Reichsgericht: Ein Fall aus Kaisers Zeit
Körperverletzung einer Minderjährigen: Ein damals siebenjähriges Mädchen mit tuberkulöser Vereiterung am Fußwurzelknochen wurde in ein Krankenhaus eingewiesen. Der das Kind bis dahin behandelnde Arzt hatte „eine Operation für notwendig“ gehalten.
Der Oberarzt der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses hatte versucht durch die Entfernung des Fußknochens dem Fortschreiten der Erkrankung Einhalt zu gebieten – allerdings ohne Erfolg. Es gab Sorge, dass eine Weiterverbreitung der tuberkulösen Infektion das Kind schließlich umbringen würde.
Aus diesem Grund wurde in einem weiteren Schritt die vollständige Amputation des Fußes in Erwägung gezogen. Schon vor dem ersten Eingriff hatten Verhandlungen zwischen dem Vater und dem Oberarzt über den operativen Eingriff begonnen.
Der Vater war Anhänger der Naturheilkunde und grundsätzlicher Gegner der Chirurgie. In einem ersten Gespräch sagte der Vater dem Oberarzt persönlich, dass er nicht wolle, dass seine Tochter zu einem „Krüppel“ werde. Er widerspreche jeder Operation.
Der Oberarzt hatte das Gespräch allerdings anders aufgefasst. Vor Gericht sagte er aus, er hatte den Eindruck der Vater sei auf sein Zureden schließlich mit der Amputation einverstanden gewesen.
Oberarzt setzt sich über Willen des Vaters hinweg
Einen Tag nach dem ersten Gespräch erschien der Vater erneut in der Klinik und teilte diensthabenden Schwester „klar und deutlich“ mit, dass er nicht wolle, dass seine Tochter operiert werde. Er erlaube die beabsichtigte Operation nicht. Das teilte die Schwester dem Oberarzt mit. Später behauptet er, er könne sich nicht mehr an dieses Gespräch erinnern.
Unmittelbar vor der Operation meldete sich der Vater erneut im Krankenhaus und teilte einer Schwester mit er wolle seine Tochter abholen. Die Schwester übermittelte das sofort dem Oberarzt. Dieser erwiderte: „Jetzt ist es zu spät, ich werde später mit dem Vater sprechen“. Die Tochter war zu diesem Zeitpunkt bereits im OP-Saal und narkotisiert.
Die Operation zeigte schließlich Wirkung: Nach der Amputation des Fußes sind keine Tuberkulose-Erscheinungen mehr aufgetreten. Das hinderte den Vater des Mädchen nicht daran, gegen den Arzt gerichtlich vorzugehen.
Vater klagt gegen Oberarzt
Das Gericht hat den Arzt in erster Instanz freigesprochen. Die zugefügte Körperverletzung sei weder eine Gesundheitsschädigung noch eine Misshandlung, weil die Gesundheit der Patientin durch die Operation nicht verschlechtert, sondern verbessert worden sei. Deshalb sei es gleichgültig, ob der Arzt mit oder gegen den Willen des Vaters handelte.
Außerdem sei der Oberarzt davon ausgegangen, den Vater im Nachhinein von der Operation überzeugen zu können. Den Vater hatte er für unvernünftig, dem Kind schädlich und nicht ernsthaft gehalten. Nach Auffassung der ersten Instanz fehle somit sowohl eine objektive als auch eine subjektive Rechtswidrigkeit.
Das Reichsgericht hingegen sah in der Darstellung der ersten Instanz keinen Grund den Angeklagten freizusprechen. Das Gericht stellte fest, dass die Vorinstanz mit ihrem Urteil jedem Arzt gegenüber dem Patienten ein „Recht“ auf Körperverletzung und Misshandlung einräume.
Nur weil ein Arzt glaubt das Richtige zu tun, darf er nicht einfach machen, was er will. So könne das erstinstanzliche Urteil theoretisch auch auf weitere Delikte ausgebreitet werden, so das Gericht: Was ist mit Freiheitsberaubung für den guten Zweck? Oder mit Nötigung in guter Absicht?
Wegweisendes Urteil des Reichsgerichts
Das Reichsgericht entschied, dass der Arzt vor dem Heileingriff – auch wenn dieser gerechtfertigt und schulmedizinisch indiziert ist – die Einwilligung der Patientin bzw. des gesetzlichen Vertreters hätte einholen müssen. Wenn er diese nicht habe, dürfe er auch den Eingriff nicht durchführen.
Seinerzeit wurde das Urteil des Reichsgerichts als massiver Angriff auf die Autorität des Arztes gewertet. Rein rechtlich ist seitdem der operierende Arzt mit dem Messerstecher gleichgesetzt – beides erfüllt den rechtlichen Tatbestand der Körperverletzung. Nur die Einwilligung kann die Verwirklichung des Tatbestandes rechtfertigend auflösen.
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Bislang fehlt es an gesetzlichen Regelungen, die medizinischen Operationen einen eigenen rechtlichen Status abseits der Körperverletzung verleihen.
Rückblickend legt das Urteil den Grundstein zur Wahrung der Patientenrechte, insbesondere das Recht auf Selbstbestimmung.
Es wurde klargestellt, dass die körperliche Unversehrtheit eines Menschen nur dann durch einen medizinischen Heileingriff beeinträchtigt werden darf, wenn dieser Eingriff durch vorherige, informierte Zustimmung des Patienten gedeckt ist.
FAQ
Um was geht es im Urteil des Reichsgerichts vom 31.05.1894?
Der Fall dreht sich um die Ampuation des Fußes eines siebenjähriges Mädchens. Trotz Widerspruch des Vaters wurde die OP durchgeführt. Das Reichsgericht entschied, dass die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters zwingend notwendig sei.
Warum war das Urteil so kontrovers?
Das Urteil wurde kontrovers diskutiert, weil es als Angriff auf die Autorität der Ärzte verstanden wurde. Rechtlich setzt das Urteil den Arzt mit Straftätern gleich, da seit dem Heileingriffe, die in die körperlicher Unversehrtheit der Patienten angreift, immer auch als Körperverletzung angesehen wird.
Welche Bedeutung hat das Urteil heute noch?
Das Urteil hat en Grundstein zur Wahrung der Patientenrechte gesetzt. Seit dem bedarf es immer einer ausdrücklichen Einwilligung des Patienten, der vorher ausführlich über en Eingriff aufgeklärt werden muss.
Quelle: Reichsgericht vom 31.05.1894 – Rep. 1406/94