Patientin gegen ihren Willen fixiert
Die Beschwerdeführerin stürzte am Abend des 6. Juli 2012 vom Pferd. Sie wurde daraufhin aufgrund von auftretender Gedächtnislücken und Schmerzen in das Universitätsklinikum Kiel gebracht. Bei den Untersuchungen wurden ein Schädel-Hirn-Trauma sowie diverse Prellungen diagnostiziert. Des Weiteren wurden weitere Untersuchungen zu möglichen Hirnverletzungen durchgeführt. Am Folgetag wurde der Patientin eine Entlassung zwecks weiterer Beobachtungen und zum Ausschluss schwerwiegender gesundheitlicher Schäden verwehrt.
Entgegen der Empfehlung der Ärzte lehnte die Frau einen weiteren Verbleib im Krankenhaus ab. Sie verließ daraufhin das Klinikgebäude und konnte nur durch herbeigerufene Polizeibeamte dazu überredet werden, zur Aufklärung der Angelegenheit auf die Station zurückzukehren. Nachdem die Patientin eine Fesselung energisch ablehnte, wurde sie unter Gewaltanwendung auf das Bett gelegt und dort an den Armen, Beinen und an der Hüfte fixiert. Dabei waren der beschuldigte Stationsarzt, ein beschuldigter Pfleger und die Polizeibeamten beteiligt.
Ein ebenfalls beschuldigter Amtsarzt, ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erstellte kurz darauf ein ärztliches Gutachten. Er diagnostizierte nach Angaben des diensthabenden Arztes unter anderem eine Scherverletzung im Stammganglienbereich und zudem ein Durchgangssyndrom mit Erregungszuständen. Er ordnete eine vorläufige Unterbringung auf der Intensivstation bis zum 8. Juli 2012 an. Auch eine ebenso beschuldigte Richterin verwies mit Beschluss vom 7.7.2012 für diesen Zeitraum auf eine Unterbringung im geschlossenen Bereich eines Krankenhauses, da eine erhebliche Eigengefährdung gemäß § 7 PsychKG vorlag.
Das Landgericht (LG) Kiel entschied auf die Beschwerde der Patientin hin, dass diese durch obigen Beschluss in ihren Rechten verletzt worden sei. Darüber hinaus sei auch die Anordnung zur vorläufigen Unterbringung durch den Amtsarzt rechtswidrig gewesen, wie das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig-Holstein feststellte. Der Anordnung habe kein ärztliches Gutachten vorgelegen, das die Notwendigkeit einer etwaigen Unterbringung begründet. Daraufhin erstattete die Beschwerdeführerin Strafanzeige.
Die Staatsanwaltschaft bei dem LG Kiel stellte das Ermittlungsverfahren mit Bescheid vom 6. Juli 2016 hinsichtlich des Amtsarztes und der Richterin gemäß § 170 Absatz 2 StPO sowie hinsichtlich des Stationsarztes und des Pflegers im Sinne von § 153 Absatz 1 Satz 2 StPO ein. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben erfolglos. Die Patientin hatte sich mittels eines Klageerzwingungsantrags vergebens gegen die Verfahrenseinstellung gewehrt.
Verfassungsklage vom Bundesverfassungsgericht stattgegeben
Eine daraufhin eingelegte Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungsverfahren wurde vom BVerfG am 15.1.2020 gegen drei der vier Beschuldigten stattgegeben (2 BvR 1763/16). Sie ist hinsichtlich der Verfahrenseinstellung gegen den Amtsarzt, den Stationsarzt und den Pfleger begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Patientin in ihrem Recht auf effektive Strafverfolgung aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 und 2 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 GG.
Normalerweise gebietet das Gesetz ein Recht auf effektive Strafverfolgung nur in Ausnahmefällen. Handelt es sich jedoch – wie in diesem Fall – um erhebliche Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit einer Person, so kann ein solches Recht in Betracht kommen.
Vor dieser Grundlage ist die Zwangsfixierung der Patientin ausreichend, um einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung zu begründen. Eine Fesselung entgegen des Willen des Betroffenen verletzt das Freiheitsgrundrecht des Menschen (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG). Auch die fehlende Einsicht bei einer Person lässt das Recht auf Freiheit nicht fallen; die Freiheit ist auch psychisch Kranken gewährt. Eine 5- oder 7‑Punkt-Fixierung ist eine Freiheitsberaubung im Sinne von Artikel 104 Absatz 2 GG, soweit es sich nicht ausschließlich um eine kurzfristige Maßnahme handelt, die eine Dauer von einer halben Stunde unterschreitet.
Ein Verzicht auf eine effektive Strafverfolgung kann zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates führen. Gerade dann, wenn es darum geht, dass Amtsträger bei ihren hoheitlichen Tätigkeiten Straftaten vollziehen und in Fällen, in denen sich die Opfer in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ zum Staat befinden und diesem eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt.
Verfahrenseinstellung des OLG wird Anspruch auf effektive Strafverfolgung nicht gerecht
Hinsichtlich des Stationsarztes und des Pflegers gab es laut BVerfG keine tatbestandlichen Voraussetzungen zur Verfahrenseinstellung gemäß § 153 Absatz 1 Satz 2 StPO. Vielmehr wäre eine weite Aufklärung des Sachverhalts von Nöten gewesen. Dabei hat das OLG auch bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals des öffentlichen Verfolgungsinteresses nicht beachtet, dass es Konstellationen gibt, in denen ein Recht auf effektive Strafverfolgung anerkannt werden muss.
Insofern wurden Bedeutung und Tragweite von Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 104 GG verkannt.
Des Weiteren wurden auch den bei der Fixierung entstandenen Personenschäden keinerlei Bedeutung zugewiesen. Dies wäre jedoch, gerade im Hinblick auf Artikel 2 Absatz 2 GG notwendig gewesen, auch wenn diese lediglich gering ausfielen.
Ferner verletzt der Beschluss des OLG die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektive Strafverfolgung, als dass es ihren Klageerzwingungsantrag als unzulässig verwirft. Ein Klageerzwingungsverfahren ist nämlich dann statthaft, wenn – wie in diesem Fall – geltend gemacht wird, dass es an allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen der betreffenden Befugnisform fehle.
Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Amtsarzt genügt ebenfalls nicht den Anforderungen der Verfassung. Sie erfolgte ohne hinreichende Ermittlungen hinsichtlich etwaiger fahrlässiger Straftaten und deren Konsequenzen. Da die Beschwerdeführerin behauptete durch die Fixierung posttraumatische Belastungsstörungen erlitten zu haben, hätte es rechtlich gesehen die Hinzuziehung sachverständigen Rates benötigt.
Hingegen ist die Verfassungsbeschwerde gegenüber der Verfahrenseinstellung bezüglich der Richterin unbegründet. Die Einstellung ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu bemängeln, da es keine Anhaltspunkte für eine begangene Rechtsbeugung der Richterin im Zusammenhang mit der Entscheidung gibt.
Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Beschluss, dass das Verfahren zu Unrecht eingestellt wurde und verwies den Fall zur erneuten Beurteilung an das OLG Schleswig-Holstein zurück.
Quelle: BVerfG-Pressemitteilung Nummer 5/2020 vom 22. Januar 2020