Die Quote der Verurteilungen bei den Sexualstraftaten ist in Deutschland sehr niedrig. Im Zuge der Beratungen zum „fünfzigsten Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung“ lagen werden nach Auskunft des damaligen Bundesjustizministers Heiko Maas nur circa 8 Prozent der Sexualstraftäter einer Strafe zugeführt.
Nach Einschätzungen des Berliner Opferbeauftragten Roland Weber versage der Rechtsstaat bei der Strafverfolgung wegen Sexualstraftaten gar komplett.
Es verwundert daher nicht, dass auch die Anzeigebereitschaft bei Frauen, die Opfer sexueller Gewalt werden, sich durchaus im Rahmen hält. Dies gilt auch für die sexuellen Übergriffe, die im Zuge eines medizinischen Behandlungsverhältnisses zu verzeichnen sind.
Oftmals steht hier das besondere Vertrauensverhältnis, das Wissen des Arztes um intimste Details des Seelenlebens, das Schamempfinden und die Scheu vor dem Licht der Öffentlichkeit der Strafanzeige entgegen.
Dabei trägt das Strafrecht dem gesteigerten Schutzbedürfnis der Patienten(innen) durch § 174c StGB seit vielen Jahren Rechnung; geschützt wird die sexuelle Selbstbestimmung der Patient(innen) jeden Alters, die Integrität der Heilberufe und das Interesse an einem funktionierenden Gesundheitswesen.
§ 174c Absatz 1 StGB – Sexueller Mißbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs‑, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses
„Wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm wegen … einer körperlichen Krankheit oder Behinderung zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist, unter Mißbrauch des Beratungs‑, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einer dritten Person bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Das Offizialdelikt sieht eine Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren vor, wenn ein Arzt unter dem Vorwand angeblich notwendiger Untersuchungen sexuell motivierte Berührungen vornimmt und sein(e)n Patient(in) entwürdigenden Untersuchungen aussetzt.
Das Dortmunder Strafverfahren
Seit Mitte 2014 wirft die Dortmunder Staatsanwaltschaft einem Gynäkologen vor, seine Tätigkeit im Jahr 2011 mehrfach ausgenutzt und in dutzenden Fällen lediglich vorgegeben zu haben, gynäkologische Untersuchungen durchzuführen, wobei er tatsächlich sexuelle Handlungen an den Patientinnen vorgenommen habe (zum Beispiel Einreiben der Klitoris mit Gleitgel und Einführen des Fingers in die Scheide).
In einigen Fällen sollen zudem digitale Bilder und Videoaufzeichnungen mittels einer Kamera, die in der Auffangschale des gynäkologischen Stuhls angebracht gewesen sein soll, sowie mit einer als Kugelschreiber getarnten Kamera Fotos vom Genitalbereich der Patientinnen angefertigt worden sein.
Sexualstraftaten sollen verdeckt bleiben
Im Ausgangsverfahren räumte der Angeklagte ein, dass er in vielen der vorgeworfenen Fälle den objektiven Sachverhalt der Anklageschrift verwirklicht habe und die Erstellung der Bilder und Aufzeichnungen zu eigenen sexuellen Zwecken erfolgte. Die Untersuchungen selbst habe er aber nicht zu eigenen sexuellen Zwecken vorgenommen, sondern aus medizinischen Gründen.
Das LG Dortmund hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs‑, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses in 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten verurteilt (LG Dortmund vom 19. November 2018 – 31 KLs 78/15). Gegen diese Entscheidung hat der Angeklagte Revision zum Bundesgerichtshof eingelegt, mit der er in der Sache eine Reduzierung des Strafmaßes zu erzielen beabsichtigt.
Die Revision vor dem Bundesgerichtshof
Der BGH hat die Verurteilung des Gynäkologen für rechtsfehlerfrei erachtet und die Revision als unbegründet verworfen. Als Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung wurden ihm allerdings vier Monate der erkannten Freiheitsstrafe als vollstreckt anerkannt.
Vor allem die Manipulationen an den Genitalien der Patientinnen wurden nach ihrem äußeren Erscheinungsbild als sexuelle Handlungen im Sinne des § 174c StGB anerkannt, weil die von dem Angeklagten vorgenommenen Berührungen und Penetrationen der Genitale seiner Patientinnen unter den hier gegebenen Umständen nicht regelgerecht waren.
Die sexuelle Motivation blieb nicht nur auf die Anfertigung der Bildaufnahmen und Videos beschränkt, sondern auch die äußere Ausgestaltung der jeweiligen „Untersuchungshandlungen“ bestimmte in einer Weise das Geschehen mit, dass der Behandlungs- und Untersuchungscharakter durch den Sexualbezug überlagert wurde.
Die juristische Diskussion um die Strafbarkeit von medizinisch indizierten und regelgerecht ausgeführten Behandlungsmaßnahmen am weiblichen Genital, die zugleich von sexueller Motivation mitgetragen werden, griff daher auch im Revisionsverfahren keinen Platz.
Fazit
Die Frauenheilkunde ist ein umfangreicher medizinischer Arbeitsbereich. Frauenärzte müssen über präzise internistische, chirurgische, endokrinologische und onkologische Kenntnisse verfügen. Der Bereich der Geburtshilfe vervollständigt das Verantwortungsspektrum.
Alle diese Arbeitsbereiche, insbesondere die körperbetonten Therapieformen greifen per se in den sensiblen weiblichen Intimbereich ein. Frauen exponieren sich als Patientin bei einem Gynäkologen naturgemäß im besonderen Maße.
Aber nicht nur Frauen werden Opfer sexualisierter Gewalt durch die Ärzteschaft, wie ein Strafprozess aus Berlin zeigt. Dort soll sich ein renommierter HIV-Spezialist an männlichen Patienten vergangenen haben. Das Urteil steht noch aus.
Wird der medizinische Behandlungsvorgang ausgenutzt, um sexuelle Handlungen vorzunehmen, ist das strafwürdig. Die Grenze zieht § 174c StGB. Das ist die gesetzgeberische Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist die Rechtspraxis. Erst die richterliche Anwendung der Rechtsnormen auf die Sachverhalte füllt das Strafrecht mit Leben. Das ist in dem Dortmunder Strafprozess gegen den Gynäkologen geschehen – allerdings mit überlanger Verzögerung.
Hinweise: Selbst eine Einwilligung und ein einverständlicher Sexualkontakt können die Strafbarkeit nach § 174c Absatz 2 StGB begründen. Bei einem vorsätzlichen Missbrauch des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient wird ein berufsrechtlicher Überhang fast durchgängig bejaht.Lässt sich der Angeklagte umfassend und geständig im Rahmen eines sexuellen Missbrauchsdeliktes ein und können die geschädigten Frauen hierdurch von einer erneuten Vernehmung verschont werden, kann diesem Umstand im Rahmen der Strafzumessung ein erhebliches Gewicht zukommen.