Corona wird hoffentlich ein harmloser Schnupfen
Rechtsdepesche: Können wir beide als zweifach Geimpfte uns noch gegenseitig mit dem Coronavirus anstecken?
Prof. Dr. Hendrik Streeck: Das ist eine schwierige Frage. Wir sehen vereinzelt unter Geimpften noch Infektionen. Wir wissen überhaupt nicht, wie gut infizierte Geimpfte das Virus noch weiter geben können. Mit Sicherheit sehen wir ja den Effekt, dass Infektionszahlen runtergehen durch die Impfung, das sehen wir weltweit. Aber wir sehen auch in Ländern, wo viel geimpft wurde – Israel zum Beispiel – auch einen Anstieg der Infektionszahlen, wo 50 Prozent der Infizierten geimpft sind.
Wie häufig eine Übertragung unter Geimpften sein kann, das wissen wir gar nicht. Aber ich finde das auch gar nicht die wichtige Frage. Diese Impfstoffe wurden entwickelt, um einen schweren Verlauf zu verhindern.
Und darauf müssen wir uns wieder zurück besinnen. Dass das eigentlich die Aufgabe war. Corona wird hoffentlich ein harmloser Schnupfen. Von daher ist die Zahl der Neuinfektionen, die Inzidenz, eigentlich nicht mehr so aussagekräftig, wie sie mal gewesen ist.
Infektionsgeschehen nicht an Inzidenz messen
Rechtsdepesche: Wenn wir uns jetzt anstecken würden, wie würde der Krankheitsverlauf aussehen? Ist mit Siechtum und Tod zu rechnen oder ist es eine Erkältung, vielleicht eine schwere? Was kann man erwarten?
Streeck: Stand heute, nachdem was wir wissen: eigentlich einen milden, komplett asymptomatischen Verlauf unter den Geimpften. Das bedeutet aber auch – und da haben wir im letzten Jahr schon für plädiert – dass wir das Infektionsgeschehen, diese Pandemie, nicht mehr an den Neuinfektionen, also Inzidenzen, messen dürfen.
Es sind ja noch nicht mal die Inzidenzen, es ist ja noch nicht einmal mathematisch die Inzidenz bestimmt, sondern nur die Fälle, die beschrieben wurden. Also werden wir auch wahrscheinlich unter den Geimpften viel mehr eine Dunkelziffer bekommen, weil sie natürlich sagen: ich bin doch geimpft, ich kann mich doch gar nicht anstecken. Deswegen kann das Virus dort immer noch zirkulieren.
Dunkelziffer der Infektionen aufdecken
Rechtsdepesche: Die Dunkelziffer ist ganz interessant, weil Sie ja auch gefordert haben, dass man genau diese Dunkelziffer aufdecken soll. Was steckt dahinter? Warum wollen Sie das, wenn man diese Dunkelziffer überhaupt aufdecken kann?
Streeck: Ich denke das ist wichtig und das hätten wir von Anfang an in der Pandemie machen sollen. Dass wir wirklich verstehen, wie sich das Infektionsgeschehen in Deutschland verhält. Indem wir eine Sentinel-Stichprobe machen. Also immer in einer repräsentativen Bevölkerung alle paar Wochen reingehen und wissen, wie groß die Verbreitung des Coronavirus ist.
Daran hätte man genau sehen können – unabhängig vom Testverhalten, unabhängig von der Testqualität, oder ob ein Antigen- oder PCR-Test durchgeführt wurde, könnte man feststellen, wie sich das Infektionsgeschehen in Wirklichkeit in Deutschland verhält. Das haben wir aber leider nicht gemacht. Ich denke immer noch, das ist etwas, das gemacht werden sollte, damit wir auch über den Herbst und Winter bessere Daten haben.
Rechtsdepesche: Und dan vielleicht etwas entspannter der vierten Welle entgegen sehen. Sie haben ja schon verlautbaren lasssen, dass eine vierte Welle kommen wird. Werden wir in der vierten Welle auch mit erhöhten Einweisungen in den Intensivstationen rechnen müssen?
Streeck: Also erstmal frage ich mich, wieviele Wellen wir noch duchzählen wollen. Coronaviren werden heimisch werden. Wir werden sie nicht los. Und das Virus wird sich verhalten wie alle anderen Coronaviren auch, die bei uns heimisch sind, nämlich dass wir im Herbst einen Anstieg haben werden, im Frühjahr ein Absinken. Das ist eine Dauerwelle. Also es wird immer wieder hoch und runter gehen. Das Virus geht auch nicht – wie die Influenza – vollkommen weg. Wir werden ein Wabern über den Sommern sehen. Also ich reche auch damit, dass es jetzt immer mal wieder ansteigen wird, aber nicht zu solch einer großen Welle kommt.
Was die Intensivstationen betrifft, wird das eine spannende Frage sein. Durch die Impfungen müsste man eigentlich damit rechnen, dass wir keinen Anstieg auf den Intensivstationen mehr sehen, im Herbst und im Winter. Es ist aber eher ein Blick in die Glaskugel, weil wir ja die Daten noch nicht haben. Deshalb fände ich es wichtig, dass wir uns auf alle Eventualitäten vorbereiten und diesen Sommer jetzt nutzen, eine gute Vorbereitung zu machen, um dann nicht als einzige Konsequenz zu haben: wir müssen in einen Lockdown gehen, falls wir einen Anstieg sehen sollten.
Infektionsschutzgesetz neu beurteilen
Rechtsdepesche: Also ist ja fast davon auszugehen, wenn die Schulen wieder öffnen, die Inzidenzzahlen wieder steigen, weil ja insbesondere Kinder unter 12 Jahren nicht geimpft sind. Und da stellt sich die Frage: hat die Inzidenz überhaupt eine Aussagekraft, weil ja schlussendlich Kinder in der Regel einen milden bis gar keinen Verlauf zu verzeichnen haben, wenn sie sich infiziert haben.
Streeck: Ja, da bin ich ganz Ihrer Meinung, dass die Inzidenzzahlen nie diese Aussagekraft hatten, die wir für so eine Pandemie brauchen. Als Arzt besinne ich mich doch darauf: wer wird krank? Wer braucht medizinische Versorgung? Für wen ist dieses Virus relevant? Bei jemandem, der keine Symptome hat, das Virus nachzuweisen, ist im Grunde für das Infektionsgeschehen – gerade jetzt mit der Impfung – weniger relevant. Daher müssen wir stationäre Belegung, intensivstationäre Belegung, besser einberechnen in unser Management, also auch in der Beschreibung des Infektionsgeschehens, so wie wir die Pandemie verstehen.
Zum anderen aber auch – und das ist wahrscheinlich noch viel wichtiger – müssen wir das Infektionsschutzgesetz dahin gehend vielleicht anders beurteilen. Ich bin kein Rechtsgelehrter, aber dort ist ja festgeschrieben immer noch, dass ab einer Inzidenz von 100 oder 35 bestimmte Maßnahmen ergriffen werden sollten. Das kann im Herbst meiner Ansicht nach nicht mehr die Vorgabe sein, wenn wir unter Geimpfen plötzlich das Virus im Rachen nachweisen können.
Herdenimmunität wird es nicht geben
Rechtsdepesche: Was denken Sie, ab welcher Prozentzahl können wir mit einer Herdenimmunität rechnen?
Streeck: Ich glaube gar nicht, dass wir eine Herdenimmunität im klassischen Sinne bekommen werden. Die Herdenimmunität kommt ja daher – sie ist um 1910 entwickelt worden – dass wenn viele Rinder – es kommt ja aus der Tiermdeizin – immun sind gegen einen Erreger, dass dann die Ungeborenen auch geschützt sind. Die, die sich eben jetzt nicht impfen lassen können, also auf den Menschen übertragen.
Die Impfstoffe sind aber gar nicht so gut, dass sie diesen Herdenimmunitätseffekt erzeugen können. So dass wir einzelne Personen wirklich von diesem Virus komplett abschirmen können. Es ist kein Impfstoff, der 100-prozentige sterilisierende Immunität macht. Also dass man sich nicht mehr infizieren kann. Wir werden aber sicherlich Herdeneffekte haben. Das ist aber etwas anderes. Das bedeutet, dass die Kontaktketten, also die Infekrionsketten, eher abreissen. Dass wir in der Bevölkerung insgesamt eher weniger Infektionen sehen. Aber das Virus wird bleiben und wir werden auch nächsten Herbst, nächsten Winter Infektionen haben. Und auch die Jahre darauf.
Rechtsdepesche: Wo ist genau der Unterschied zum Grippevirus? Sie haben eben gesagt, dass das Grippevirus komplett verschwindet und dann wieder aufpoppt. Warum verschwindet das Coronavirus nicht?
Streeck: So ganz ist das alles noch nicht geklärt. Warum sich Viren da so unterschiedlich verhalten. Was wir beim Grippevirus aber sehen: einen noch stärkeren, saisonalen Effekt. So dass wir jetzt auf der Südhalbkugel die ersten Grippeinfektionen wieder sehen. Wir haben viele verschiedene Stränge dieses Grippevirus.
Es ist ja nicht ein Virus allein und deshalb ist das auch mit der Impfung ein wenig komplizierter. In Deutschland sehen wir beim Coronavirus immer noch weiter gehende Infektionen, auch über die Sommermonate hinaus, ein niedriges Wabern. Aber warum jetzt Grippe sich so verhält und Corona so, das kann man nicht sagen.
Alle drei, vier Jahre bestimmte Gruppen impfen
Rechtsdepesche: Es wird immer gesagt, wir müssen den Impfstoff für weitere Mutationen anpassen. Ist es sinnvoll, dass wir zweifach Geimpfte uns vor der sogenannten vierten Welle nochmal nachimpfen lassen müssen?
Streeck: Wir können die Daten ja nur soweit überblicken, also wieweit die Immunität hält, seitdem ein Mensch damit geimpft wurde. Und das ist die Phase-1-Studie. Also wir können es über zwei Jahre im Moment gar nicht beurteilen. Was wir aber sehen ist, dass die, die geimpft sind, sehr hohe Immunantworten geben und gar nichts dafür spricht, jetzt im Herbst wieder jemanden zu impfen.
Anders sieht es aus bei Älteren oder Geschwächten, die keine gute Immunantwort machen. Da mag es Sinn machen, nochmal einen Booster zu geben. Ich rechne damit, dass man vielleicht alle drei, vier Jahre bestimmte Gruppen impft. Also auch gar nicht jeden. Ganz einfach weil es auch Publikationen gibt, die zeigen, dass der grundsätzliche Impfschutz vielleicht sogar ein ganzes Leben lang halten kann: bei jungen, fitten Menschen.
Rechtsdepesche: Kann man die Impfstoffe eigentlich kombinieren? Wäre es möglich Grippe- und Coronaimpfstoffe in einer Injektion zu verabreichen?
Streeck: Als Zukunftsmusik – sicherlich. Wenn man also heute einen RNA-Impfstoff als Coronaimpfstoff benutzt, kann dieser nicht mit einem klassischen Grippevirus-Impfstoff kombiniert werden. Das müssten dann zwei RNA-Impfstoffe sein, die dann kombiniert werden. Es hängt ein bisschen davon ab, wie die hergestellt werden. Der klassische Influenza-Impfstoff wird ja in Hühnereiern hergestellt. Wenn da die RNA-Stoffe dazu kommen würden, würden sie relativ schnell kaputt gehen.
Rechtsdepesche: Aber man könnte jetzt den Grippeimpfstoff auf RNA-Basis herstellen?
Streeck: Das wird bestimmt versucht, dass man auf RNA-Basis allerhand unterschiedliche Impfstoffe produziert. Es hätte den Vorteil, dass man eben – auch als Zukunftsmusik – diese Impfstoffe weltweit ausdrucken kann. Also es ist ja quasi ein chemischer Vorgang, es nicht mehr etwas, das in Zellkulturen passiert. dass man quasi den Impfstoff, von der WHO angesteuert, weltweit in den verschiedenen Produktionsstätten ansteuert, die Sequenz ausdruckt und damit die Bevölkerung impft. Das wäre eine neue Zukunftstechnologie, aber machbar.
Corona-Forschung profitiert von HIV-Forschung
Rechtsdepesche: Sie kommen ja aus der HIV-Forschung. Profitiert jetzt die HIV-Forschung von diesem neuen Verfahren der RNA-Impfstoffe?
Streeck: Sie werden sich wahrscheinlich wundern, wieviel die Corona-Forschung von der HIV-Forschung profitiert hat. Zum Beispiel der Adenovirus-Vektor, der Vektor von AstraZeneca, die kommen alle aus der HIV-Forschung. Deshalb sind auch weltweit die, die sich um Corona kümmern, HIV-Forscher. Angefangen mit Tony Fauci, aber auch Linda-Gail Bekker in Südafrika, Glenda Gray – die sind alle aus dem HIV-Feld, weil wir ja da seit 40 Jahren eine Pandemie haben.
Der RNA-Impfstoff wurde am Affen zumindest gegen SIV – also Affen-HIV – getestet und hat ganz vielversprechende Ergebnisse gezeigt. Aber es ist nicht so ein Durchbruch gewesen wie gegen das Coronavirus. HIV ist einfach ein wesentlich komplizierteres Virus.
Rechtsdepesche: Aber das Coronavirus ist doch ein Retrovirus?
Streeck: Nein. Das Coronavirus ist kein Retrovirus. Ein Retrovirus schreibt sich um in DNA und schreibt sich ein in das Genom des Menschen. Ist es ein RNA-Virus, bleibt es immer RNA und bildet dann im Zellplasma – also nicht im Zellkern – mehrere RNA-Schnipsel, also vervielfältigt sich dort nur anhand der RNA. Ohne in DNA umgewandelt zu werden.
Rechtsdepesche: Wann ist diese Pandemie beendet?
Streeck: Die Pandemie in dem Sinne ist beendet, wenn es zu einer Endemie kommt. Eine Endemie bedeutet ja, dass ein Virus heimisch wird und immer auf einem gewissen Level wabert, also vorhanden ist aber auch nicht weggeht. Da gibt es natürlich mathematische Definitionen. Wir haben ja die Basisreproduktionszahl von 3 oder jetzt mit den neuen Varianten vielleicht ein bisschen höher. Wenn das zusammen mit der Anzahl der Menschen, die noch überhaupt anfällig sind für das Coronavirus, auf 1 kommt, auf einen balancierten Schwellenwert, dann ist man eigentlich in einer Endemie angelangt.
Das wird sehr schwer sein, das in dieser Pandemie zu definieren. Weil wir eben keinen wirklich zu 100 Prozent schützenden Impfstoff haben. Aber ich denke wir bewegen uns dahin, die Wellen werden niedriger werden, es wird flacher werden. Die Pandemie dann für beendet zu erklären, das kommt dann wahrscheinlich von der WHO.
Zur Person:Prof. Dr. med. Hendrik Streeck ist Virologe an der Universitätsklinik Bonn. Der 43-jährige leitet dort das Institut für Virologie seit Oktober 2019.
Durch das Interview führte Herausgeber Prof. Dr. Volker Großkopf