Angststörungen, Alkoholabhängigkeit und Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland, wie aus dem AOK-Fehlzeitenreport 2020 hervorgeht. Demnach waren 2019 psychische Erkrankungen die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit, noch vor Atemwegsproblemen. Die Krankheitstage aus diesem Grund nahmen seit 2008 um 67,5 Prozent zu. Mit 27 Tagen liegt die durchschnittliche Krankschreibungsdauer mehr als doppelt so hoch wie bei körperlichen Erkrankungen. Jede fünfte Rehabilitation ist inzwischen darauf zurückzuführen. Für 17 Prozent ist dies die berufliche Endstation, sie rutschen nach zwei Jahren in die Erwerbsminderungsrente. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung machen psychische Erkrankungen 42,7 Prozent aller Anträge auf Erwerbsminderung aus, bei Frauen liegt der Anteil sogar bei 48 Prozent.
Psychische Probleme durch Corona
Eine vorläufige Teilauswertung der 200.000 Probanden der nako-Gesundheitsstudie zeigt zudem eine Zunahme von Angst‑, Stress- und Depressionssymptomen in der ersten Phase der Coronapandemie. Vor allem junge Frauen seien davon betroffen. Insgesamt erwies sich die Altersgruppe von 20 bis 40 Jahren als besonders anfällig, während bei Senioren (ab 60 Jahre) kaum eine psychische Verschlechterung feststellbar war, erklärte nako-Geschäftsführer Klaus Berger der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Eine Korrelation der Symptome sieht die auf 20–30 Jahre angelegte Langzeitstudie mit Regionen, die stärker von Corona heimgesucht wurden. Seit 2014 untersucht das Netzwerk deutscher Forschungseinrichtungen, bestehend aus der Helmholtz-Gemeinschaft, den Universitäten und der Leibniz-Gemeinschaft, die Ursachen für die Entstehung von Volkskrankheiten: „Warum wird der eine krank, der andere aber bleibt gesund? Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle? Ist es die Umwelt, das soziale Umfeld oder die Situation am Arbeitsplatz?“
Haltung der Bundesbürger im Wandel
Beim Umgang mit dem Thema zeigen sich die Deutschen übrigens zwiegespalten. Zwar halten 84 Prozent die geistige Gesundheit für ebenso wichtig wie die körperliche, aber nur 56 Prozent halten entsprechende Leiden für „eine Krankheit wie jede andere“, ergab eine internationale Befragung des Meinungsforschungsinstituts Ipsos. Demnach denken nur 45 Prozent der Bundesbürger über ihr geistiges Wohlbefinden nach. Nur in vier der 29 untersuchten Länder lag dieser Wert niedriger, mit 25 Prozent bildet Russland das Schlusslicht. Die Studie zeigt aber auch einen deutlichen Veränderungswunsch: 61 Prozent finden, dass die Gesellschaft deutlich toleranter gegenüber psychisch Kranken werden müsse.
Zum Welttag der psychischen Gesundheit Anfang Oktober wollte auch YouGov wissen, wie die Deutschen mit ihrer Psyche umgehen und befragte dazu über 4.000 Menschen. Zwei Drittel waren dabei der Ansicht, „dass seelischen bzw. psychischen Erkrankungen in unserer Gesellschaft nicht mit ausreichendem Respekt begegnet wird“. Bei Frauen lag der Wert noch höher. Hierbei zeigte sich auch eine unterschiedliche Einschätzung abhängig von der Einkommenshöhe. So fanden nur 19 Prozent der Geringverdiener (bis 1.500 Euro netto), dass das Problem mit dem nötigen Ernst angegangen werde. Einen offeneren Umgang mit dem Thema wünschen sich 65 Prozent, zum Beispiel indem Prominente auf Social-Media-Kanälen offen über ihre entsprechenden Probleme schreiben. Bei Jüngeren wünschen sich das sogar 72 Prozent.
Kosten psychischer Erkrankungen
Die Zahl der durch psychische Störungen verursachten Krankheitstage hat sich von 1978 bis 2018 verfünffacht. Das geht aus dem letzten Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen hervor. Die Folgen für Unternehmen und Volkswirtschaft sind enorm: Allein die dadurch verursachten Krankheitskosten betragen 44,4 Milliarden Euro pro Jahr. Hinzu kamen 2016 laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) Produktionsausfallkosten von 12,2 Milliarden Euro. Der Ausfall an Bruttowertschöpfung durch Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen beträgt laut BAuA mittlerweile 21,5 Milliarden Euro jährlich und damit 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens.
Zahlen die auch in der Politik die Alarmglocken läuten lassen. Die Bundesregierung hat deshalb eine Offensive für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz angekündigt. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will das Thema zusammen mit seinen Amtskollegen im Gesundheits- und Familienministerium anpacken. „Arbeit darf nicht krankmachen. Gerade weil Menschen an ihrem Arbeitsplatz sehr viel Zeit verbringen, muss hier besser auf ihre Gesundheit geachtet werden. Viele Menschen erleben dabei den schmalen Grat zwischen Belastung und Überlastung“, so Heil. Man wolle Arbeitgeber dabei unterstützen, die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu stärken. Das liege auch im wirtschaftlichen Interesse der Arbeitgeber, denn psychische Erkrankungen seien mit hohen Ausfallzeiten verbunden.
Psychische Unterstützungsangebote bekannter machen
Mit der Offensive wolle sie „eine gesellschaftliche Debatte anstoßen und dazu beitragen, dass offener über psychische Belastungen gesprochen“ werde, erklärte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey. Ziel sei es, die Vielzahl von Beratungsangeboten bekannter zu machen. Zum Beispiel die „Nummer gegen Kummer“ für Eltern, Kinder und Jugendliche oder die „Pausentaste“ für junge Menschen, die zu Hause Angehörige pflegen. Das Bundesfamilienministerium fördere zudem Baumaßnahmen in den Kurkliniken des Müttergenesungswerks, Programme gegen Einsamkeit im Alter und nehme Kinder in den Fokus, deren Eltern psychisch erkrankt sind. „Ihr seid nicht allein“, betont die Ministerin.
Eine solche ressortübergreifende Initiative sei bisher einmalig, lobt man sich auf der Regierungswebsite selbst. Mit im Boot sind dabei neben den Krankenkassen auch die Deutsche Rentenversicherung sowie Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungsträger. Ebenso beteiligen sich die Bundesagentur für Arbeit, berufsständische Verbände von Psychologen und Psychotherapeuten, Bündnisse und Betroffeneneinrichtungen sowie weitere Multiplikatoren aus dem Gesundheitswesen.
Dass Arbeit übrigens nicht nur eine Belastung darstellt, betonen die Betriebskrankenkassen in ihren Handlungshilfen „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“. Im Gegenteil könne diese die psychische Gesundheit sogar stärken. Faktoren wie Entscheidungsspielraum, mitarbeiterorientierte Führung, Kollegialität sowie Möglichkeiten zur Weiterentwicklung würden sich nachweisbar positiv auswirken. Zudem seien Beschäftigte mit hohem psychischen Wohlbefinden auch am stärksten engagiert bei der Arbeit.
Quelle: YouGov, Ipsos, AOK, DRV, BKK