
Das führt zur „Drehtür-Psychiatrie“, in der psychosekranke Menschen mehrfach kurzzeitig untergebracht und wieder entlassen werden – bis eine Gewalttat geschieht und die einstweilige Unterbringung nach Strafprozessordnung in einer Einrichtung des Maßregelvollzug unvermeidbar wird. Ohne grundlegende Besserung der Krankheitssymptome idealerweise bis zur Remission, wofür aus medizinischer Sicht mehrere Wochen bis Monate erforderlich sind, kann es keine Entaktualisierung der Gefährlichkeit geben.
Die Lösung: Gesetzliche Anpassungen für eine bessere Gefahrenabwehr
Um dieses Problem zu lösen, müssen die Gesetze angepasst werden. Konkret bedeutet das:
- Erweiterung des Gefährdungsbegriffs: bei der Verwendung der Begrifflichkeit „gegenwärtige Gefahr“ muss klargestellt werden, dass eine Minderung derselben nicht angenommen werden kann, wenn die Symptomatik der Erkrankung nicht wesentlich gebessert ist und nicht nur (zum Beispiel durch Beruhigungsmittel oder den Halt gebenden stationären Rahmen) kaschiert ist. Selbst die Formulierung des Berliner PsychKG, „unvorhersehbar, aber wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls jederzeit zu erwarten“ führt in der gelebten Praxis der Rechtsprechung zu einer Verkürzung auf die Begrifflichkeit der „akuten Gefahr“. So wird es dem Zufall überlassen, ob der Betroffene rechtzeitig – bevor jemand zu Schaden kommt – erneut der Psychiatrie zugeführt wird.
- Verlängerte Behandlungsdauer und Behandlungsmöglichkeit: Eine stationäre Behandlung sollte nicht nur so lange erfolgen, bis die „akute“ Gefahr gebannt scheint, sondern bis die Krankheit ausreichend behandelt wurde. Ein Element von Nachhaltigkeit muss bei der Entscheidung über die Unterbringungsdauer implementierbar sein, um Drehtürpsychiatrie zu verhindern.
- Befugnisse der Polizei: Polizeibehörden sollten immer die Möglichkeit haben, psychisch auffällige Personen einer psychiatrischen Untersuchung zuzuführen und könnten das Recht erhalten, mit ärztlichem Attest nicht nur die behördliche Unterbringung anzuordnen, sondern auch den Antrag auf einstweilige Unterbringung selbst zu stellen. Oft kommen die polizeilich vorliegenden Informationen nicht zeitnah bei jenen an, die die Beurteilung des Unterbringungserfordernisses vornehmen. Generell wäre zu überlegen, ob, unter Berücksichtigung der Bundespolizei, ein Bundesgesetz sinnvoller wäre, analog der fürsorgerischen Behandlung nach BGB.
- Bessere Diagnostik und Schulungen: Psychiatrische Einrichtungen mit hoheitlichen Befugnissen benötigen, entgegen dem vermutlichen Selbstverständnis, gezielte Schulungen für die differentialdiagnostische Erkennung und forensisch-prognostische Einordnung von Psychosen und deren Gefährdungspotenzial, auch im Kontext von Multimorbidität wie zum Beispiel Drogenkonsum.
Fazit: Verhinderbare Gewalt verhindern
Die gegenwärtige Gesetzgebung und die arbeitskulturell etablierte sozialpsychiatrische Praxis von Kliniken, Ordnungsbehörden und Betreuungsgerichten setzen sowohl die Betroffenen als auch die Gesellschaft unnötig Gefahren aus. Fast scheint es, als sei die ausreichend lange Behandlung psychotischer Erkrankungen nur noch im Maßregelvollzug möglich. Gewalttaten könnten verhindert werden, wenn die benannte spezifische Subgruppe psychotisch erkrankter Menschen rechtzeitig und ausreichend behandelt und ihr Gefährdungspotenzial korrekt eingeschätzt würde.
Eine Anpassung der Gesetze und die die adäquate Behandlung im primären psychiatrischen Versorgungssystem würde manche Einweisung in den Maßregelvollzug entbehrlich machen, was bedeutet, weniger Menschen werden Opfer einer Körperverletzung, einer permanenten Bedrohung oder eines Tötungsdeliktes. Dies würde das Vertrauen in das psychiatrische Versorgungssystem und die Justiz stärken.
Das steht einer offenen, patientenorientierten Psychiatrie nicht entgegen. Auch in der Unterbringung sind Ausgänge und Beurlaubungen möglich. Wichtig ist die Sicherung der Behandlung, medikamentös und (psycho-)therapeutisch. Die Fehlentwicklung bei der Gefahrenabwehr und der Verzicht auf Nachhaltigkeit bei einer Behandlung in der angeordneten Klinikunterbringung muss jedoch korrigiert werden, was aus fürsorgerischer Perspektive auch im Interesse der Patienten liegt, die sicher nicht im Zustand von Krankheit schuldunfähig eine Gewalttat begehen wollen.
Zur Person: Dr. med. Ralph Susenbeth ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt forensische Psychiatrie sowie Coach und Supervisor (DGSv). Er kennt das psychiatrische Versorgungssystem aus 25 Jahren Tätigkeit in stationären, ambulanten und behördlichen Einrichtungen und als psychiatrischer Sachverständiger.