Oberarzt
„Haken halten“ und „tackern“ musste der Sohn eines Oberarz­tes im OP. Bild: © Medical­work­sadobe | Dreamstime.com

„Haken-Halten“ und „Tackern“ durch­ge­führt von Sohn

Ein Oberarzt arbei­tete seit 13 Jahren in einer Klinik für Orthopädie/Unfallchirurgie. Am Morgen des 5. Januar 2024 nahm er zu einer wichti­gen Schul­ter­ope­ra­tion seinen 16-jähri­gen Sohn mit in den Opera­ti­ons­saal.

Der Arzt ließ seinen Sohn während der Opera­tion unter anderem „Haken-Halten“, während sich die 76-jährige Patien­tin in Vollnar­kose befand. Beim „Haken-Halten“ handelt es sich um das Offen­hal­ten des Opera­ti­ons­be­reichs nach dem Schnitt, um sicher­zu­stel­len, dass der Opera­teur während der Opera­tion Zugang zum Opera­ti­ons­ge­biet hat.

Dafür ist eigent­lich der zweite Assis­tent im OP zustän­dig – dieser konnte aller­dings nicht recht­zei­tig im Opera­ti­ons­saal erschei­nen, weshalb der Teenager die Tätig­keit kurzer­hand übernahm. Völlig ohne Risiko ist das „Haken-Halten“ keines­wegs. Vielmehr handelt es sich um eine anspruchs­volle Tätig­keit, bei der durch unsach­ge­mäße Ausfüh­rung durch­aus unter­schätzte Schäden entste­hen können.

Die Schul­ter-OP der Senio­rin erwies sich darüber­hin­aus als beson­ders heikel. Es reichte nicht aus, die Haken nur statisch zu halten. Der Sohn musste die Positio­nen der Haken deshalb immer wieder ändern.

Beim Halten der Haken ist es für den Jungen nicht geblie­ben. Nach der Implan­ta­tion einer inver­sen Prothese zwischen Schul­ter­blatt und Oberarm­kopf, gab es vom Vater die nächste proble­ma­ti­sche Aufgabe. Zu einem anwesen­den Facharzt soll er gesagt haben: „Du machst subku­tan, mein Sohn macht dann die Haut“. Demnach sollte der Facharzt die unteren Gewebe­schich­ten vernä­hen, während der Sohn die Haut im Anschluss „tackern“ sollte. Die Aufgabe lehnte der Sohn zunächst ab, wurde von seinem Vater schluss­end­lich doch überre­det. Die letzten zwei oder drei Tacker­vor­gänge übernahm dann der 16-Jährige.

Ordent­li­che Kündi­gung nach außer­or­dent­li­chem Fall

Nachdem der Arbeit­ge­ber von diesem Vorfall hörte, setzte er sich unver­züg­lich mit der Situa­tion ausein­an­der. Mit Schrei­ben vom 18. März 2024, welches dem Oberarzt am 19. März zuging, erklärte die Beklagte die Kündi­gung des Arbeits­ver­hält­nis­ses zum 30. Septem­ber 2024. Außer­dem wurde durch Ausspruch der Kündi­gung der Oberarzt von der Erbrin­gung der Arbeits­leis­tung unwider­ruf­lich bis zum Ablauf der Kündi­gungs­frist freige­spro­chen.

Der betrof­fene Arzt wehrte sich gegen die Kündi­gung mit einer Klage beim Arbeits­ge­richt Pader­born und forderte zudem die Weiter­be­schäf­ti­gung. Nach seiner Darstel­lung hatte er den Chefarzt sowie einen weite­ren Oberarzt der Klinik bereits zwei Tage vor dem betref­fen­den Eingriff über die Mitnahme seines Sohnes infor­miert – und deren Zustim­mung einge­holt. Zudem verwies er auf zahlrei­che Beispiele, in denen etwa Schul­prak­ti­kan­ten, Freiwil­lige im Sozia­len Jahr oder Medizin­stu­die­rende im OP-Saal anwesend waren und zum Teil auch aktiv einge­bun­den wurden.

Am Tag der Opera­tion habe der Kläger die beiden genann­ten Ärzte gegen 7:30 Uhr vor einer Teambe­spre­chung angetrof­fen und ihnen seinen Sohn vorge­stellt. Dabei habe er erneut darauf hinge­wie­sen, dass dieser ihn in den OP-Saal beglei­ten werde. Aus Sicht des Klägers zeige das Ausblei­ben jegli­cher Einwände seitens der anwesen­den Ärzte, dass die Mitnahme seines Sohnes vom gesam­ten Ärzte­team still­schwei­gend gedul­det worden sei.

Fatale Verlet­zung der ärztli­chen Pflich­ten

Anders sah das der Arbeit­ge­ber: Bereits die Mitnahme des Sohn stelle eine derart schwer­wie­gende Pflicht­ver­let­zung dar, dass sie eine außer­or­dent­li­che Kündi­gung recht­fer­tige. Zur Begrün­dung verwies die Beklagte auf die zahlrei­chen – unstrei­tig gelten­den – Hygie­ne­stan­dards, die vor und nach einem opera­ti­ven Eingriff strikt einzu­hal­ten seien. Jede zusätz­li­che Person im OP-Saal bedeute ein erhöh­tes Risiko für die dort gefor­derte Keimfrei­heit.

Auch durch weitere schwer­wie­gende Pflicht­ver­stöße sei die Kündi­gung aus Sicht der Beklag­ten gerecht­fer­tigt – insbe­son­dere durch die Missach­tung der Persön­lich­keits­rechte der Patien­tin sowie einen Verstoß gegen die ärztli­che Schwei­ge­pflicht. Zudem handle es sich beim Halten der Haken um eine Aufgabe, die dem zweiten Assis­ten­ten und damit einer medizi­nisch geschul­ten Fachkraft vorbe­hal­ten sei. Dass der Sohn des Oberarz­tes diese anspruchs­volle Tätig­keit übernom­men habe, wertete die Beklagte ebenfalls als erheb­li­chen Verstoß. Gleiches gelte für die Durch­füh­rung der Hautta­cke­rung, die als origi­när ärztli­che Aufgabe einer nicht autori­sier­ten Person nicht hätte übertra­gen werden dürfen.

Klage abgewie­sen!

Das Arbeits­ge­richt Pader­born wies die Klage als unbegrün­det ab. Nach Auffas­sung des Gerichts wurde das Arbeits­ver­hält­nis durch die Kündi­gung der Beklag­ten vom 18. März 2024 wirksam beendet. Die Kündi­gung ist gemäß § 1 Absatz 2 Satz 1 KSchG recht­mä­ßig. Mit dem Ende des Arbeits­ver­hält­nis­ses zum 30. Septem­ber 2024 entfällt zugleich ein Anspruch des Klägers auf tatsäch­li­che Weiter­be­schäf­ti­gung.

Im Rahmen der erfor­der­li­chen Inter­es­sen­ab­wä­gung prüfte das Gericht auch, ob eine mildere Maßnahme – etwa eine Ermah­nung, Abmah­nung oder Änderungs­kün­di­gung – als Reaktion ausge­reicht hätte. Eine Abmah­nung sei jedoch nur dann entbehr­lich, wenn entwe­der keine Verhal­tens­än­de­rung zu erwar­ten sei oder die Pflicht­ver­let­zung so schwer wiege, dass sie auch ohne vorhe­rige Abmah­nung eine Kündi­gung recht­fer­tige. Im vorlie­gen­den Fall sah das Gericht aufgrund der Schwere des Versto­ßes keine Notwen­dig­keit für eine Abmah­nung.

Der Kläger habe am 5. Januar 2024 eine Reihe von gravie­ren­den Pflicht­ver­let­zun­gen began­gen. So habe er seine gesetz­li­che Aufklä­rungs­pflicht gemäß § 630e BGB verletzt, indem er die Patien­tin nicht über die Anwesen­heit seines Sohnes im OP infor­mierte und keine Einwil­li­gung einholte. Auch der Schutz der Menschen­würde gemäß Artikel 1 des Grund­ge­set­zes sowie das allge­meine Persön­lich­keits­recht nach Artikel 2 GG seien missach­tet worden. Nach Auffas­sung des Gerichts dürfen bei opera­ti­ven Eingrif­fen nur Perso­nen anwesend sein, die unmit­tel­bar an der Durch­füh­rung betei­ligt sind – als behan­delnde Ärzte und klini­sches Fachper­so­nal.

Der Kläger, ein seit 13 Jahren in der Klinik tätiger Oberarzt und ranghöchs­ter Opera­teur unter­halb des Chefarz­tes, hätte sich der Risiken, insbe­son­dere der erhöh­ten Infek­ti­ons­ge­fahr durch zusätz­li­che Perso­nen im OP, bewusst sein müssen. Die aktive Einbin­dung seines Sohnes in den Eingriff stelle eine erheb­li­che Pflicht­ver­let­zung dar.

Der Streit­wert wurde gemäß § 61 Absatz 1 ArbGG in Verbin­dung mit § 42 Absatz 2 Satz 1 GKG auf drei Brutto­mo­nats­ge­häl­ter festge­setzt, was einem Betrag von 45.000 Euro entspricht.

Quelle: ArbG Pader­born, Urteil vom 20. August 2024 – 3 Ca 339/24