Hand reichen (Symbolbild)
Hand reichen (Symbol­bild)

Sachver­halt: Ärztin wird wegen Suizid eines Patien­ten angeklagt

Die Staats­an­walt­schaft Gießen hat der Angeschul­dig­ten mit Ankla­ge­schrift vom 8. Dezem­ber 2011 vorge­wor­fen, in Gießen am 5. und 6. Novem­ber 2010 fahrläs­sig durch Unter­las­sen den Tod eines Menschen verur­sacht zu haben. Am Nachmit­tag des 5. Novem­ber 2010 wurde der Patient nach Überwei­sung durch einen nieder­ge­las­se­nen Arzt wegen Suizid­ge­fahr in die Klinik für foren­si­sche Psych­ia­trie gebracht. Im Rahmen des Eingangs­ge­sprächs erklärte der Patient gegen­über der Angeschul­dig­ten, die dort als zustän­dige Ärztin tätig war, er wolle sich nicht umbrin­gen, befürchte aber, er werde es tun.

Auf seine Bitte hin wurde der Patient statio­när aufge­nom­men. Die Angeschul­digte stufte den Patien­ten nicht als suizid­ge­fähr­det ein und ordnete weder die Gabe sedie­ren­der Medika­mente noch die Wegnahme von Gegen­stän­den des Patien­ten an, die, wie etwa ein Gürtel, für einen Suizid geeig­net waren.

Am Morgen des 6. Novem­ber 2010 wurde der Patient tot in seinem Zimmer aufge­fun­den. Er hatte sich mit seinem Gürtel im Bad erhängt.

Mit Beschluss vom 19. März 2012 hat das AG Gießen die Zulas­sung der Anklage und die Eröff­nung des Haupt­ver­fah­rens abgelehnt. Hierge­gen richten sich die sofor­ti­gen Beschwer­den der Staats­an­walt­schaft Gießen vom 26. März 2012 und der Neben­klä­ger vom 29. März 2012.

Entschei­dung: Der Angeschul­dig­ten kann „das bloße Untätig­blei­ben“ nicht „straf­recht­lich zum Vorwurf“ gemacht werden

In der Sache haben beide Rechts­mit­tel keinen Erfolg. Es besteht kein hinrei­chen­der Tatver­dacht gemäß § 203 StPO, die Angeschul­digte habe eine fahrläs­sige Tötung durch Unter­las­sen began­gen (§§ 222, 13 Absatz 1 StGB). Bei vorläu­fi­ger Tatbe­wer­tung hat die Angeschul­digte nicht dadurch den Tod eines anderen Menschen pflicht­wid­rig verur­sacht, dass sie dem Patien­ten keine Medika­mente verord­net und ihm zum Suizid geeig­nete Gegen­stände belas­sen hat.

Straf­bar nach den §§ 211 ff. StGB ist die Tötung eines „anderen“ Menschen. Die Selbst­tö­tung unter­fällt demge­gen­über nicht dem Tatbe­stand eines Tötungs­de­likts. Die Mitver­ur­sa­chung eines Selbst­mor­des ist damit grund­sätz­lich ebenso straf­frei wie die fahrläs­sige Ermög­li­chung der eigen­ver­ant­wort­li­chen Selbst­tö­tung.

So kann derje­nige, der mit Gehil­fen­vor­satz den Tod eines Selbst­mör­ders mit verur­sacht, nicht bestraft werden. Schon dies verbie­tet es aus Gründen der Gerech­tig­keit, denje­ni­gen zu bestra­fen, der nur fahrläs­sig eine Ursache für den Tod eines Selbst­mör­ders setzt.

Er ist sich – bei bewuss­ter Fahrläs­sig­keit – wie der Gehilfe der mögli­chen Todes­folge bewusst, nimmt sie aber anders als jener nicht billi­gend in Kauf. Bei unbewuss­ter Fahrläs­sig­keit fehlt sogar schon das Bewusst­sein der mögli­chen Todes­folge.

Es geht nicht an, das mit einer solchen inneren Einstel­lung verübte Unrecht straf­recht­lich stren­ger zu bewer­ten als die Tat desje­ni­gen, der mit Gehil­fen­vor­satz dasselbe Unrecht bewirkt, nämlich den Tod eines Selbst­mör­ders mitver­ur­sacht. Aus der Straf­lo­sig­keit von Anstif­tung und Beihilfe zur Selbst­tö­tung folgt zwingend, dass der Garant, der nichts zur Verhin­de­rung des freiver­ant­wort­li­chen Suizids unter­nimmt, ebenfalls straf­frei bleiben muss.

Hätte die Angeschul­digte durch aktives Tun Beihilfe zum eigen­ver­ant­wort­li­chen Suizid des Patien­ten geleis­tet, indem sie ihm etwa in Kennt­nis seiner Suizid­ab­sicht den Gürtel gereicht hätte, käme eine Straf­bar­keit wegen Beihilfe aufgrund der Straf­lo­sig­keit des Suizids von vornher­ein nicht in Betracht.

Ausge­hend hiervon würde es unter Berück­sich­ti­gung der oben genann­ten Grund­sätze einen unerträg­li­chen Wertungs­wi­der­spruch darstel­len, wollte man der Angeschul­dig­ten das bloße Untätig­blei­ben im Hinblick auf die Verab­rei­chung sedie­ren­der Medika­mente und der Wegnahme des Gürtels straf­recht­lich zum Vorwurf machen.

Garan­ten­stel­lung des Arztes

Dem steht auch nicht entge­gen, dass sich aus dem vorlie­gen­den ärztli­chen Behand­lungs­ver­trag beson­dere Sorgfalts­pflich­ten der Angeschul­dig­ten ergaben. Die beson­dere Garan­ten­stel­lung des Arztes gebie­tet es unter anderem, den Patien­ten im Rahmen der von ihm gewähl­ten Thera­pie keinen vermeid­ba­ren Risiken auszu­set­zen, wie sie etwa mit der erstma­li­gen Anwen­dung einer neuar­ti­gen Entzie­hungs­the­ra­pie verbun­den sind (vgl. hierzu BGH vom 18. Juli 1978 – 1 StR 209/78).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entschei­dung des BGH vom 4. Juli 1984 (Az.: 3 StR 96/84), wonach das Eingrei­fen des anwesen­den Garan­ten geboten ist, wenn der Lebens­müde nach Beendi­gung seines Selbst­tö­tungs­ver­suchs das Bewusst­sein verlo­ren hat.

Auf die Frage, ob es ab dem Zeitpunkt der Bewusst­lo­sig­keit zu einem straf­be­grün­den­den Tatherr­schafts­wech­sel kommt, weil der Garant damit zum Herrn über Leben oder Tod avanciert, kommt es im vorlie­gen­den Fall nicht an. Die Angeschul­digte war bei dem Suizid des Patien­ten nicht anwesend und konnte so zu keinem Zeitpunkt Tatherr­schaft über das Gesche­hen erlan­gen

Willens­bil­dung des Patien­ten

Eine straf­lose Betei­li­gung am Suizid kommt aller­dings nur dann in Betracht, wenn die Willens­bil­dung des Suizi­den­ten einwand­frei ist und der Selbst­tö­tungs­wille fortbe­steht. Jedoch steht einem Freispruch der Angeschul­dig­ten bei den gegebe­nen Beweis­mög­lich­kei­ten nach Akten­lage gemäß dem Grund­satz „in dubio pro reo“ wahrschein­lich auch insoweit nichts entge­gen.

Es kann nach den Erkennt­nis­sen der Suizid­for­schung von einem eigen­ver­ant­wort­li­chen Handeln des Lebens­mü­den nur in Ausnah­me­fäl­len ausge­gan­gen werden. Auch wenn sich Zweifel an einem eigen­ver­ant­wort­li­chen Handeln des Patien­ten ergeben, kann am Ende nicht die Feststel­lung getrof­fen werden, der Patient habe sich nicht eigen­ver­ant­wort­lich das Leben genom­men.

So ist nach Einschät­zung des Sachver­stän­di­gen bei dem Patien­ten zur Tatzeit die Diagnose einer schwe­ren depres­si­ven Episode mit psycho­ti­schen Sympto­men zu stellen. Die Psychose, die nach Einschät­zung des Sachver­stän­di­gen im Vorder­grund stand, beruhte auf der wahnhaf­ten Überzeu­gung des Patien­ten, er habe sich beim Hantie­ren mit Ratten­gift im Frühjahr 2010 Gesund­heits­schä­den zugezo­gen.

Ausrei­chend schwere psycho­ti­sche Symptome können, wie der Sachver­stän­dige überzeu­gend aufge­zeigt hat, zu einer Aufhe­bung der freien Willens­bil­dung führen. Jedoch befand sich der Patient genau an der Grenze zwischen freier Willens­bil­dung und Verlust des freien Willens durch psycho­tisch aufge­zwun­gene Handlun­gen.

Diese Annahme stützt der Sachver­stän­dige insbe­son­dere auf die wieder­holte Aussage des Patien­ten, er wolle leben, habe aber Angst davor, sich etwas anzutun. Damit distan­zierte sich das „Gesunde Ich“ von Suizid­ab­sich­ten, wobei das „Gesunde Ich“ zugleich das Andrän­gen psycho­ti­scher Handlungs­im­pulse bemerkte und hierauf mit Angst reagierte.

Da sich der Patient in einem Grenz­be­reich von eigen­ver­ant­wort­li­cher Willens­bil­dung und ausge­schlos­se­ner Eigen­ver­ant­wort­lich­keit befand, müssen sich die unüber­wind­bar bestehen­den Zweifel an der Eigen­ver­ant­wort­lich­keit seines Handelns notwen­dig zuguns­ten der Angeschul­dig­ten auswir­ken.

Dieser Beitrag stammt aus der Ausgabe November/Dezember 2012 der Rechts­de­pe­sche.