Sex
Die Sexua­li­tät ist ein relevan­ter Aspekt des sozia­len Lebens Bild: © Ammen­torp | Dreamstime.com

Kein Sex mehr ohne Hilfe: Ein Mann erlitt auf dem Heimweg von seiner Berufs­aus­bil­dung einen schwe­ren Verkehrs­un­fall, bei dem er sich unter anderem eine Subarach­no­idal­blu­tung und ein schwe­res Schädel-Hirn-Trauma mit nachfol­gen­der Ataxie und Sprach­stö­rung zuzog.

Bei einer Subarach­no­idal­blu­tung läuft Blut in den Raum (Subarach­no­idal­raum) zwischen der inneren Schicht (Pia mater) und der mittle­ren Schicht (Arach­no­idea mater) der Gewebe (Menin­gen), die das Gehirn umgeben.

Noch heute leidet der Mann unter hochgra­di­gen Funkti­ons­be­ein­träch­ti­gun­gen und der Hilfe­be­dürf­tig­keit in allen Alltags­ver­rich­tun­gen. Er benötigt Hilfe beim An- und Auszie­hen, Essen und bei der Körper­hy­giene.

Hilfe­be­dürf­tig in allen Alltags­ver­rich­tun­gen

Seine damalige Kranken­kasse erkannte den Unfall als Arbeits­un­fall an und zahlt dem Mann seit 2006 eine Verletz­ten­rente. Das zustän­dige Versor­gungs­amt hat bei dem Mann einen Grad der Behin­de­rung von 100 und die Merkzei­chen „aG“, „G“, „H“ und „B“ festge­stellt.

2016 beantragte der Mann vor Gericht zusätz­lich die Kosten­über­nahme von monat­lich vier Besuchen einer zerti­fi­zier­ten Sexual­be­glei­te­rin. Dem wurde zunächst auch statt­ge­ge­ben und ein Budget­ver­trag für einen befris­te­ten Zeitraum geschlos­sen. Einem ersten Folge­an­trag stimmte die Kranken­kasse noch zu, einem zweiten nicht mehr.

Der Grund: Dem Kläger sei es wegen der Folgen des Arbeits­un­falls bisher nicht möglich gewesen, eine intime Bezie­hung mit einem anderen Menschen einzu­ge­hen. Zur Befrie­di­gung seines Sexual­triebs nehme er daher die Dienste von Prosti­tu­ier­ten in Anspruch.

Es bestehe nach Auffas­sung der Kranken­kasse keine gesetz­li­che Grund­lage, die hierdurch entste­hen­den Kosten als Leistung der gesetz­li­chen Unfall­ver­si­che­rung zu überneh­men. Hierge­gen legte der Mann Wider­spruch ein. Nach § 26 SGB VII sei Sexual­be­glei­tung als Element der Teilhabe am Leben in der Gemein­schaft zu betrach­ten. Den Wider­spruch lehnte die Kasse ab, worauf­hin der Mann Klage erhob.

Kosten­über­nahme von Sexual­be­glei­tung

Das Gericht hat der Klage statt­ge­ge­ben. Demnach hat der Kläger tatsäch­lich Anspruch auf Leistun­gen zur sozia­len Teilhabe und Gewäh­rung eines persön­li­chen Budgets für die Inanspruch­nahme von Sexual­be­glei­tung. Nach §§ 26 Absatz 1, 29, 39 Absatz 1 SGB VII, § 76 SGB IX haben Versi­cherte neben einem Anspruch auf Heilbe­hand­lun­gen und Leistun­gen zur medizi­ni­schen Rehabi­li­ta­tion auch einen Anspruch auf Leistun­gen zur Teilhabe am Arbeits­le­ben und zur sozia­len Teilhabe.

Die Dienste von Sexual­be­glei­tun­gen fallen nach Ansicht des Gerichts hierun­ter. Die Berech­nung des Budgets für die Leistun­gen zwischen den Parteien ergibt sich aus § 29 Absatz 4 SGB IX.

Mit Rehabi­li­ta­tion ist demnach nicht nur die gesund­heit­li­che und beruf­li­che Wieder­ein­glie­de­rung gemeint, sondern die Einglie­de­rung in die Gesamt­heit zwischen­mensch­li­cher Ordnung und Bezie­hun­gen.

Elemen­tare Grund­be­dürf­nisse müssen befrie­digt werden können

Als Leistun­gen zur sozia­len Teilhabe werden Leistun­gen angese­hen, die den behin­der­ten Menschen eine gleich­be­rech­tigte Teilhabe am Leben in der Gemein­schaft ermög­li­chen oder erleich­tern. Leistun­gen der sozia­len Rehabi­li­ta­tion sind Maßnah­men, die zur persön­li­chen Lebens­füh­rung gehören und die Lebens­qua­li­tät verbes­sern, die sie elemen­tare Grund­be­dürf­nisse befrie­di­gen. Letzt­lich entschei­det jedoch der konkrete Fall über geeig­nete Maßnah­men, die für den betrof­fe­nen Menschen eine gesell­schaft­li­che Integra­tion ermög­li­chen.

In dem hier behan­del­ten Fall ist es dem Kläger nicht möglich, eine partner­schaft­li­che Bezie­hung zu einer Frau aufzu­bauen und seine sexuel­len Bedürf­nisse zu befrie­di­gen. Somit habe die Sexual­be­glei­tung ohne Zweifel ihren Schwer­punkt in der Verbes­se­rung der Lebens­qua­li­tät des Klägers. Sie dient der Befrie­di­gung sexuel­ler Bedürf­nisse und damit elemen­ta­rer Grund­be­dürf­nisse.

Sexual­be­glei­tung ist zwar unter § 76 Absatz 2 SGB IX nicht ausdrück­lich als Leistung der sozia­len Teilhabe genannt. Die Aufzäh­lung dort ist aller­dings nur als beispiel­haft und nicht abschlie­ßend zu betrach­ten. Art und Umfang der Leistun­gen zur sozia­len Teilhabe hängen von den Umstän­den des Einzel­falls sowie dem Rehabi­li­ta­ti­ons­ziel ab.

Auch Intim­be­reich gehört zur sozia­len Teilhabe

Der Bereich der Sexua­li­tät ist ein relevan­ter Aspekt des sozia­len Lebens. Auch dann, wenn die Sexual­as­sis­tenz in einem von der Außen­welt abgeson­der­ten Intim­be­reich erfolgt und nicht direkt eine Teilnahme am Leben in der Gemein­schaft ermög­licht.

Die persön­li­che Entwick­lung, das seeli­sche Befin­den und das Selbst­be­wusst­sein eines Menschen werden durch eine selbst­be­stimmte Sexua­li­tät erheb­lich beein­flusst. Somit ist sie Voraus­set­zung für eine wirksame und gleich­be­rech­tigte Teilhabe und soziale Einglie­de­rung des Menschen mit Behin­de­rung.

Nach Ansicht der Kammer ist es daher falsch, den Kontakt mit anderen Menschen in der Öffent­lich­keit als Voraus­set­zung für die gesell­schaft­li­che Integra­tion eines Menschen mit Behin­de­rung zu fordern. Auch im priva­ten und vertrau­ten Bereich ist sicher­zu­stel­len, dass die soziale Teilhabe des behin­der­ten Menschen nicht einge­schränkt wird.

Die Kranken­kasse wird deshalb verpflich­tet, die Kosten für Sexual­as­sis­ten­zen des Klägers im Rahmen eines persön­li­chen Budgets zu überneh­men und eine entspre­chende Zielver­ein­ba­rung zu treffen.

Quelle: SG Hanno­ver vom 11.07.2022 – S 58 U 134/18