Reichsgericht
Das Reichs­ge­richt sorgte 1894 mit einem Urteil für Unmut bei Medizi­nern. Bild: © Benkrut | Dreamstime.com

Reichs­ge­richt: Ein Fall aus Kaisers Zeit

Körper­ver­let­zung einer Minder­jäh­ri­gen: Ein damals sieben­jäh­ri­ges Mädchen mit tuber­ku­lö­ser Verei­te­rung am Fußwur­zel­kno­chen wurde in ein Kranken­haus einge­wie­sen. Der das Kind bis dahin behan­delnde Arzt hatte „eine Opera­tion für notwen­dig“ gehal­ten.

Der Oberarzt der chirur­gi­schen Abtei­lung des Kranken­hau­ses hatte versucht durch die Entfer­nung des Fußkno­chens dem Fortschrei­ten der Erkran­kung Einhalt zu gebie­ten – aller­dings ohne Erfolg. Es gab Sorge, dass eine Weiter­ver­brei­tung der tuber­ku­lö­sen Infek­tion das Kind schließ­lich umbrin­gen würde.

Aus diesem Grund wurde in einem weite­ren Schritt die vollstän­dige Amputa­tion des Fußes in Erwägung gezogen. Schon vor dem ersten Eingriff hatten Verhand­lun­gen zwischen dem Vater und dem Oberarzt über den opera­ti­ven Eingriff begon­nen.

Der Vater war Anhän­ger der Natur­heil­kunde und grund­sätz­li­cher Gegner der Chirur­gie. In einem ersten Gespräch sagte der Vater dem Oberarzt persön­lich, dass er nicht wolle, dass seine Tochter zu einem „Krüppel“ werde. Er wider­spre­che jeder Opera­tion.

Der Oberarzt hatte das Gespräch aller­dings anders aufge­fasst. Vor Gericht sagte er aus, er hatte den Eindruck der Vater sei auf sein Zureden schließ­lich mit der Amputa­tion einver­stan­den gewesen.

Oberarzt setzt sich über Willen des Vaters hinweg

Einen Tag nach dem ersten Gespräch erschien der Vater erneut in der Klinik und teilte dienst­ha­ben­den Schwes­ter „klar und deutlich“ mit, dass er nicht wolle, dass seine Tochter operiert werde. Er erlaube die beabsich­tigte Opera­tion nicht. Das teilte die Schwes­ter dem Oberarzt mit. Später behaup­tet er, er könne sich nicht mehr an dieses Gespräch erinnern.

Unmit­tel­bar vor der Opera­tion meldete sich der Vater erneut im Kranken­haus und teilte einer Schwes­ter mit er wolle seine Tochter abholen. Die Schwes­ter übermit­telte das sofort dem Oberarzt. Dieser erwiderte: „Jetzt ist es zu spät, ich werde später mit dem Vater sprechen“. Die Tochter war zu diesem Zeitpunkt bereits im OP-Saal und narko­ti­siert.

Die Opera­tion zeigte schließ­lich Wirkung: Nach der Amputa­tion des Fußes sind keine Tuber­ku­lose-Erschei­nun­gen mehr aufge­tre­ten. Das hinderte den Vater des Mädchen nicht daran, gegen den Arzt gericht­lich vorzu­ge­hen.

Vater klagt gegen Oberarzt

Das Gericht hat den Arzt in erster Instanz freige­spro­chen. Die zugefügte Körper­ver­let­zung sei weder eine Gesund­heits­schä­di­gung noch eine Misshand­lung, weil die Gesund­heit der Patien­tin durch die Opera­tion nicht verschlech­tert, sondern verbes­sert worden sei. Deshalb sei es gleich­gül­tig, ob der Arzt mit oder gegen den Willen des Vaters handelte.

Außer­dem sei der Oberarzt davon ausge­gan­gen, den Vater im Nachhin­ein von der Opera­tion überzeu­gen zu können. Den Vater hatte er für unver­nünf­tig, dem Kind schäd­lich und nicht ernst­haft gehal­ten. Nach Auffas­sung der ersten Instanz fehle somit sowohl eine objek­tive als auch eine subjek­tive Rechts­wid­rig­keit.

Das Reichs­ge­richt hinge­gen sah in der Darstel­lung der ersten Instanz keinen Grund den Angeklag­ten freizu­spre­chen. Das Gericht stellte fest, dass die Vorin­stanz mit ihrem Urteil jedem Arzt gegen­über dem Patien­ten ein „Recht“ auf Körper­ver­let­zung und Misshand­lung einräume.

Nur weil ein Arzt glaubt das Richtige zu tun, darf er nicht einfach machen, was er will. So könne das erstin­stanz­li­che Urteil theore­tisch auch auf weitere Delikte ausge­brei­tet werden, so das Gericht: Was ist mit Freiheits­be­rau­bung für den guten Zweck? Oder mit Nötigung in guter Absicht?

Wegwei­sen­des Urteil des Reichs­ge­richts

Das Reichs­ge­richt entschied, dass der Arzt vor dem Heilein­griff – auch wenn dieser gerecht­fer­tigt und schul­me­di­zi­nisch indiziert ist – die Einwil­li­gung der Patien­tin bzw. des gesetz­li­chen Vertre­ters hätte einho­len müssen. Wenn er diese nicht habe, dürfe er auch den Eingriff nicht durch­füh­ren.

Seiner­zeit wurde das Urteil des Reichs­ge­richts als massi­ver Angriff auf die Autori­tät des Arztes gewer­tet. Rein recht­lich ist seitdem der operie­rende Arzt mit dem Messer­ste­cher gleich­ge­setzt – beides erfüllt den recht­li­chen Tatbe­stand der Körper­ver­let­zung. Nur die Einwil­li­gung kann die Verwirk­li­chung des Tatbe­stan­des recht­fer­ti­gend auflö­sen.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Bislang fehlt es an gesetz­li­chen Regelun­gen, die medizi­ni­schen Opera­tio­nen einen eigenen recht­li­chen Status abseits der Körper­ver­let­zung verlei­hen.

Rückbli­ckend legt das Urteil den Grund­stein zur Wahrung der Patien­ten­rechte, insbe­son­dere das Recht auf Selbst­be­stim­mung.

Es wurde klarge­stellt, dass die körper­li­che Unver­sehrt­heit eines Menschen nur dann durch einen medizi­ni­schen Heilein­griff beein­träch­tigt werden darf, wenn dieser Eingriff durch vorhe­rige, infor­mierte Zustim­mung des Patien­ten gedeckt ist.

FAQ

Um was geht es im Urteil des Reichs­ge­richts vom 31.05.1894?

Der Fall dreht sich um die Ampua­tion des Fußes eines sieben­jäh­ri­ges Mädchens. Trotz Wider­spruch des Vaters wurde die OP durch­ge­führt. Das Reichs­ge­richt entschied, dass die Einwil­li­gung des gesetz­li­chen Vertre­ters zwingend notwen­dig sei.

Warum war das Urteil so kontro­vers?

Das Urteil wurde kontro­vers disku­tiert, weil es als Angriff auf die Autori­tät der Ärzte verstan­den wurde. Recht­lich setzt das Urteil den Arzt mit Straf­tä­tern gleich, da seit dem Heilein­griffe, die in die körper­li­cher Unver­sehrt­heit der Patien­ten angreift, immer auch als Körper­ver­let­zung angese­hen wird.

Welche Bedeu­tung hat das Urteil heute noch?

Das Urteil hat en Grund­stein zur Wahrung der Patien­ten­rechte gesetzt. Seit dem bedarf es immer einer ausdrück­li­chen Einwil­li­gung des Patien­ten, der vorher ausführ­lich über en Eingriff aufge­klärt werden muss.

Quelle: Reichs­ge­richt vom 31.05.1894 – Rep. 1406/94