#1: Krankenpflegerin und Pädagogin
Prof. Dr. Christel Bienstein machte zunächst eine Ausbildung als Krankenschwester. „Ich hatte eine Freundin in Arnsberg besucht, die war bereits in eine Krankenpflegeschule eingetreten. Die hatte Pflegekleidung mit Schleier und ich fand, ich sah richtig gut darin aus. Dann dachte ich, so schlecht kann das gar nicht sein“, sagt Bienstein lachend im Gespräch mit der Rechtsdepesche.
Was zunächst aus Lust und Laune heraus entstanden ist, entwickelte sich rasch zu einer echten Leidenschaft. Doch in dem Beruf, mit dem sie sich so angefreundet hatte, konnte Bienstein nicht lange bleiben. Eine Penizillin-Allergie erlaubt es ihr nicht mehr im Krankenhaus zu arbeiten.
„Ich war anderthalb Jahre auf der Intensivstation und dann meinte mein Arzt: ‚Sie müssen den Beruf wechseln, das geht nicht mehr‘. Beim Arbeitsamt habe ich dann geschaut, was ich noch machen kann“, erzählt Bienstein.
In Essen studierte sie schließlich Lehramt in den Fächern Geschichte und Germanistik mit Abschluss des ersten Staatsexamens. Auch ihr Studium versuchte sie immer wieder mit Themen aus der Pflege zu verbinden. So zum Beispiel hat eine Arbeit zur Rolle der Pflegenden in Auschwitz während des Nationalsozialismus geschrieben.
Um die Verbindung zur Pflege nicht zu verlieren, ist sie zudem in den Berufsverband für die Pflege (DBfK) eingetreten. Dort hat sie nach Abschluss ihres Studiums auch schnell einen Platz als hauptamtliche Lehrkraft bekommen. In dieser Zeit absolvierte sie ihr zweites Studium Pädagogik mit Diplom, bevor sie schließlich 1990 die Leitung des Bildungszentrums beim DBfK übernahm.
1994 leitete sie von der Gründung an bis 2017 das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke. 2003 übernahm sie zudem eine Professur an der Universität Bremen.
#2: Pflegewissenschaftlerin
Mit ihrer Zeit beim DBfK begann auch ihre Karriere als Pflegewissenschaftlerin. „Ich habe dann eine Annonce geschaltet, ob denn nicht Kolleginnen und Kollegen in einer Forschungsarbeitsgruppe am DBfK mithelfen wollen. Es kamen daraufhin einige richtig hochkarätige Leute zusammen.
Dann haben wir erste Ideen gesammelt und geguckt, was müssen wir alles untersuchen“, erinnert sich Bienstein. 1985 entwickelten sie dann die Norton-Skala weiter.
Mit der Skala soll die Dekubitusgefährdung – also die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines Druckgeschwürs – in der Kranken- und Altenpflege eingeschätzt werden. Ursprünglich entwickelt von Doreen Norton, umfasste die Skala folgende Einflussfaktoren:
- körperlicher Zustand
- geistiger Zustand
- Aktivität
- Beweglichkeit
- Inkontinenz
Jeder Faktor wurde mit 1 bis 4 Punkten bewertet. Ergab die Summe 14 oder weniger, war eine erhöhte Dekubitusgefahr gegeben. Bienstein erweiterte die Skala um die Faktoren „Bereitschaft zur Kooperation/Motivation“, „Alter des Patienten“, „Hautzustand“ und „Zusatzerkrankungen“. Den Grenzwert hob sie deshalb auf 25 Punkte an.
Des Weiteren entwickelte sie eine Atemskala, mit der das Pneumonierisiko eingeschätzt werden kann. Die Atemskala nach Bienstein gehört zu den weitverbreitetsten Instrumenten, um ein Pneumonierisiko festzustellen und umfasst 15 Kategorien, die eine Atembeeinträchtigung aufzeigen können.
Auch hier wird eine Punktzahl ermittelt, die je höher oder niedriger sie ist, für ein hohes oder niedriges Risiko steht.
Als Bienstein ihre ersten Ergebnisse veröffentlichte, gab es noch kein Studium für die Pflege. Sie war es unter anderem, die die Akademisierung der Pflege in Deutschland entscheidend vorangetrieben hat.
Dazu hat sie unter anderem Fachweiterbildungen zur Vertiefung der Pflege aufgebaut, die in einigen deutschen Städten angeboten wurden.
„Wir haben vom DBfK aus immer wieder dafür gekämpft, dass die Pflege an die Hochschulen kommt“, so Bienstein. Nach mehreren Jahren der Anstrengung und Demonstrationen gab es schließlich den ersten Lehrstuhl für Pflege an der Fachhochschule in Osnabrück, der von Ruth Schröck besetzt wurde.
„Ich weiß noch, wie ich sie am Flughafen abgeholt habe und wir eine große Begrüßungsfeier mit ihr gemacht haben. Das war richtig schön“, erinnert sich Bienstein.
#3: Basale Stimulation für die Pflege
Christel Bienstein ist aber vor allem bekannt für ihre Arbeit zur Basalen Stimulation. „Das ist vermutlich das tollste, was ich gemacht habe“, sagt sie. Das Konzept wurde zunächst von Prof. Dr. Fröhlich 1970 entwickelt und von ihr schließlich auf die Pflege übertragen. Seither wird das Konzept stetig weiterentwickelt.
Bei der basalen Stimulation geht es darum, Menschen mit Wahrnehmungsstörungen (Demenzkranke, Menschen im Koma oder Wachkoma, Menschen mit neurologischen Erkrankungen etc.) besser zu begleiten und zu pflegen.
So sollen die Wahrnehmungs‑, Kommunikations- und Bewegungsfähigkeiten dieser Menschen mit speziellen Techniken gestärkt werden, in dem gezielt einzelne Reize ausgelöst werden. Dabei geht es vor allem darum, besser mit dem sozialen wie dinglichen Umfeld in Kontakt treten können.
Bienstein musste allerdings viel dafür tun, damit das Konzept ausreichend Aufmerksamkeit erhielt. So stellte sie zum Beispiel ihre Ergebnisse auf einem Intensivpflegekongress in Münster vor.
„Ich werde das nie vergessen. Das waren tausend Intensivpflegende und man hätte eine Stecknadel fallen lassen können. Das Konzept hat die Seele der Intensivpflegenden so berührt. Die wussten bis dahin einfach nicht, wie man diesen Menschen etwas Gutes tun kann“, erzählt Bienstein.
Bis zur Etablierung der basalen Stimulation habe man in der Pflege hauptsächlich mit Negativ-Reizen gearbeitet, um an die Betroffenen heranzukommen – das bedeutete auch schlagen und erschrecken.
Für ihr großes Engagement für das Konzept der Basalen Stimulation hat sie vom Deutschen Pflegerat 2011 den Pflegepreis erhalten. „Mit Frau Professorin Bienstein würdigt der DPR eine Frau mit herausragender Pflegeexpertise und eine Wissenschaftlerin, die der noch jungen akademischen Profession Pflege durch ihren langjährigen und beispiellosen Einsatz erhebliches Profil gegeben hat“, sagte der damalige Pflegerats-Präsident Andreas Westerfellhaus.
#4: Christel Bienstein mit Bundesverdienstkreuz und Ehrendoktorwürde bedacht
Für ihre Arbeit in der Pflegewissenschaft wurde Christel Bienstein 2004 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Damit wurde sie als herausragende Persönlichkeit der Pflege in Deutschland gewürdigt. Sie selbst war wenig begeistert davon. „Ich bin keine Person, die gerne geehrt wird“, sagt sie. Und dass sie von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung als „Pflege-Päpstin“ bezeichnet wurde, findet sie ebenfalls „ganz furchtbar“.
2021 hat sie von der Universität Witten/Herdecke für ihre „zahlreichen und dringend erforderlichen Impulse in Gesellschaft, Pflegepraxis und Forschung“ den Ehrendoktor erhalten. Bienstein sei eine Pflege-Pionierin der ersten Stunde, so Universitätspräsident Martin Butzlaff. Sie sei begeisterungsfähig, unermüdlich und charismatisch, sagte Prof. Margarete Halek und hob sie die persönlichen Werte Biensteins hervor.
#5: Langjährige Präsidentin des DBfK
2017 ist Christel Bienstein offiziell in Rente gegangen – zumindest im akademischen Betrieb. Mit mittlerweile 71 Jahren ist sie noch immer für die Pflegeberufe aktiv. Seit 2012 ist sie Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK). Im Juni 2021 ist sie für eine dritte Amtszeit mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt worden.
Doch mit dem Ende der Präsidentschaft solle dann Schluss sein. „Dann bin ich 72, dann ist Feierabend“, sagt Bienstein. Doch bis dahin wolle sie noch alles tun, um den Zustand der Pflege in Deutschland zu verbessern. „Die Politik begreift nicht, dass wir einen Tsunami in der Pflege haben. Es passiert zwar was, aber das ist zu wenig und zu langsam.“