In der Augenheilkunde ist vermehrt zu beobachten, dass Patienten zur ambulant operativen Versorgung in Tageskliniken oder OP-Zentren überwiesen werden. Diese OP-Zentren sind so gut wie gar nicht mehr konservativ tätig, bieten vielmehr ausschließlich die operative Leistung an. Der Patient wird hier häufig nur einmal vorstellig, nämlich zu eben dieser OP. Zwischen überweisendem und operativ tätigem Arzt findet dabei regelmäßig eine sogenannte horizontale Arbeitsteilung statt – mit unter Umständen haftungsrechtlichen Konsequenzen, wie auch der folgende Fall zeigt.
Sachverhalt
Der Patient war über mehrere Jahre bei einer Augenärztin in Behandlung. Diese stellte im Jahr 2010 für das rechte Auge die Diagnose einer trockenen Makuladegeneration (Erkrankung der Augennetzhaut). Im weiteren Verlauf erfolgten jährliche Kontrollen, bei denen keine wesentlichen Veränderungen festgestellt wurden. Insbesondere war auch die Sehschärfe (Visus) stets gleichbleibend.
Im April 2013 beklagte der Patient erstmals eine Sehverschlechterung rechts. Der Visus lag bei 30%. Mit der Diagnose Kataract (Trübung der Augenlinse „Grauer Star“) wurde der Patient an ein augenärztliches OP-Zentrum überwiesen. Da der Patient die von seinem Wohnort relativ weite Anfahrt in das OP-Zentrum lediglich nur einmal durchführen wollte, wurde die Voruntersuchung zur OP noch in der Praxis der überweisenden Augenärztin durchgeführt.
Die Operation erfolgte komplikationslos. Postoperativ fiel jedoch ein Visus von 0,15 auf, der sich über einen Zeitraum von 6 Wochen nicht verbesserte. Im Rahmen einer postoperativ durchgeführten Fluoreszenzangiografie (bildgebendes Verfahren zur Diagnostik von Erkrankungen des Augenhintergrunds) wurde schließlich die Diagnose einer feuchten Makuladegeneration gestellt.
Rechtliche Beurteilung
Sowohl der überweisenden Augenärztin als auch dem Operateur ist ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen.
Im Rahmen der OP-Voruntersuchung hätte die plötzliche Sehverschlechterung weiter abgeklärt werden müssen. Trotz aktenkundiger trockener Makuladegeneration wurden keine weiteren präoperativen Untersuchungen zur Abklärung der postoperativen Visusprognose und Planung der postoperativen Refraktion durchgeführt. Auch hätte abgeklärt werden müssen, ob alleine die Linse für die Sehschärfe verantwortlich war oder ob auch andere Faktoren eine Rolle spielten.
Nach Auffassung der vom Patienten eingeschalteten Schlichtungsstelle der zuständigen Landesärztekammer wäre bei Durchführung einer präoperativen Fluoreszenzangiografie ein reaktionspflichtiger Befund der feuchten Makuladegeneration festgestellt worden. Der Operateur hätte nicht einfach die Diagnose der Überweiserin übernehmen dürfen, sondern hätte sie selbst noch einmal überprüfen müssen. Insbesondere hätte er der plötzlichen Visusverschlechterung bei mitgeteilter trockener Makuladegeneration nachgehen müssen.
Es handelt sich um einen Fall der sogenannten horizontalen Arbeitsteilung, bei der der Patient von gleichberechtigten Ärzten unterschiedlicher oder auch derselben Fachrichtung betreut wird. Soweit Ärzte der gleichen Fachrichtung tätig sind, ist der sonst auch in diesem Bereich der Arbeitsteilung übliche Vertrauensgrundsatz nur eingeschränkt anwendbar. Denn die Befunde sind für den nachfolgenden Arzt leichter nachzuvollziehen. Insbesondere bei der Weiter- bzw. Mitbehandlung durch einen Arzt derselben Fachrichtung ist dieser also dazu verpflichtet, die Diagnose und die vorgeschlagene Therapie noch einmal eigenständig zu überprüfen. Eine Übernahme der vom vorbehandelnden Arzt erhobenen Befunde ist zwar möglich, sollte aber die begründete Ausnahme bleiben.
Hätte der Operateur im vorliegenden Fall sein Augenmerk nochmals auf die plötzliche Sehverschlechterung gelegt, wäre ihm aufgefallen, dass die bisherige trockene Makuladegeneration in eine feuchte Form übergegangen ist. Möglicherweise wäre die OP dann gar nicht durchgeführt worden und der Patient hätte unmittelbar die dringend notwendige Behandlung der Makuladegeneration erhalten, um eine weitere Erblindung zumindest hinauszuzögern.
Im vorliegenden Fall kam es wegen der mangelnden Befunderhebung zu einer Beweislastumkehr zum Nachteil beider Behandler. Danach hätten sie zu beweisen gehabt, dass die OP bei gegebener feuchter Makuladegeneration indiziert war und die Visusverschlechterung auf 0,15 auch bei rechtzeitiger Behandlung zur Entstehung gelangt wäre. Dieser Beweis konnte schlechterdings nicht geführt werden, weshalb die Ärzte sowohl ein Schmerzensgeld im fünfstelligen Bereich als auch vermehrte Bedürfnisse des Patienten infolge seiner gestiegenen Hilfsbedürftigkeit zu verantworten hatten.
Fazit
Auch wenn es manchmal überflüssig erscheinen mag und insbesondere der Patient dies als Zeitverschwendung empfindet, sollte der fachgleiche Arzt, der als Mit- oder Weiterbehandler tätig wird, immer die durch den Erstbehandler erhobenen Befunde überprüfen. Hierdurch kann vermieden werden, dass überflüssige Behandlungen durchgeführt bzw. dringend notwendige Behandlungen verzögert werden. Das Haftungsrisiko würde zugleich minimiert.
Quelle: RA Isabel A. Ibach/HDI Versicherung AG, Köln