Garantenstellung
Selbst­be­stim­mungs­recht versus Recht auf Leben

Der Sachver­halt

Eine 96-jährige Bewoh­ne­rin mit Herzin­suf­fi­zi­enz, Diabe­tes melli­tus Typ I und Kache­xie wurde in einer Pflege­ein­rich­tung versorgt. Die Bewoh­ne­rin zeigte eindeu­tig, durch Zusam­men­pres­sen der Lippen und zur Abwehr gehobe­nen Händen, dass sie nicht mehr Essen und Trinken wollte. Das Pflege­team ist sich einig, dass die Wünsche der Bewoh­ne­rin zu akzep­tie­ren sind.

Es wurden folgen­des bespro­chen: Der Bewoh­ne­rin werden weiter­hin Angebote gemacht. Sollte sie dies ableh­nen wird diese Ableh­nung akzep­tiert. Ferner wird halbstünd­lich der Mund mit unter­schied­li­chen Geschmacks­rich­tun­gen ausge­wischt. Auf die Mimik der Bewoh­ne­rin soll geach­tet werden. Die Fallbe­spre­chung mit den Ergeb­nis­sen sowie der weitere Verlauf wurden ausführ­lich dokumen­tiert.

Kurz vor Eintritt des Todes wird die Bewoh­ne­rin von Ihrer Enkelin besucht. Sie möchte wissen, was mit Ihrer Oma ist. Sie äußerte sich lautstark, dass ihre Oma nur noch eine „Handvoll Mensch“ sei. Die Wohnbe­reichs­lei­tung infor­miert sie darauf­hin über die durch­ge­führte Fallbe­spre­chung und den weite­ren Verlauf.

Darauf­hin beschimpft die Enkelin das Pflege­per­so­nal, sie seien „Mörder“ und hätten ihre Oma verhun­gern lassen. Die Enkelin erstat­tet Anzeige wegen Mordes.

Selbst­be­stim­mungs­recht versus Recht auf Leben und körper­li­che Unver­sehrt­heit

In Deutsch­land gilt das Selbst­be­stim­mungs­recht als hohes Gut – fest veran­kert in Artikel 2 Absatz 1 in Verbin­dung mit Artikel 1 Grund­ge­setz. Die Pflegen­den müssen dabei einen Balan­ce­akt meistern: einer­seits die Würde und Autono­mie des Bewoh­ners zu achten, anderer­seits die gebotene medizi­nisch-pflege­ri­sche Versor­gung nicht zu vernach­läs­si­gen.

Aller­dings gilt der Grund­satz, dass selbst wenn eine pflege­be­dürf­tige Person durch die Ableh­nung medizi­ni­scher oder pflege­ri­scher Maßnah­men ihr eigenes Leben aufs Spiel setzt, ihr geäußer­ter Wille unbedingt zu respek­tie­ren ist. Voraus­ge­setzt wird jedoch, dass sie einwil­li­gungs­fä­hig ist, also die Schwere und Tragweite ihrer Entschei­dung begrei­fen und bewer­ten kann und über die mögli­chen Folgen umfas­send aufge­klärt und infor­miert wurde. Gegen den Willen der betrof­fe­nen Person kann mithin keine sogenannte „Zwangs­er­näh­rung“ erfol­gen!

Unter­las­sene Hilfe­leis­tung versus Totschlag durch Unter­las­sen

Gerade bei sterben­den oder lebens­be­droh­lich erkrank­ten Menschen stellt sich die recht­li­che Frage, wann ein Unter­las­sen pflege­ri­scher oder medizi­ni­scher Maßnah­men straf­recht­lich relevant wird, wenn das Unter­las­sen zum Tod der pflege­be­dürf­ti­gen Person führt.

Eine Pflege­fach­kraft besitzt wegen ihrer Garan­ten­stel­lung (siehe hierzu § 13 StGB) eine beson­dere Verant­wor­tung, für das Wohl und Wehe der ihr anver­trau­ten Perso­nen. Aufgrund dieser beson­de­ren Stellung der Pflege­fach­per­son wird sie bei einem Versäum­nis dann nicht wegen unter­las­se­ner Hilfe­leis­tung gemäß § 323c StGB, sondern wegen Totschlags durch Unter­las­sen gemäß § 212 in Verbin­dung mit § 13 StGB in Anspruch genom­men.

Dies bedeu­tet eine signi­fi­kante Straf­schär­fung für die Pflege­fach­per­son. Aller­dings setzt eine straf­recht­li­che Inanspruch­nahme voraus, dass es sich um ein pflicht­wid­ri­ges Untätig­blei­ben handelt und dieses Unter­las­sen auch nachweis­lich zum Tod der pflege­be­dürf­ti­gen Person geführt hat.

Totschlag durch Unter­las­sen? Nicht in diesem Fall!

Im vorlie­gen­den Fall zeigte die Bewoh­ne­rin deutlich, dass sie keine weite­ren Maßnah­men wünsche. Die Pflege­fach­per­so­nen handel­ten insoweit folge­rich­tig, indem sie diesen Willen akzep­tierte und gleich­zei­tig weiter­hin unter­stüt­zende Angebote unter­brei­tete. Ein zwangs­wei­ses Verab­rei­chen von Nahrung hätte hinge­gen einen eigenen Straf­tat­be­stand erfüllt – nämlich eine vorsätz­li­che Körper­ver­let­zung gemäß § 223 StGB.

Denn jede pflege­ri­sche oder medizi­ni­sche Maßnahme stellt im recht­li­chen Sinne auf der sogenann­ten „Tatbe­stands­ebene “ zunächst eine Körper­ver­let­zung dar und führt nur dann nicht zur Straf­bar­keit, wenn die Maßnahme durch einen Recht­fer­ti­gungs­grund wie zum Beispiel die Einwil­li­gung der betrof­fe­nen Person gerecht­fer­tigt ist.

Da im vorlie­gen­den Fall jedoch keine Einwil­li­gung zur Nahrungs­zu­fuhr sondern eine ausdrück­li­che Verwei­ge­rung vorlag, hätte jedes Handeln gegen den Willen der Bewoh­ne­rin ohne recht­fer­ti­gende Grund­lage statt­ge­fun­den und somit den Straf­tat­be­stand der vorsätz­li­chen Körper­ver­let­zung gemäß § 223 StGB erfüllt.

Eine Starbar­keit wegen Totschla­ges durch Unter­las­sen oder gar wegen Mordes liegt demzu­folge in diesem Fall nicht vor. 

Neues Fortbil­dungs­mo­dul zur Garan­ten­stel­lung

Um Pflege­fach­kräfte und Einrich­tun­gen vor recht­li­chen Fallstri­cken zu bewah­ren, bietet das Fortbil­dungs­in­for­ma­ti­ons­sys­tem (FIP) jetzt ein neues E‑Learningmodul zur Garan­ten­stel­lung, mit welchem 4 ICW-Rezer­ti­fi­zie­rungs­punkte erwor­ben werden können, an. Dort werden die wichtigs­ten Aspekte rund um Pflich­ten, Verant­wort­lich­kei­ten und Grenzen des pflege­ri­schen Handelns vermit­telt. Mehr Infor­ma­tio­nen finden Inter­es­sierte direkt auf der FIP-Homepage.

FAQ

Was tun, wenn Pflege­be­dürf­tige das Essen und Trinken verwei­gern?

In der Pflege­pra­xis müssen die Wünsche von Bewoh­nern respek­tiert werden, selbst wenn sie das Essen und Trinken ableh­nen. Entschei­dend ist, dass die Person einwil­li­gungs­fä­hig ist, also die Tragweite ihrer Entschei­dung versteht und über die Folgen der Verwei­ge­rung infor­miert worden sind. Pflegende dürfen keine Zwangs­er­näh­rung durch­füh­ren, da dies eine vorsätz­li­che Körper­ver­let­zung nach § 223 StGB darstel­len würde. Statt­des­sen sollte weiter­hin eine bedarfs­ge­rechte Betreu­ung erfol­gen, etwa durch Angebote von Nahrung und Flüssig­keit sowie eine regel­mä­ßige Mundpflege. Wichtig ist zudem eine lücken­lose Dokumen­ta­tion, um die Entschei­dungs­pro­zesse nachvoll­zieh­bar zu machen.

Welche recht­li­chen Konse­quen­zen drohen Pflege­kräf­ten bei einem pflicht­wid­ri­gem Unter­las­sen?

Pflege­kräfte haben eine sogenannte Garan­ten­stel­lung , was bedeu­tet, dass sie für das Wohl der ihnen anver­trau­ten Perso­nen Verant­wor­tung tragen. Bei einem pflicht­wid­ri­gen Unter­las­sene richtet sich die Bestra­fung nicht nach dem Straf­rah­men der Unter­las­se­nen Hilfe­leis­tung gemäß § 323c StGB sondern nach dem Straf­rah­men der sogenann­ten „Unech­ten Unter­las­sungs­de­lik­ten“ (§ 13 StGB). Die nicht handelnde Pflege­fach­per­son wird mithin so bestraft als hätte sie die Tat aktiv began­gen, was gegen­über dem § 323c StGB zu einer signi­fi­kan­ten Straf­schär­fung führen kann.

Wer haftet, wenn ein Bewoh­ner durch Nahrungs­ver­wei­ge­rung verstirbt?

Sofern die pflege­be­dürf­tige Person selbst­be­stimmt entschie­den hat, keine Nahrung oder Flüssig­keit mehr aufzu­neh­men, trifft die Pflege­kräfte keine Haftung, wenn die pflege­be­dürf­tige Person über die Risiken der Verwei­ge­rung aufge­klärt wurde. Eine Straf­bar­keit wegen Totschlags durch Unter­las­sen gemäß § 212 in Verbin­dung mit § 13 StGB wäre nur gegeben, wenn eine pflicht­wid­rige Untätig­keit zum Tod geführt hätte. Dies wäre dann zu bejahen, wenn trotz Essens­wunsch der betrof­fe­nen Person kein und nur unzurei­chend Essen gereicht wird.