Kein Sex mehr ohne Hilfe: Ein Mann erlitt auf dem Heimweg von seiner Berufsausbildung einen schweren Verkehrsunfall, bei dem er sich unter anderem eine Subarachnoidalblutung und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma mit nachfolgender Ataxie und Sprachstörung zuzog.
Bei einer Subarachnoidalblutung läuft Blut in den Raum (Subarachnoidalraum) zwischen der inneren Schicht (Pia mater) und der mittleren Schicht (Arachnoidea mater) der Gewebe (Meningen), die das Gehirn umgeben.
Noch heute leidet der Mann unter hochgradigen Funktionsbeeinträchtigungen und der Hilfebedürftigkeit in allen Alltagsverrichtungen. Er benötigt Hilfe beim An- und Ausziehen, Essen und bei der Körperhygiene.
Seine damalige Krankenkasse erkannte den Unfall als Arbeitsunfall an und zahlt dem Mann seit 2006 eine Verletztenrente. Das zuständige Versorgungsamt hat bei dem Mann einen Grad der Behinderung von 100 und die Merkzeichen „aG“, „G“, „H“ und „B“ festgestellt.
2016 beantragte der Mann vor Gericht zusätzlich die Kostenübernahme von monatlich vier Besuchen einer zertifizierten Sexualbegleiterin. Dem wurde zunächst auch stattgegeben und ein Budgetvertrag für einen befristeten Zeitraum geschlossen. Einem ersten Folgeantrag stimmte die Krankenkasse noch zu, einem zweiten nicht mehr.
Der Grund: Dem Kläger sei es wegen der Folgen des Arbeitsunfalls bisher nicht möglich gewesen, eine intime Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Zur Befriedigung seines Sexualtriebs nehme er daher die Dienste von Prostituierten in Anspruch.
Es bestehe nach Auffassung der Krankenkasse keine gesetzliche Grundlage, die hierdurch entstehenden Kosten als Leistung der gesetzlichen Unfallversicherung zu übernehmen. Hiergegen legte der Mann Widerspruch ein. Nach § 26 SGB VII sei Sexualbegleitung als Element der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu betrachten. Den Widerspruch lehnte die Kasse ab, woraufhin der Mann Klage erhob.
Kostenübernahme von Sexualbegleitung
Das Gericht hat der Klage stattgegeben. Demnach hat der Kläger tatsächlich Anspruch auf Leistungen zur sozialen Teilhabe und Gewährung eines persönlichen Budgets für die Inanspruchnahme von Sexualbegleitung. Nach §§ 26 Abs. 1, 29, 39 Abs. 1 SGB VII, § 76 SGB IX haben Versicherte neben einem Anspruch auf Heilbehandlungen und Leistungen zur medizinischen Rehabilitation auch einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur sozialen Teilhabe.
Die Dienste von Sexualbegleitungen fallen nach Ansicht des Gerichts hierunter. Die Berechnung des Budgets für die Leistungen zwischen den Parteien ergibt sich aus § 29 Abs. 4 SGB IX.
Mit Rehabilitation ist demnach nicht nur die gesundheitliche und berufliche Wiedereingliederung gemeint, sondern die Eingliederung in die Gesamtheit zwischenmenschlicher Ordnung und Beziehungen.
Elementare Grundbedürfnisse müssen befriedigt werden können
Als Leistungen zur sozialen Teilhabe werden Leistungen angesehen, die den behinderten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern. Leistungen der sozialen Rehabilitation sind Maßnahmen, die zur persönlichen Lebensführung gehören und die Lebensqualität verbessern, die sie elementare Grundbedürfnisse befriedigen. Letztlich entscheidet jedoch der konkrete Fall über geeignete Maßnahmen, die für den betroffenen Menschen eine gesellschaftliche Integration ermöglichen.
In dem hier behandelten Fall ist es dem Kläger nicht möglich, eine partnerschaftliche Beziehung zu einer Frau aufzubauen und seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Somit habe die Sexualbegleitung ohne Zweifel ihren Schwerpunkt in der Verbesserung der Lebensqualität des Klägers. Sie dient der Befriedigung sexueller Bedürfnisse und damit elementarer Grundbedürfnisse.
Sexualbegleitung ist zwar unter § 76 Abs. 2 SGB IX nicht ausdrücklich als Leistung der sozialen Teilhabe genannt. Die Aufzählung dort ist allerdings nur als beispielhaft und nicht abschließend zu betrachten. Art und Umfang der Leistungen zur sozialen Teilhabe hängen von den Umständen des Einzelfalls sowie dem Rehabilitationsziel ab.
Auch Intimbereich gehört zur sozialen Teilhabe
Der Bereich der Sexualität ist ein relevanter Aspekt des sozialen Lebens. Auch dann, wenn die Sexualassistenz in einem von der Außenwelt abgesonderten Intimbereich erfolgt und nicht direkt eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht.
Die persönliche Entwicklung, das seelische Befinden und das Selbstbewusstsein eines Menschen werden durch eine selbstbestimmte Sexualität erheblich beeinflusst. Somit ist sie Voraussetzung für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und soziale Eingliederung des Menschen mit Behinderung.
Nach Ansicht der Kammer ist es daher falsch, den Kontakt mit anderen Menschen in der Öffentlichkeit als Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration eines Menschen mit Behinderung zu fordern. Auch im privaten und vertrauten Bereich ist sicherzustellen, dass die soziale Teilhabe des behinderten Menschen nicht eingeschränkt wird.
Die Krankenkasse wird deshalb verpflichtet, die Kosten für Sexualassistenzen des Klägers im Rahmen eines persönlichen Budgets zu übernehmen und eine entsprechende Zielvereinbarung zu treffen.
Quelle: SG Hannover vom 11.07.2022 – S 58 U 134/18