Suizid
Seeli­sche Schwan­kun­gen bei der Gemüts­ver­fas­sung können einen enormen Einfluss auf den Willen zum Suizid haben Bild: Sjstudio357 | Dreamstime.com

Angesichts der seit dem Urteils­spruch des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts von Februar 2020 weitge­hend ungere­gel­ten Frage der Suizid-Assis­tenz in Deutsch­land drängt die Bundes­ar­beits­ge­mein­schaft der Senio­ren­or­ga­ni­sa­tio­nen (BAGSO) den Gesetz­ge­ber zu raschem Handeln. „Die BAGSO ruft die Abgeord­ne­ten des Deutschen Bundes­ta­ges auf, das Verfah­ren für einen freiver­ant­wort­li­chen Suizid und die Hilfe durch Dritte hierbei möglichst bald zu regeln und sich bei der Ausge­stal­tung im Rahmen der Vorga­ben des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts an der Würde und dem Wert des Lebens auch im hohen Alter zu orien­tie­ren“, schreibt der Bundes­ver­band.

Paragraf 217 StGB für verfas­sungs­wid­rig erklärt – Kontro­verse um „Sterbe­hilfe-Vereine“

Seit dem Aufse­hen erregen­den Karls­ru­her Urteil ist geschäfts­mä­ßige Unter­stüt­zung beim Suizid nicht mehr von Strafe bedroht. Zuvor hatte der Paragraf 217 des Straf­ge­setz­buchs (StGB) bis zu drei Jahre Gefäng­nis (oder eine Geldstrafe) für all dieje­ni­gen vorge­se­hen, welche „in der Absicht, die Selbst­tö­tung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäfts­mä­ßig die Gelegen­heit gewährt, verschafft oder vermit­telt“.

Gegen die Regelung hatten damals schwer­kranke Patien­ten, Sterbe­hil­fe­ver­eine und Ärzte Verfas­sungs­be­schwerde einge­legt. Als ein Auslö­ser der politi­schen Debatte gilt der Vorstoß des frühe­ren Hambur­ger Justiz­se­na­tors Roger Kusch, der seit 2009 eine organi­sierte Form der Suizid­as­sis­tenz nach nieder­län­di­schem oder schwei­ze­ri­schem Vorbild auch in Deutsch­land etablie­ren wollte.

Nun jedoch bestehe die Gefahr, „dass sich Struk­tu­ren und Handlungs­kon­zepte entwi­ckeln oder gar etablie­ren, die politisch nicht gewollt sein können“, erklärte der Dachver­band von Verei­nen mit Senio­ren­be­zug mit Sitz in Bonn. „So muss sicher­ge­stellt werden, dass mit der Not oder der Unsicher­heit von Menschen keine Geschäfte gemacht werden.“

Zu seiner Forde­rung hat die BAGSO eine umfang­rei­che Stellung­nahme vorge­legt. Der Entschluss, sein Leben aus freien Stücken zu beenden, sei meist das Ergeb­nis eines langen Nachden­kens­pro­zes­ses (nicht nur) bei älteren Menschen. Neben chroni­schen Schmer­zen seien Pflege­be­dürf­tig­keit, Einsam­keit, Depres­sio­nen sowie das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, häufige Auslö­ser eines Suizid­wun­sches.

Seeli­sche Schwan­kun­gen bei der Gemüts­ver­fas­sung könnten aller­dings einen enormen Einfluss auf den Willen zum Suizid haben. „Das neu zu regelnde Verfah­ren der Suizid­as­sis­tenz muss also der Frage nach der Stabi­li­tät (Langfris­tig­keit) des Sterbe­wun­sches eine beson­dere Aufmerk­sam­keit schen­ken“, heißt es.

BAGSO: Neutrale Beratung soll Voraus­set­zung für externe Hilfe werden

Bevor jemand externe Hilfe beim Sterben in Anspruch nimmt, müsse dem Rechnung getra­gen werden. Die BAGSO schlägt hier ein Modell vor, das dem bei Schwan­ger­schafts­ab­brü­chen ähnelt: Vor einer exter­nen Hilfe, den Sterbe­wunsch umzuset­zen, wäre demnach eine Beratung erfor­der­lich, um die Sterbe­hilfe durch Dritte recht­lich zuläs­sig zu machen.

„In einer solchen Beratung muss eine umfas­sende Betrach­tung der indivi­du­el­len Lebens­si­tua­tion erfol­gen; dabei sind auch mögli­che Hilfs- und Entlas­tungs­an­ge­bote aufzu­zei­gen und zu erörtern.“ Zwingend notwen­dig sei, dass diese Beratung durch „staat­li­che oder staat­lich kontrol­lierte Insti­tu­tio­nen durch­ge­führt werden, die keiner­lei Gewinn­in­ter­es­sen verfol­gen“, schrei­ben die Initia­to­ren weiter – sonst bestehe die Gefahr einer Inter­es­sen-Kolli­sion.

Neben der Beratungs­pflicht fordert die BAGSO stärkere Präven­ti­ons­ar­beit, damit es überhaupt gar nicht erst zu Selbst­mord­ge­dan­ken komme. „Eine Suizid­ge­fähr­dung muss so früh wie möglich erkannt und fachli­che sowie mensch­li­che Hilfe angebo­ten werden“, heißt es.

Hierbei spiel­ten die Förde­rung von Teilhabe und Inklu­sion, eine hochwer­tige medizi­ni­sche und gegebe­nen­falls pflege­ri­sche Betreu­ung sowie eine rasche Früherken­nung von psychi­schen Störun­gen und Nöten eine Rolle. Zudem brauche es eine hochwer­tige, flächen­de­ckend verfüg­bare pallia­tive und hospiz­li­che Versor­gung. „Auch in Pflege­hei­men braucht es eine quali­fi­zierte Hospiz- und Pallia­tiv­kul­tur über das bishe­rige Maß hinaus.“

Über 9000 regis­trierte offizi­elle Suizid­fälle im Jahr 2020 – Tendenz in vergan­ge­nen Jahrzehn­ten sinkend

Im aktuells­ten Berichts­jahr 2020 haben sich in Deutsch­land – laut den Zahlen des Statis­ti­schen Bundes­am­tes – 9206 Menschen das Leben genom­men. Rund 75 Prozent jener, die den Suizid in die Tat umsetz­ten, waren Männer. Das Durch­schnitts­al­ter lag bei 58,5 Jahren. Aller­dings ist die Zahl der Selbst­tö­tun­gen seit einigen Jahrzehn­ten tenden­zi­ell rückläu­fig. Zum Vergleich: Anfang der 1980er-Jahre lag die Zahl der (offizi­ell regis­trier­ten) Suizide noch bei mehr als 18.000 jährlich; bis zur Jahrtau­send­wende war die Zahl auf rund 12.000 pro Jahr zurück­ge­gan­gen.

Zum Dachver­band BAGSO gehören derzeit 122 Verbände aus unter­schied­lichs­ten Berei­chen, die einen Bezug zur Senio­ren­ar­beit haben. Neben Senio­ren- und 60-Plus-Arbeits­ge­mein­schaf­ten der politi­schen Parteien sind auch Gewerk­schaf­ten, Berufs­ver­bände, Selbst­hil­fe­ver­eine, konfes­sio­nelle oder kirchen­nahe Verbände, inter­kul­tu­relle Vereine, diverse Stiftun­gen, Ärzte­netz­werke oder Sport-Dachver­bände Mitglied.