Hausärzte sollten eine Behandlung nur dann übernehmen, wenn sie dazu auch in der Lage sind.
Auch für Hausärzte in Not gilt: Eine nur abgespeckte Pflich­ten­über­nahme (z.B. Behand­lung mittels Ferndia­gno­sen) ist unzuläs­sig. Es gilt also: Entwe­der ganz oder gar nicht. Bild: Marco Di Bella mit Material von Stokkete/Dreamstime.com

Eine weitere hausärzt­lich tätige Kolle­gin fiel in dieser Situa­tion ein halbes Jahr krank­heits­be­dingt aus. Diese hatte zuvor auch das Senio­ren­heim des Ortes betreut. Zum Ende des Winters herrschte „Grippe­zeit“. Für die prakti­zie­ren­den Ärzte vor Ort bahnte sich darauf­hin eine kaum mehr beherrsch­bare Situa­tion an.

Folgen regio­na­ler hausärzt­li­cher Unter­ver­sor­gung

Auch auf unseren Hausarzt kam eine erheb­li­che Mehrbe­las­tung zu. Er verzeich­nete im Vergleich zum gleichen Quartal des Vorjah­res einen Fallzahl­zu­wachs von rund 300 Patien­ten. In der Woche, in der sich der hier beschrie­bene Fall ereig­nete, fanden sich im Durch­schnitt zur Vor- und Nachmit­tags­sprech­stunde eines Tages insge­samt über die bereits verge­be­nen Termine hinaus rund 40 Patien­ten zusätz­lich ein.

Darüber hinaus suchte natür­lich das nunmehr „verwaiste“ Senio­ren­heim, dessen betreu­ende Ärztin sich selbst im Kranken­stand befand, dringend nach einem Ersatz. Nachdem bereits Nachfra­gen bei den weite­ren verblie­be­nen Hausärz­ten in der Region unter Hinweis auf mangelnde Kapazi­tä­ten abgelehnt worden waren, erklärte sich unser Hausarzt trotz bereits bestehen­der Belas­tung über das Limit hinaus bereit, in dieser Notsi­tua­tion einzu­sprin­gen.

Seine Zusage erfolgte aller­dings unter der Prämisse, selbst aus Kapazi­täts­grün­den nur eine absolute Basis­be­treu­ung leisten zu können. Insbe­son­dere könne er keine Routi­ne­vi­si­ten wahrneh­men und Hausbe­su­che nur in äußers­ten Notfäl­len vorneh­men.

Haftungs­re­le­van­ter Sachver­halt

Kurze Zeit später wurde er über die Erkran­kung einer Bewoh­ne­rin infor­miert, die bereits seit Länge­rem in dem Senio­ren­heim lebte. Er kannte die alte Dame, die unter Demenz litt und rollstuhl­pflich­tig war, bereits aus zwei Vorkon­tak­ten bzw. einem Hausbe­such wegen ander­wei­ti­ger Erkran­kun­gen. Im konkre­ten Fall wurde ihm seitens der Pflege­kräfte jedoch mitge­teilt, die Patien­tin leide nunmehr unter starkem Husten und Fieber. Es wurde die Frage nach einem Antibio­ti­kum gestellt. Er stellte, da er durch den Patien­ten­an­sturm in seiner Praxis an diesem Tag wieder extrem belas­tet war, die Ferndia­gnose Bronchi­tis und Fieber und entschloss sich, ohne die Patien­tin gesehen zu haben, ein Antibio­ti­kum zu verord­nen.

Am folgen­den Tag erhielt er die Mittei­lung, dass die Patien­tin sehr geschwächt sei und kaum essen und trinken wolle. Mit seinem vollen Warte­zim­mer konfron­tiert, riet er zur Geduld, um die Wirkung des Antibio­ti­kums zunächst abzuwar­ten. Die Patien­tin entwi­ckelte eine schwere Lungen­ent­zün­dung und verstarb kurze Zeit später an den Folgen eines Schlag­an­falls.

Recht­li­che Beurtei­lung

Vorlie­gend ist von einer unter­las­se­nen Befund­er­he­bung mit der Folge einer Beweis­last­um­kehr auszu­ge­hen. Als sich der Hausarzt dem Senio­ren­heim zur Verfü­gung stellte und in der konkre­ten Situa­tion die Behand­lung durch telefo­ni­sche Beratung und die Verord­nung eines Antibio­ti­kums übernahm, kam ein Behand­lungs­ver­trag zwischen der Patien­tin und ihm zustande. Hier konnte er sich nicht darauf berufen, nur eine „Basis­ver­sor­gung“, aus welchen Gründen auch immer, leisten zu können. Notfalls hätte er unver­züg­lich mittei­len müssen, zur medizi­ni­schen Versor­gung im konkre­ten Fall nicht in der Lage zu sein, um die Patien­tin dann an einen Fachkol­le­gen, den Notarzt oder das nächste Kranken­haus zu verwei­sen.

Übernimmt er die Behand­lung, wie im vorlie­gen­den Fall durch Wertung der Symptome und Verord­nung eines Medika­ments, muss er diese auch entspre­chend der medizi­ni­schen Standards durch­füh­ren. Damit schul­det er der Patien­tin eine fachge­rechte, dem wissen­schaft­li­chen Stand entspre­chende Behand­lung. Er hat entspre­chend den anerkann­ten und gesicher­ten Quali­täts­stan­dards medizi­ni­scher Wissen­schaft zu diagnos­ti­zie­ren, den Patien­ten zu beraten und zu thera­pie­ren. Er muss die Maßnah­men ergrei­fen, die von einem aufmerk­sa­men und gewis­sen­haf­ten Arzt aus berufs­fach­li­cher Sicht seines Fachbe­reichs voraus­ge­setzt und erwar­tet werden. Diese Fragen richten sich allein nach medizi­ni­schen Maßstä­ben. Eine abgespeckte Pflich­ten­über­nahme ist insoweit unzuläs­sig.

Hier ist insbe­son­dere darauf hinzu­wei­sen, dass eine zu fordernde indivi­du­elle ärztli­che Behand­lung und Beratung nicht ausschließ­lich über Print- bzw. Kommu­ni­ka­ti­ons­me­dien ohne jeden persön­li­chen Kontakt zum Patien­ten durch­ge­führt werden darf (Fernbe­hand­lung).

Seine Diagnose stellte er allein auf der Grund­lage der Wahrneh­mun­gen des Pflege­per­so­nals, ohne die Patien­tin in Augen­schein genom­men und persön­lich unter­sucht zu haben. Aufgrund dieser unter­las­se­nen Befun­dung hätte er den Beweis dafür zu erbrin­gen, dass die schwe­ren Gesund­heits­schä­den auch ohne sein Zutun zur Entste­hung gelangt wären. Dieser Nachweis ist vorlie­gend jedoch nicht zu führen.

Es ist daher von der Haftung des Hausarz­tes gegen­über den Hinter­blie­be­nen sowie den Sozial­ver­si­che­rungs­trä­gern auszu­ge­hen. Der zu erset­zende Schaden umfasst ein Schmer­zens­geld sowie insbe­son­dere Beerdi­gungs- und Heilbe­hand­lungs­kos­ten und liegt damit im fünfstel­li­gen Bereich.

Selbst­ver­ständ­lich hätte ein Hausarzt in einer norma­len Belas­tungs­si­tua­tion anders reagiert. Selbst­ver­ständ­lich wäre dies auch zu fordern gewesen. Die eigent­li­che Frage­stel­lung in der vorlie­gen­den Angele­gen­heit ist aller­dings, was im Falle von Ärzte­man­gel insbe­son­dere in ländli­chen Gebie­ten und damit einher­ge­hen­der medizi­ni­scher Unter­ver­sor­gung zu tun ist. Wie gehen die Insti­tu­tio­nen hiermit um, wie wirken sie dieser fortschrei­ten­den Entwick­lung entge­gen?

Fazit

Abgese­hen von einer echten Notfall­si­tua­tion, die keine Überwei­sung bzw. Einwei­sung mehr ermög­licht, ist allen von einer regio­na­len Unter­ver­sor­gung betrof­fe­nen Ärzten im Ergeb­nis zu empfeh­len, keine Verpflich­tun­gen zu überneh­men, die sie nicht erfül­len können. Denn Überlas­tun­gen infolge regio­na­ler Engpässe schüt­zen nicht vor zivil- und straf­recht­li­cher Haftung.

Dieser Beitrag erschien in seiner ursprüng­li­chen From erstma­lig im MedLet­ter April 2016.

Quelle: Ass. jur. Gabriele Anstoots, HDI Versi­che­rung AG, Köln