Gefährdungspotenzial bei Psychosen
Gewalt­ver­bre­chen in Verbin­dung mit Psycho­sen werden aktuell hitzig disku­tiert – mitun­ter geht der Diskurs am Kern des Problems vorbei. Bild: © Katerina Sk�lov� | Dreamstime.com

Ein Problem mit tragi­schen Folgen

Die jüngs­ten Gewalt­ta­ten, darun­ter die Fälle in München, Aschaf­fen­burg, Magde­burg, Solin­gen und Mannheim haben erneut die Debatte um Migra­tion und Gewalt­kri­mi­na­li­tät entfacht. Oft werden psychi­sche Erkran­kun­gen im Allge­mei­nen, kultu­relle Prägun­gen oder soziale Umstände als ursäch­lich thema­ti­siert.

Die spezi­fi­sche Bedeu­tung von psycho­ti­schen Erkran­kun­gen, die mit Wahnvor­stel­lun­gen einher­ge­hen, ist dabei unter­be­lich­tet. Doch gerade diese können zu schwer­wie­gen­den Gewalt­ta­ten führen, wenn nicht ausrei­chend inter­ve­niert wird. Aktuell scheint es einen Nachah­me­ef­fekt zu geben; die Ausge­stal­tung wahnhaf­ter Inhalte orien­tiert sich auch an zeitgeis­ti­gen Diskur­sen und dem Gesche­hen in der Welt.

Warum das psych­ia­tri­sche Versor­gungs­sys­tem bei der Präven­tion versagt

Die psycho­ti­sche Störung und ihr Gefähr­dungs­po­ten­zial, das nur bei einer Minder­heit der an Psycho­sen erkrank­ten Menschen besteht, wird häufig nicht recht­zei­tig – idealer­weise beim Erstkon­takt mit der Psych­ia­trie – diagnos­ti­ziert oder zu kurzzei­tig behan­delt.

Erstens werden zur Aufnahme führende Verhal­tens­ent­glei­sun­gen fälsch­lich einem Drogen­kon­sum oder einer Persön­lich­keits­stö­rung zugeschrie­ben und diagno­se­si­chernde Details überse­hen.

Zweitens werden Betrof­fene, nachdem sie von der Polizei in die zustän­dige Klinik gebracht wurden, nach kurzer Zeit entlas­sen, weil ihre Gefähr­lich­keit „nicht akut“ erscheint. Dabei wird verkannt, dass die Gefähr­dung durch wahnhaft Erkrankte nicht immer unmit­tel­bar besteht, gleich­wohl sie sich aufgrund der wahnhaf­ten Sympto­ma­tik erwart­bar jeder­zeit verwirk­li­chen kann.

Gerichte und Gesetze schüt­zen nur unzurei­chend

Die richter­li­chen Entschei­dun­gen zur zwangs­wei­sen Unter­brin­gung nach den Landes­ge­set­zen (PsychKG) in der psych­ia­tri­schen Versor­gungs­kli­nik erfol­gen hochschwel­lig, was verständ­lich, aber in der gegen­wär­ti­gen Praxis nicht zielfüh­rend im Sinne der Gefah­ren­ab­wehr ist. So werden Patien­ten entlas­sen, obwohl sie wenige Tage zuvor ein Gefähr­dungs­po­ten­zial gezeigt haben.

Die Gerichte neigen dazu, die Formu­lie­run­gen der Landes­ge­setze zur „gegen­wär­ti­gen Gefahr“ sehr kurzfris­tig als „akute Gefähr­dung“ und ausge­hend von einem unmit­tel­ba­ren intui­ti­ven Eindruck auszu­le­gen, der von den medizi­nisch-psych­ia­tri­schen Grund­la­gen der Erkran­kung losge­löst ist. So wird der Patient, der sich auf der Station beruhigt hat, entlas­sen, ohne dass die erwart­bare rasche Reaktua­li­sie­rung der sympto­ma­ti­schen Verhal­tens­ent­glei­sung Berück­sich­ti­gung findet.

Das führt zur „Drehtür-Psych­ia­trie“, in der psycho­sekranke Menschen mehrfach kurzzei­tig unter­ge­bracht und wieder entlas­sen werden – bis eine Gewalt­tat geschieht und die einst­wei­lige Unter­brin­gung nach Straf­pro­zess­ord­nung in einer Einrich­tung des Maßre­gel­voll­zug unver­meid­bar wird. Ohne grund­le­gende Besse­rung der Krank­heits­sym­ptome idealer­weise bis zur Remis­sion, wofür aus medizi­ni­scher Sicht mehrere Wochen bis Monate erfor­der­lich sind, kann es keine Entak­tua­li­sie­rung der Gefähr­lich­keit geben.

Die Lösung: Gesetz­li­che Anpas­sun­gen für eine bessere Gefah­ren­ab­wehr

Um dieses Problem zu lösen, müssen die Gesetze angepasst werden. Konkret bedeu­tet das:

  • Erwei­te­rung des Gefähr­dungs­be­griffs: bei der Verwen­dung der Begriff­lich­keit „gegen­wär­tige Gefahr“ muss klarge­stellt werden, dass eine Minde­rung dersel­ben nicht angenom­men werden kann, wenn die Sympto­ma­tik der Erkran­kung nicht wesent­lich gebes­sert ist und nicht nur (zum Beispiel durch Beruhi­gungs­mit­tel oder den Halt geben­den statio­nä­ren Rahmen) kaschiert ist. Selbst die Formu­lie­rung des Berli­ner PsychKG, „unvor­her­seh­bar, aber wegen der beson­de­ren Umstände des Einzel­falls jeder­zeit zu erwar­ten“ führt in der geleb­ten Praxis der Recht­spre­chung zu einer Verkür­zung auf die Begriff­lich­keit der „akuten Gefahr“. So wird es dem Zufall überlas­sen, ob der Betrof­fene recht­zei­tig – bevor jemand zu Schaden kommt – erneut der Psych­ia­trie zugeführt wird.
  • Verlän­gerte Behand­lungs­dauer und Behand­lungs­mög­lich­keit: Eine statio­näre Behand­lung sollte nicht nur so lange erfol­gen, bis die „akute“ Gefahr gebannt scheint, sondern bis die Krank­heit ausrei­chend behan­delt wurde. Ein Element von Nachhal­tig­keit muss bei der Entschei­dung über die Unter­brin­gungs­dauer imple­men­tier­bar sein, um Drehtür­psych­ia­trie zu verhin­dern.
  • Befug­nisse der Polizei: Polizei­be­hör­den sollten immer die Möglich­keit haben, psychisch auffäl­lige Perso­nen einer psych­ia­tri­schen Unter­su­chung zuzufüh­ren und könnten das Recht erhal­ten, mit ärztli­chem Attest nicht nur die behörd­li­che Unter­brin­gung anzuord­nen, sondern auch den Antrag auf einst­wei­lige Unter­brin­gung selbst zu stellen. Oft kommen die polizei­lich vorlie­gen­den Infor­ma­tio­nen nicht zeitnah bei jenen an, die die Beurtei­lung des Unter­brin­gungs­er­for­der­nis­ses vorneh­men. Generell wäre zu überle­gen, ob, unter Berück­sich­ti­gung der Bundes­po­li­zei, ein Bundes­ge­setz sinnvol­ler wäre, analog der fürsor­ge­ri­schen Behand­lung nach BGB.
  • Bessere Diagnos­tik und Schulun­gen: Psych­ia­tri­sche Einrich­tun­gen mit hoheit­li­chen Befug­nis­sen benöti­gen, entge­gen dem vermut­li­chen Selbst­ver­ständ­nis, gezielte Schulun­gen für die diffe­ren­ti­al­dia­gnos­ti­sche Erken­nung und foren­sisch-prognos­ti­sche Einord­nung von Psycho­sen und deren Gefähr­dungs­po­ten­zial, auch im Kontext von Multi­mor­bi­di­tät wie zum Beispiel Drogen­kon­sum.

Fazit: Verhin­der­bare Gewalt verhin­dern

Die gegen­wär­tige Gesetz­ge­bung und die arbeits­kul­tu­rell etablierte sozial­psych­ia­tri­sche Praxis von Klini­ken, Ordnungs­be­hör­den und Betreu­ungs­ge­rich­ten setzen sowohl die Betrof­fe­nen als auch die Gesell­schaft unnötig Gefah­ren aus. Fast scheint es, als sei die ausrei­chend lange Behand­lung psycho­ti­scher Erkran­kun­gen nur noch im Maßre­gel­voll­zug möglich. Gewalt­ta­ten könnten verhin­dert werden, wenn die benannte spezi­fi­sche Subgruppe psycho­tisch erkrank­ter Menschen recht­zei­tig und ausrei­chend behan­delt und ihr Gefähr­dungs­po­ten­zial korrekt einge­schätzt würde.

Eine Anpas­sung der Gesetze und die die adäquate Behand­lung im primä­ren psych­ia­tri­schen Versor­gungs­sys­tem würde manche Einwei­sung in den Maßre­gel­voll­zug entbehr­lich machen, was bedeu­tet, weniger Menschen werden Opfer einer Körper­ver­let­zung, einer perma­nen­ten Bedro­hung oder eines Tötungs­de­lik­tes. Dies würde das Vertrauen in das psych­ia­tri­sche Versor­gungs­sys­tem und die Justiz stärken.

Das steht einer offenen, patien­ten­ori­en­tier­ten Psych­ia­trie nicht entge­gen. Auch in der Unter­brin­gung sind Ausgänge und Beurlau­bun­gen möglich. Wichtig ist die Siche­rung der Behand­lung, medika­men­tös und (psycho-)therapeutisch. Die Fehlent­wick­lung bei der Gefah­ren­ab­wehr und der Verzicht auf Nachhal­tig­keit bei einer Behand­lung in der angeord­ne­ten Klinik­un­ter­brin­gung muss jedoch korri­giert werden, was aus fürsor­ge­ri­scher Perspek­tive auch im Inter­esse der Patien­ten liegt, die sicher nicht im Zustand von Krank­heit schuld­un­fä­hig eine Gewalt­tat begehen wollen.

Zur Person: Dr. med. Ralph Susen­beth ist Facharzt für Psych­ia­trie und Psycho­the­ra­pie mit dem Schwer­punkt foren­si­sche Psych­ia­trie sowie Coach und Super­vi­sor (DGSv). Er kennt das psych­ia­tri­sche Versor­gungs­sys­tem aus 25 Jahren Tätig­keit in statio­nä­ren, ambulan­ten und behörd­li­chen Einrich­tun­gen und als psych­ia­tri­scher Sachver­stän­di­ger.