Herr Eggert, Ihre Studie, über die die Rechtsdepesche letzte Woche bereits berichtet hat, zeichnet ein sich verschlechterndes Bild der häuslichen Pflege in Deutschland durch die COVID-19-Situation. Werden die von Ihnen gemessenen Überforderungsgefühle nach der Pandemie wieder komplett zurückgehen?
Unsere Gemeinschaftsstudie von ZQP und Charité zeigt, dass viele pflegende Angehörige in der Tat zusätzliche Belastungen und teilweise eine Verschlechterung der Pflegesituation im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erleben bzw. erlebt haben. Bei uns in der Stiftung sind auch sehr emotionale Anrufe und E‑Mails eingegangen, in denen Pflegende umfassend geschildert haben, wie schwierig ihre Lebenssituation in Corona-Zeiten geworden war. Wann ein Status quo ante wieder erreicht wird, ist heute nicht seriös zu beantworten. Aber starke psychische Belastungen können gerade schon vorbelastete Personen beeinträchtigen und eventuell Langzeitfolgen haben.
Gibt es Ergebnisse, die Sie (persönlich) überrascht haben?
Also ehrlich gesagt, Prozentangaben habe ich vorher nicht geraten. Aber wir hatten natürlich erwartet, dass in vielen Bereichen Probleme sichtbar würden. Das ist so eingetreten. Ich denke, besonders deutlich macht die Studie unter anderem, wie relevant die COVID-19-bezogenen Herausforderungen für Angehörige sind, die sich um einen Menschen mit Demenz kümmern. Das ist schon eindrücklich – heißt aber selbstverständlich nicht, dass nur solche Konstellationen herausfordernd wären.
Ein Drittel der Befragten spricht von einer sich durch Corona verschlechternden Pflegesituation. Gleichzeitig geben über drei Viertel an, ihre Lage sei insgesamt eher gut oder sehr gut. Ist das ein Effekt von sozial erwünschtem Antwortverhalten oder wie erklären Sie sich diesen scheinbaren Widerspruch?
Ich stimme Ihnen zu: Es ist kein Widerspruch. Eine Lage kann sich verschlechtern, aber trotzdem noch „eher gut“ sein. Aber es ist wichtig zu betonen, dass jede Untersuchungsmethodik Grenzen hat. Wir haben entsprechend auch die Limitationen unseres Studiendesigns dargestellt. Tatsächlich kann unter anderem sozial erwünschtes Antwortverhalten bei dieser Art Studien eine Rolle spielen. Wir messen hier insgesamt – im übertragenen Sinne – nicht auf den Millimeter genau. Und es gilt jetzt in der ja noch bestehenden Pandemie-Situation erst Recht, dass ein wissenschaftliches Bild meist genauer wird, wenn mehrere gute Studien vorliegen. Wir betrachten unsere Studie als einen ersten, aber soliden Einblick in das, was zum Befragungszeitpunkt war.
Ärger, Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung nehmen bei den pflegenden Angehörigen stark zu. Kann und wird das auch in zunehmender häuslicher Gewalt münden?
Die Frage ist sehr berechtigt. Die Antwort muss differenziert ausfallen. Die genannten Gefühle können – je nach individueller Konstellation – zu einer Eskalation einer Pflegesituation beitragen. Es handelt sich aber keinesfalls um einen Gewaltautomatismus. Wer sich hilflos fühlt oder wütend ist, wendet deswegen noch lange keine Gewalt an. Insofern werden vielleicht zukünftige Studien dieses schwer zu untersuchende Feld etwas weiter ausleuchten. Aus meiner Sicht müssen wir in der aktuellen Pandemiesituation wegen einer partiellen Verstärkung von Risikofaktoren insgesamt leider mit einer Zunahme von Gewalttätigkeit in der Pflege rechnen.
Was kann und sollte man denn konkret tun, um diese emotionale Talfahrt mit Eskalationspotenzial für pflegende Angehörige zu stoppen?
Es gibt einige Ratschläge, die man versuchen kann umzusetzen. Wir haben entsprechende Tipps auf unserem ZQP-Portal www.pflege-praevention.de kostenlos aufbereitet. Übergeordnet würde ich sagen: Es ist wichtig, sich mit anderen Menschen über Belastungen und Sorgen auszutauschen, miteinander in regem Kontakt zu sein. Ob nun über das Telefon, das Internet oder per Brief. Man kann auch Hilfsangebote nutzen, bei denen man seine Sorgen und Probleme teilen kann. Zum Beispiel die Telefonseelsorge, das Angebot „Silbernetz“ oder auch die psychologische Online-Beratung „pflegen und leben“.
In Teil 2 des Interviews sprechen wir über Demenzpatienten, die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf und welche Empfehlungen man aus der Studie ableiten kann …