Rechtsdepesche: Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Köpke, die Versorgung von Menschen mit Demenz in der stationären Krankenhausversorgung gilt im Allgemeinen als unzureichend. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Prof. Dr. Sascha Köpke: Ja, bei der Versorgung von Menschen mit Demenz im Krankenhaus ist noch viel Luft nach oben. Das hat viele Gründe. Die Patienten kommen in der Regel ja nicht wegen ihrer kognitiven Einschränkungen in die Krankenhäuser, sondern bringen die Demenz sozusagen als Beiwerk zum eigentlichen Behandlungsgrund mit. Und die Zunahme der älteren Patienten lässt deren Krankenhausaufenthalte immer mehr zur Herausforderung werden. Prävalenzstudien belegen, dass circa 10 bis 50 Prozent der betagten Patienten kognitiv eingeschränkt sind, und nur ein kleiner Teil davon wirklich wegen dieser kognitiven Einschränkungen da ist. Die Demenz ist dann im Krankenhaus auch oft nicht handlungsleitend und sie wird auch des Öfteren gar nicht als solche erkannt obwohl sie von besonderer Bedeutung für die direkte Kommunikation und zum Beispiel das Symptommanagement hat.
Aus Studien wissen wir, dass Menschen mit Demenz das ungewohnte Umfeld im Krankenhaus und damit verbundene Pflegeprozesse als negativen Stress erleben. Sie fühlen sich ignoriert, hilflos und bedroht. Das Krankenhauspersonal ist konzeptionell häufig unzureichend auf die Versorgung von Menschen mit Demenz vorbereitet und auch Pflegende beschreiben die Versorgung als körperlich und geistig anstrengend und belastend. Das Krankenhaus ist mit seinen Strukturen und Prozessen nicht auf Menschen mit Demenz eingestellt und deshalb ist deren Versorgung tatsächlich problembehaftet.
Rechtsdepesche: Wie geht die Uniklinik Köln mit dem Thema Demenz um?
Köpke: Das ist eine nicht so leicht zu beantwortende Frage. Prinzipiell gibt es in der Uniklinik Köln eine große Offenheit sich dem Thema zu nähern und spezifische Interventionen zu entwickeln. Unser Patienten-Informations-Zentrum ist da von besonderer Bedeutung. Dort können wir mit den Angehörigen der Menschen mit Demenz die jeweiligen Besonderheiten während und aber auch nach dem Krankenhausaufenthalt besprechen. Sehr wichtig ist auch das Zentrum für Gedächtnisstörungen, das schon in der frühen Phase Beratung und Begleitung anbietet. Auf den Stationen ist natürlich die pflegerische und ärztliche Anamnese von großer Bedeutung. Es wird genau geschaut, ob kognitive Einschränkungen vorliegen, beziehungsweise deren Entwicklung erwartet werden muss. Ansonsten ist es so, dass die unterschiedlichen Abteilungen natürlich eng zusammenarbeiten, um den Patientenbedürfnissen gerecht zu werden.
Augenblicklich bereiten wir uns außerdem auf zwei Projekte vor, die eine demenzfreundliche Versorgung im Visier haben. Ein ganz wichtiger Aspekt des Projektes „EnroleAcute“ ist die Etablierung von sogenannten „Change Agents“ oder „Champions“ in denen ausgewählte Mitarbeiter das Thema der personzentrierten Pflege im klinischen Umfeld von der organisatorischen, strukturellen Ebene in den Versorgungsprozess überführen werden. Bei dem Projekt „PEKo“ wollen wir ein bewährtes Projekt aus der stationären Altenpflege auf das Krankenhaus übertragen. Inhaltlich geht es dabei um das Thema Gewalt in allen Ausprägungen. Das heißt, Gewalt gegen unsere Beschäftigten, aber auch Gewalt gegenüber Pflegebedürftigen. Angepeilt wird ein Kulturwandel hin zu gewaltfreier oder ich möchte eher sagen, gewaltbewusster Versorgung. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesen Projekten dazu beitragen, den Umgang mit Menschen mit Demenz zu verbessern.
Rechtsdepesche: Lässt die kurze Verweildauer der Patienten im Krankenhaus überhaupt eine Versorgung zu, die sich streng an den individuellen Patientenbedürfnissen orientiert?
Köpke: Die kurze Verweildauer ist ein bisschen ein Mythos. Internationale und nationale Studien belegen, dass Menschen mit Demenz im Mittel 18 Tage im Krankenhaus sind. Also so „kurz“ ist das nicht. Wir reden von einer Zeitspanne, in der durchaus eine Menge getan werden kann. Grenzen setzt da eher die derzeitige Situation in der Pflege. Lassen die Personalschlüssel überhaupt eine demenzgerechte Pflege zu? Da muss man sehr, sehr vorsichtig sein, wenn man sagen will, das ist kein Problem. Allerdings gilt auch: Nur mehr Personal bietet auch keine Garantien. Es wird vielmehr Personal benötigt, das in der Lage und Willens ist, die Versorgungsbesonderheiten der Menschen mit Demenz zu beachten. Die Sensibilisierung des Personals für das Thema „Demenz“ ist da ein Schlüssel für den Erfolg einer personzentrierten Pflege.
Rechtsdepesche: Menschen mit Demenz zeichnen sich mitunter durch ein herausforderndes Verhalten aus, das auch in aggressives Verhalten münden kann. Wie soll mit Abwehrhandlungen umgegangen werden, wenn beispielsweise die tägliche Insulinspritze vom Patienten verweigert wird?
Köpke: Das scheint vermeintlich eine typische Situation zu sein. Tatsächlich handelt es sich aber um einen großen Komplex. Berührt wird ja auch das Thema der Ablehnung von lebenserhaltenden Maßnahmen. Um aber bei der Insulinspritze zu bleiben: Bei einem Menschen mit Demenz, der täglich vielleicht mehrfach Insulin benötigt, kann davon ausgegangen werden, dass dies nicht neu für ihn ist. Und das heißt, da wird es schon eingespielte Abläufe geben. Werden die Bedürfnisse und Gewohnheiten der Menschen mit Demenz ordentlich geklärt, hilft dies beim Handling der Situation. Ist der Patient nicht mehr einsichtsfähig, wird die Einwilligung des Betreuers essenziell. Für den Umgang mit herausforderndem Verhalten gilt, dass die Menschen mit Demenz sich besser orientieren können, wenn sie das Gefühl der Orientierung und Sicherheit haben.
Daneben gilt es, sich Zeit für die Kommunikation mit Menschen mit Demenz zu nehmen, diese möglichst intensiv zu beobachten und wo möglich Kontakt mit den Angehörigen zu halten, um so möglichst frühzeitig unerfüllte Bedürfnisse zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Wird dies im Blick gehalten, lässt sich zumindest ein Teil von herausfordernden Verhaltensweisen so beherrschen, dass es nicht zu der großen Katastrophe kommt. Es gibt natürlich, das darf nicht verschwiegen werden, auch Menschen, denen mit solchen Maßnahmen nicht beizukommen ist. Diese Patienten sind auf einer somatischen Station in der Regel nicht angemessen versorgt.
Wenn jemand den ganzen Tag schreit, sich in fremde Betten legt oder ähnliches, dann sollte die Versorgung eher in einem Bereich erfolgen, der diesen Aspekten gerecht wird, zum Beispiel in einer Gerontopsychiatrischen Klinik.
Rechtsdepesche: Wie gestaltet sich die Einbindung der Betreuer in die Behandlungsabläufe?
Köpke: Prinzipiell ist der Betreuer von Anfang an einzubeziehen und vom Krankenhaus aus initial zu kontaktieren. Natürlich muss er, wenn es um medizinische Entscheidungen mit invasivem Charakter geht, in den Einwilligungsprozess einbezogen werden. Wobei – auch das gehört zur Realität – nicht immer alle entscheidungsrelevanten Situationen auch als betreuerrelevant angesehen werden, wenn ich das mal so sagen kann. Natürlich, wenn eine Magensonde gelegt wird oder eine OP ansteht, bedarf es der Einwilligung. Bei anderen Maßnahmen, wie einfachen diagnostischen oder medikamentösen Verfahren wird in der Routine keine Unterschrift benötigt und deswegen auch die Betreuer erfahrungsgemäß nicht regelhaft hinzugezogen (Anmerkung der Redaktion: Verweigern Menschen mit Demenz beharrlich wichtige Behandlungsmaßnahmen, sind neuerdings auch die neuen Betreuungsvorschriften nach § 1906a BGB zu beachten.).
Bei derartigen Bagatellmaßnahmen kann von der mutmaßlichen Einwilligung des Patienten ausgegangen werden, sodass keine Einwilligung des Betreuers notwendig ist. Wenn es schnell gehen muss, ist das sicherlich kein Problem. Prinzipiell würde ich mir aber doch ein wenig mehr Bewusstsein wünschen, die Betreuer nicht zu spät in die medizinischen Entscheidungsprozesse bei der Behandlung von Menschen mit Demenz einzubeziehen.
Rechtsdepesche: Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person: Prof. Dr. phil. Sascha Köpke ist Gesundheits- und Pflegewissenschaftler sowie examinierter Krankenpfleger. Prof. Dr. Köpke war von 2011 bis 2019 Professor für Forschung und Lehre in der Pflege an der Universität zu Lübeck. Seit 1.3.2020 leitet er das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität zu Köln.