Ärztliche Praxis. (Symbolbild)
Ärztli­che Praxis. (Symbol­bild) Bild: Photo 53112916 © Sebas­tian­gau­ert – Dreamstime.com

Rechts­de­pe­sche: Sehr geehrte Frau Pohl, wieso hat der Prozess um die Verord­nungs­fä­hig­keit von Verband­mit­teln so lange gedau­ert und sind Sie zufrie­den mit den Ergeb­nis­sen?

Juliane Pohl: Uns wäre es auch lieber gewesen, wenn es schnel­ler gegan­gen wäre! Aber es gab quasi eine doppelt-lange Verfah­rens­dauer: Zunächst ist der Bundes­tag 2017 mit dem „Heil- und Hilfs­mit­tel-Versor­gungs­ge­setz“ (HHVG) einen richti­gen Schritt zur Versor­gung mit Verband­mit­teln gegan­gen. Nach Jahren der Unsicher­heit gab es endlich eine vernünf­tige Regelung, vor allem für Menschen mit chroni­schen Wunden. Die meisten etablier­ten Verband­mit­tel wurden zugelas­sen, auch die moder­nen, hydro­ak­ti­ven.

Aller­dings ging es 2019 mit dem „Gesetz für mehr Sicher­heit in der Arznei­mit­tel­ver­sor­gung“ (GSAV) leider wieder zurück. Das GSAV hat Produkte wieder ausge­schlos­sen, die pharma­ko­lo­gi­sche, immuno­lo­gi­sche oder metabo­li­sche Wirkun­gen haben. Der Gemein­same Bundes­aus­schuss (G‑BA) hat mit der Änderung der Arznei­mit­tel-Richt­li­nie dann noch eine Rolle rückwärts hinge­legt. Laut Abschnitt P und der Anlage Va müssen bei den sogenann­ten Verband­mit­teln und sonsti­gen Produk­ten zur Wundbe­hand­lung unter anderem antimi­kro­bielle und silber­hal­tige Wundauf­la­gen ihren Nutzen geson­dert nachwei­sen.

Das halten wir für einen großen Fehler, weil es viele im Praxis­all­tag erfolg­reich verwen­dete Wundver­bände nicht berück­sich­tigt. Das hat den Fortschritt des HHVG teilweise wieder einkas­siert.

Wie gesagt: Schnel­ler wäre besser gewesen. Vor allem für die betrof­fe­nen Patien­tin­nen und Patien­ten. Und gut geregelt ist es bei Weitem noch nicht. Allein die sehr knappe Übergangs­frist von einem Jahr führt dazu, dass Ärztin­nen und Ärzte sowie Patien­tin­nen und Patien­ten in abseh­ba­rer Zeit die gewohn­ten Verband­mit­tel nicht mehr nutzen können. Hier sind Versor­gungs­brü­che zu befürchten und bei antimi­kro­biel­len Produk­ten auch der Einsatz von Antibio­tika als Ersatz, was eigent­lich zu vermei­den ist.

Rechts­de­pe­sche: Sie sehen die Versor­gung von Patien­ten mit Wundver­bän­den vor gefähr­li­chen Engpäs­sen. Wieso?

Pohl: Mit dem GSAV und der entspre­chen­den Arznei­mit­tel-Richt­li­nie des G‑BA sind einige beson­ders wirkende Verband­mit­tel nicht mehr in der GKV erstat­tungs­fä­hig. Diese antimi­kro­biel­len und silber­hal­ti­gen Wundauf­la­gen müssen nach einer Übergangs­frist neue, sehr aufwen­dige Wirkungs­nach­weise erbrin­gen. Das schränkt die Vielfalt der moder­nen Verband­mit­tel stark ein.

Fallen diese Produkte ganz aus der Erstat­tung der GKV heraus, trifft das vor allem dieje­ni­gen, die sich diese notwen­di­gen Produkte finan­zi­ell aus der eigenen Tasche nicht leisten können. Das wäre eine erheb­li­che Verschlech­te­rung der Versor­gung.

Außer­dem besteht die Gefahr, dass etliche Verband­mit­tel für infizierte Wunden nicht mehr zur Verfügung stehen. Wenn deshalb dann Antibio­tika verschrie­ben werden, wider­spricht das dem medizi­ni­schen Grund­satz einer lokalen antimi­kro­biel­len Thera­pie. Das kann die Entwick­lung von resis­ten­ten Keimen fördern.

Rechts­de­pe­sche: Was genau kriti­sie­ren Sie an der Änderung der Arznei­mit­tel-Richt­li­nie im Bereich der Verband­mit­tel?

Pohl: Laut der G‑BA-Richt­li­nie sind bestimmte antimi­kro­bielle Wundauf­la­gen nur noch als sonstige Verband­mit­tel zugelas­sen, wenn sie in der Wundauf­lage wirken, nicht aber an oder in der Wunde selbst. Das ist in der Praxis völlig untauglich.Es ist kaum möglich, dies derar­tig lokal begrenzt nachzu­wei­sen.

Beson­ders in der Thera­pie komple­xer und infizier­ter Wunden würde das nach der einjäh­ri­gen Übergangs­frist eine große Lücke reißen. Der Versor­gungs­an­spruch von Patien­tin­nen und Patien­ten wäre massiv einge­schränkt. Die gefor­der­ten Nutzen­nach­weise für die betrof­fe­nen antimi­kro­biel­len und silber­hal­ti­gen Wundauf­la­gen sind so aufwen­dig, dass sie nicht recht­zei­tig zu erbrin­gen sind.

Diese Nachweise sind aber erfor­der­lich, damit diese Produkte in die Anlage Va der Arznei­mit­tel-Richt­li­nie aufge­nom­men und dann ausnahms­weise verord­net werden können. Ein Teufels­kreis. Wenn der nicht durch­bro­chen wird, drohen erprobte und bewährte Produkte vom Markt zu verschwin­den.

Rechts­de­pe­sche: Es ist abseh­bar, dass es Friktio­nen im Bereich der nicht­ärzt­li­chen Leistungs­er­brin­ger in der Wundver­sor­gung geben wird. Welche Position nimmt der Bundes­ver­band Medizin­tech­no­lo­gie in diesem Zusam­men­hang ein?

Pohl: Wir erwar­ten durch die zuneh­mende Ambulan­ti­sie­rung, durch die aktuel­len politi­schen Anstren­gun­gen durch­aus Verschie­bun­gen, auch in der Gesund­heits­ver­sor­gung insge­samt. Viele Tätig­kei­ten werden sich neu ausrich­ten, beispiels­weise durch die Stärkung und Aufwer­tung des Pflege­be­rufs, die Möglich­keit, Aufga­ben zu delegie­ren. Diese Entwick­lun­gen sind spannend. Der Bundes­ver­band Medizin­tech­no­lo­gie (BVMed) befür­wor­tet diese Verän­de­run­gen, die darauf ausge­rich­tet sind, die Versor­gungs­struk­tu­ren und ‑prozesse effizi­en­ter und zukunfts­fä­hi­ger zu gestal­ten. Diese Verän­de­run­gen betref­fen dabei aber nicht allein die Ärztin­nen und Ärzte oder die Pflegen­den, sondern auch die weite­ren Leistungs­er­brin­ger im Versor­gungs­netz­werk, so etwa die Homecare-Versor­ger.

Rechts­de­pe­sche: Ist die neue Verord­nungs­fä­hig­keit und Abrechen­bar­keit als vertrags­ärzt­li­che Leistung der NPWT sachge­recht? Birgt diese Aufwer­tung nicht zusätz­li­che Probleme für die konven­tio­nel­len Wundver­sor­gungs­pro­dukte?

Pohl: Die Zulas­sung der Vakuum­ver­sie­ge­lungs­the­ra­pie oder Negative Pressure Wound Therapy (NPWT) in der ambulan­ten Behand­lung von Wunden ist sehr sinnvoll. Damit können mehr Patien­tin­nen und Patien­ten von dieser innova­ti­ven Methode profi­tie­ren. Aller­dings müssen ausschließ­lich die anwen­den­den Ärztin­nen und Ärzte auch den Verband wechseln. Das ist ziemlich alltags­fern, denn die Patien­tin­nen und Patien­ten müssen extra in die Praxis kommen oder zu Hause besucht werden. Der Verband­wech­sel sollte statt­des­sen auch durch quali­fi­zier­tes Perso­nal in den Praxen, der häusli­chen Kranken­pflege oder weiter­hin durch Homecare-Versor­ger möglich sein. Für andere Wundver­sor­gungs­pro­dukte sieht der BVMed keine Probleme.

Rechts­de­pe­sche: Bis zum Ablauf der einjäh­ri­gen Übergangs­frist bleibt der Status quo in der Verord­nungs­si­tua­tion erhal­ten. Ist diese Frist Ihrer Meinung nach auskömm­lich?

Pohl: Nein, absolut nicht! Die gefor­der­ten Studien zum Nutzen­nach­weis sonsti­ger Wundver­sor­gungs­pro­dukte sind in einem Jahr nicht zu erbrin­gen. Das zeigen Erfah­run­gen aus anderen Berei­chen überdeut­lich. Das Studi­en­de­sign ist teilweise aufwen­di­ger als für Medizin­pro­dukte. Schon jetzt ist es aufgrund der indivi­du­el­len Wundsi­tua­tion oft sehr schwie­rig, genügend Studi­en­teil­neh­me­rin­nen und ‑teilneh­mer zu finden. Und die wegen der Corona­pan­de­mie gelten­den Kontakt­be­schrän­kun­gen machen es noch kompli­zier­ter, wenn nicht ganz unmög­lich. Außer­dem sind die erfor­der­li­chen Verfah­ren noch nicht klar geregelt: Wie sollen die betrof­fe­nen Unter­neh­men da tätig werden?

Rechts­de­pe­sche: Welche Maßstäbe sollten an den Wirksam­keits­nach­weis für die Produkte mit zusätz­li­chem Nutzen angelegt werden?

Pohl: Evidenz ist gut und zwingend erfor­der­lich. Ihre Wirksam­keit haben die fragli­chen Produkte aber schon längst nachge­wie­sen. Die jetzt zusätz­lich gefor­der­ten Studien sind daher ein unnöti­ger bürokra­ti­scher Doppel­stan­dard. Es handelt sich um bereits zugelas­sene Medizin­pro­dukte mit CE-Kennzeich­nung, für die die europäi­sche Medical Device Regula­tion gilt. Wenn darüber hinaus tatsäch­lich noch mehr Nachweise nötig sein sollen, ist eine Übergangs­frist von mindes­tens drei Jahren realis­tisch.

Rechts­de­pe­sche: Wie sieht ein tragfä­hi­ges Konzept für eine zukunfts­si­chere ambulante Wundver­sor­gung aus?

Pohl: Wir empfeh­len den Aufbau von inter­pro­fes­sio­nel­len Versor­gungs­netz­wer­ken. Darin müssen alle betei­lig­ten Berufs­grup­pen mit ihren jewei­li­gen Quali­fi­ka­tio­nen eng zusam­men­ar­bei­ten. Eine adäquate und letzt­lich erfolg­rei­che Wundver­sor­gung ist nicht allein von Ärztin­nen und Ärzten oder Versor­gen­den sowie Pflegen­den zu schaf­fen. Das funktio­niert nur Hand in Hand.

Wie in vielen Berei­chen unseres Alltags ist die Digita­li­sie­rung ein großes Thema. Sie kann durch­aus sinnvoll sein. Aber gerade für die Medizin und die Gesund­heit darf die digitale Unter­stüt­zung auf keinen Fall den wichti­gen persön­li­chen Kontakt zum Menschen und die Versor­gung vor Ort erset­zen.

Rechts­de­pe­sche: Frau Pohl, haben Sie vielen Dank für das aufschluss­rei­che Gespräch.