Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom 14. Mai 2019 sind Arbeitgeber verpflichtet, alle Überstunden ihrer Mitarbeiter zu erfassen, sowie gesetzeskonforme Pause- und Ruhezeiten nachweisen zu können (Az.: C 55/18).
Dieser Sachverhalt wurde bis dato noch nicht aus dem europäischen Recht in das nationale Recht überführt. Daher entscheiden derzeit immer noch die Gerichte über derartige Streitigkeiten.
Verhandlungen über elektronische Arbeitszeiterfassung enden vor Gericht
In einem aktuellen Urteil stritten zwei Arbeitgeber und der Betriebsrat einer stationären Wohneinrichtung über eine Betriebsvereinbarung. Es handelte sich um die Frage, ob im Betrieb ein elektronisches System zur Arbeitszeiterfassung installiert werden soll.
Bei den Verhandlungen kam es zu keiner Einigung zwischen den Parteien, wobei sich die Arbeitgeber gegen eine Einführung des Systems positionierten. Auch im gerichtlich eingeleiteten Einigungsstellenverfahren konnten Betriebsrat und Arbeitgeber keinen gemeinsamen Nenner finden.
Die Arbeitgeber lehnten die Zuständigkeit der Einigungsstelle ab. Nach ihrer Ansicht stehe der Arbeitnehmervertretung kein Initiativrecht bei der Einführung eines technischen Zeiterfassungssystems zu. Der Betriebsrat wehrte sich hiergegen und verlangte vor Gericht die Feststellung von eben diesem Initiativrecht.
BAG lehnte Initiativrecht bisher ab – Betriebsrat wehrt sich
Bereits lange vor dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs sprach das Bundesarbeitsgericht dem Betriebsrat ein Initiativrecht ab (Beschluss vom 28. November 1989 – 1 ABR 97/88). Als Begründung führt das BAG an, dass das Mitbestimmungsrecht des Rats lediglich als Abwehrfunktion zum Schutze der Arbeitnehmer diene – in diesem Fall vor einem Persönlichkeitseingriff durch eine anonyme, technische Zeiterfassungssoftware.
Dem steht im aktuellen Verfahren die Ansicht des beteiligten Betriebsrats gegenüber. Nach dessen Ansicht sei das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Absatz 1 Nummer 6 BetrVG umfassend und beziehe damit auch ein Initiativrecht mit ein.
Es sei aus dem Gesetzestext nicht zu entnehmen, dass sich das Mitbestimmungsrecht nur auf das Recht zur Mitverhandlung bei der Einführung technischer Einrichtungen beziehe, nicht aber auf auf das Recht, deren Einführung zu verlangen. Neuere, arbeitsgerichtliche Beschlüsse, wie zum Beispiel der des LAG Berlin-Brandenburg vom 22. Januar 2015 (Az.: 10 TaBV 2124/14) hätten diese Annahme bereits aufgegriffen und bestätigt.
Eine initiative Einführung einer elektronischen Zeiterfassung sei auch im Sinne von dessen Auskunftsanspruch aus § 80 Absatz 2 BetrVG gedeckt. Zudem stützt sich der Betriebsrat auch auf den Beschluss des EuGH, nach welchem ein System zur objektiven, verlässlichen und genauen Erfassung der tatsächlichen Arbeits- und Erholungszeiten im Sinne des Artikel 31 Absatz 2 der EU-Grundrechtscharta erforderlich ist.
Urteil: Initiativrecht steht Betriebsrat zu
Die Beschwerde der Arbeitnehmervertretung hatte Erfolg. Mit Beschluss vom 27. Juli 2021 (Az.: 7 TaBV 79/20) hat das LAG Hamm den ursprünglichen Auffassungen des Bundesarbeitsgerichts widersprochen und dem Betriebsrat neben dem Mitbestimmungsrecht auch ein Initiativrecht bei der Frage, ob ein elektronisches Arbeitszeiterfassungssystem eingeführt werde oder nicht, zugesprochen.
Der Betriebsrat kann damit explizit die Einführung eines solchen Systems verlangen. Ihm steht nun nicht mehr nur der Schutz der Arbeitnehmer zu.
Begründend verweist das Gericht auf den Wortlaut des § 87 Absatz 1 Nummer 6 BetrVG. Das Mitbestimmungsrecht beinhalte in diesem Paragraphen explizit auch die „Einführung“ technischer Einrichtungen, elektronische Zeiterfassung inklusive. Der Gesetzgeber habe eine Trennung der Mitbestimmungsrechte in solche mit und ohne Initiativrecht bewusst unterlassen.
Tipp: Die Missachtung von Beteiligungsrechten des Personalrats kann eine Ordnungswidrigkeit darstellen (vgl. § 121 BetrVG). In bestimmten Fällen kann sich der Arbeitgeber durch die Verletzung der Rechte des Betriebsrats sogar strafbar machen (vgl. § 119 BetrVG). Der Strafantrag des Betriebsrates ist die Strafverfolgungsvoraussetzung.
Eine ausführliche Darstellung des Urteilsverfahrens ist in der Ausgabe November/Dezember 2021 der Rechtsdepesche nachzulesen.