Im Vergleich: Pflege in Deutschland und Pflege im Ausland.
Im Vergleich: Pflege in Deutsch­land und Pflege im Ausland. Bild: © Chormail | Dreamstime.com

Michael Schanz, Chefre­dak­teur der Zeitschrift „Rechts­de­pe­sche für das Gesund­heits­we­sen“ im Inter­view mit Dr. Jan Basche, Pflege­ex­perte und Geschäfts­füh­rer mehre­rer ambulan­ter Pflege­dienste.

Rechts­de­pe­sche: Die Pflege im Ausland war das große Thema unseres letzten Inter­views. Viele Leser haben uns zurück­ge­mel­det, dass sie gern noch mehr über die Unter­schiede zwischen der Pflege in Deutsch­land und der Pflege im Ausland erfah­ren würden. Auch mit Blick auf die Akade­mi­sie­rung gab es viele Nachfra­gen zum Für und Wider. Sind Sie bereit?

Basche: Für die Pflege – immer bereit! Zum Thema Pflege im Ausland lohnt es sich, das schon beim letzten Mal erwähnte Buch der Stiftung Münch in die Hand zu nehmen. Aus der Synopse im Schluss­ka­pi­tel sticht ein Krite­rium hervor, das nach meiner festen Überzeu­gung ein Game Changer werden könnte, wenn die deutsche Pflege­po­li­tik da endlich aus den Puschen käme: die Verschrei­bungs­be­fug­nis. In allen drei unter­such­ten europäi­schen Ländern dürfen die Pflege­fach­kräfte bestimmte Medika­mente und Hilfs­mit­tel selbst verschrei­ben. In welchem Maße das zu einer Stärkung des profes­sio­nel­len Selbst­ver­ständ­nis­ses und Selbst­be­wusst­seins und damit zu einer nachhal­tig wirksa­men Verbes­se­rung der Attrak­ti­vi­tät des Pflege­be­rufs führen würde, kann man kaum überschät­zen. Trotz­dem hat dieses Thema keinen Eingang in die Curri­cula der genera­lis­ti­schen Ausbil­dung gefun­den.

Rechts­de­pe­sche: Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Worte im Gesund­heits­mi­nis­te­rium wider­hal­len. Haben Sie eigent­lich schon einmal Mitar­bei­ter ins Ausland verlo­ren?

Basche: Ja, eine Pflege­fach­kraft hatte sich vor einigen Jahren in die Schweiz verab­schie­det, weil sie dort im Leasing in kurzer Zeit viel Geld verdie­nen wollte. Sie ist längst wieder zurück in Berlin. Ansons­ten ist das kein Massen­thema. Denn obwohl im Ausland die Pflege­fach­kräfte meist deutlich mehr Freihei­ten haben als in Deutsch­land, verdient man dort selten auch deutlich mehr als bei uns, und nur Sonne reicht eben nicht zum Leben.

Rechts­de­pe­sche: Und welche Erfah­run­gen haben Sie in Ihren eigenen Einrich­tun­gen mit Mitar­bei­tern aus dem Ausland gemacht?

Basche: Da müsste ich zuerst fragen: Wo ist Ausland? Doch vor allem im Kopf. Davon abgese­hen: Ich habe zwar nicht gezählt, aber ich bin ziemlich sicher, dass inzwi­schen in meinen Einrich­tun­gen die Kartof­feln höchs­tens noch die Hälfte der Beleg­schaf­ten ausma­chen.

Rechts­de­pe­sche: Die Kartof­feln?

Basche: Das kennen Sie nicht? Auf den Schul­hö­fen vieler Berli­ner Quartiere ist das ein belieb­tes Wort für die Deutschen.

Rechts­de­pe­sche: Ist das nicht Rassis­mus?

Basche: Sicher­lich ist es das. Aber wenn Rassis­mus in Deutsch­land nicht von Deutschen kommt, wird er ja gern durch­ge­wun­ken. Jeden­falls haben wir viele großar­tige Kolle­gin­nen in den Teams, die sich nicht ohne weite­res selbst als Deutsche bezeich­nen würden. Wir haben eine sehr große Gruppe Polin­nen, einen ganzen Klub Polski, mit zum Teil fabel­haf­ter Fachlich­keit und einer ganz eigenen Herzlich­keit. Wir haben den ganzen Balkan an Bord von Ungarn bis Bulga­rien, von Kroatien bis Rumänien. Wir haben natür­lich Kolle­gin­nen aus der Türkei, aber auch aus Russland und Kasach­stan und von ganz weit weg: Kamerun, Kolum­bien, Vietnam. Da kommt schon etwas zusam­men. Und auch wenn das jetzt klingt wie aus dem Bilder­buch und Sie es vielleicht nicht glauben: Es funktio­niert wunder­bar, obwohl längst nicht alle so gut Deutsch sprechen, wie unsere Kunden sich das wünschen. Und es funktio­niert ohne Denkver­bote. Bei uns ist die jeweils andere Herkunft und Kultur der Kolle­gin­nen ganz selbst­ver­ständ­lich Thema und wird nicht politisch korrekt wegge­schwie­gen. Aber wenn irgend­wann alle Polen­witze erzählt und alle Bigos-Rezepte ausge­tauscht sind, bleibt der Mensch übrig, und um den geht es ja.

Rechts­de­pe­sche: Das kann vermut­lich jeder unter­schrei­ben. Läuft es denn überall so gut in der Zusam­men­ar­beit mit Pflege­kräf­ten aus dem Ausland? Was sind Ihre Erfah­run­gen aus Ihrer pflege­po­li­ti­schen Arbeit?

Basche: Leider läuft es meistens deutlich schlech­ter. Das zeigt auch das Ergeb­nis einer ganz aktuel­len Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu Konflik­ten in der Pflege. Diese Studie bestä­tigt alles, was wir schon angespro­chen haben. Pflege­fach­kräfte aus Südeu­ropa und Südost­eu­ropa überneh­men in ihren Herkunfts­län­dern Manage­ment­auf­ga­ben, was sie in Deutsch­land aber nicht dürfen. Gleich­zei­tig sollen sie hier Körper­pflege durch­füh­ren, was sie für unter ihrem Niveau halten. Dadurch entsteht bei den in Deutsch­land ausge­bil­de­ten Pflege­fach­kräf­ten der Eindruck, dass die neuen Kolle­gin­nen gar nicht praxis­taug­lich sind. Solange die Profes­sion Pflege hier vor Ort nicht deutlich aufge­wer­tet wird, und zwar mit konkre­ten Kompe­ten­zen, wird sich dieses Problem in allen Einrich­tun­gen wieder­ho­len. In der Reali­tät gibt es eben unter­schied­li­che Pflege­kul­tu­ren.

Rechts­de­pe­sche: Wie kann man das gegen­sei­tige Verständ­nis zwischen den unter­schied­li­chen Pflege­kul­tu­ren verbes­sern? Haben Sie da Vorschläge?
Basche: Ich wünsche mir dringend ein Erasmus-Programm für die Pflege. Wenn die Akade­mi­sie­rung ernst gemeint sein soll, dann sollen auch die Auszu­bil­den­den und Studie­ren­den Gelegen­heit bekom­men heraus­zu­fin­den, wie Pflege im Ausland funktio­niert. Ich wünsche mir Tausende Florence-Night­in­gale-Stipen­dien, um in Großbri­tan­nien das NHS und seine Vor- und Nachteile kennen­zu­ler­nen, oder Marie-Manthey-Stipen­dien, um in Seattle oder anderswo zu erfah­ren, was an Grey’s Anatomy nun eigent­lich Fiktion ist und was nicht.

Wir müssen aber zuerst unsere Hausauf­ga­ben machen. Es nutzt nieman­dem, wenn wir zukünf­tige Pflege­pro­fis ins Ausland schicken und die Kolle­gin­nen dann nichts von dem, was dort möglich ist, in Deutsch­land umset­zen können. Da werden gerade schwere strate­gi­sche Fehler gemacht. Von den Aufga­ben, die im Pflege­be­ru­fe­ge­setz neu definiert sind, taucht in der HKP-Richt­li­nie des Gemein­sa­men Bundes­aus­schus­ses keine einzige auf. Dort ist die Häusli­che Kranken­pflege unver­än­dert rein verrich­tungs­be­zo­gen definiert als Blutzu­cker­mes­sung, Wundver­sor­gung etc. Für die Erhebung des Pflege­be­darfs oder die Steue­rung des Pflege­pro­zes­ses, also die neuen Vorbe­halts­tä­tig­kei­ten, gibt es gar keine Positi­ons­num­mern. Womit also sollen die neuen Akade­mi­ke­rin­nen ihr Geld verdie­nen? Die können doch nicht alle ins Quali­täts­ma­nage­ment! So viele Overhead-Stellen gibt es gar nicht. Mit diesen Fragen müssen sich die zustän­di­gen Minis­te­rien dringend beschäf­ti­gen.

Rechts­de­pe­sche: Eine letzte Frage: Suchen Sie aktiv nach Pflege­kräf­ten im Ausland?

Basche: Nein. Ich halte diese Abwer­be­pra­xis für postko­lo­nia­lis­ti­schen Brain Drain. Den soll man auch nicht, wie man es jetzt öfters aus der Politik hört, schön­re­den mit dem Euphe­mis­mus, das seien junge Völker. Ich kenne kein Volk, in dem es zu viele Pflege­kräfte gibt. Gleich­zei­tig bin ich für Freizü­gig­keit. Wer also in Deutsch­land wirklich arbei­ten möchte und nicht macho­haft die Nase rümpft über Frauen­be­rufe, der soll willkom­men sein. Ich habe aller­dings schon hinge­wie­sen auf den Kultur­schock, der aufgrund der sehr unter­schied­li­chen Tätig­keits­in­halte die auslän­di­schen Pflege­fach­kräfte in Deutsch­land erwar­tet und für den es noch keine Lösung gibt.

Die Alter­na­tive, in großer Zahl auslän­di­sche Inter­es­sen­ten in Deutsch­land selbst auszu­bil­den, halte ich aufgrund der bekann­ten zahlrei­chen Unzuläng­lich­kei­ten des deutschen Aufent­halts­rechts für zu missbrauchs­an­fäl­lig. Woran ich mich betei­li­gen würde, wären Ausbil­dungs­pro­jekte mit deutschem Curri­cu­lum und integrier­tem Sprach­un­ter­richt direkt im Ausland. Solche Projekte sind aber fast nie ohne weite­res geeig­net für Ambulante Pflege­dienste mit ihren für derar­tige Abenteuer struk­tu­rell zu gerin­gen Einrich­tungs­grö­ßen. Sie würden deshalb wohl nur als Netzwerk­pro­jekte funktio­nie­ren. Ich würde gern erleben, dass die Politik da nicht allein großen Konzer­nen der Sozial­wirt­schaft die Türen etwa in China und Vietnam öffnet, sondern mit langem Atem auch die überwie­gend kleinen und mittel­stän­di­schen Unter­neh­men meiner Branche aktiv einbin­det.

Rechts­de­pe­sche: Also vom Ausland lernen und im Ausland ausbil­den? Mich haben Sie überzeugt. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Basche: Das freut mich. Und ich danke Ihnen.