Rechtsdepesche: Die Pflege im Ausland war das große Thema unseres letzten Interviews. Viele Leser haben uns zurückgemeldet, dass sie gern noch mehr über die Unterschiede zwischen der Pflege in Deutschland und der Pflege im Ausland erfahren würden. Auch mit Blick auf die Akademisierung gab es viele Nachfragen zum Für und Wider. Sind Sie bereit?
Dr. Jan Basche: Für die Pflege – immer bereit! Zum Thema Pflege im Ausland lohnt es sich, das schon beim letzten Mal erwähnte Buch der Stiftung Münch in die Hand zu nehmen. Aus der Synopse im Schlusskapitel sticht ein Kriterium hervor, das nach meiner festen Überzeugung ein Game Changer werden könnte, wenn die deutsche Pflegepolitik da endlich aus den Puschen käme: die Verschreibungsbefugnis. In allen drei untersuchten europäischen Ländern dürfen die Pflegefachkräfte bestimmte Medikamente und Hilfsmittel selbst verschreiben. In welchem Maße das zu einer Stärkung des professionellen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins und damit zu einer nachhaltig wirksamen Verbesserung der Attraktivität des Pflegeberufs führen würde, kann man kaum überschätzen. Trotzdem hat dieses Thema keinen Eingang in die Curricula der generalistischen Ausbildung gefunden.
Rechtsdepesche: Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Worte im Gesundheitsministerium widerhallen. Haben Sie eigentlich schon einmal Mitarbeiter ins Ausland verloren?
Basche: Ja, eine Pflegefachkraft hatte sich vor einigen Jahren in die Schweiz verabschiedet, weil sie dort im Leasing in kurzer Zeit viel Geld verdienen wollte. Sie ist längst wieder zurück in Berlin. Ansonsten ist das kein Massenthema. Denn obwohl im Ausland die Pflegefachkräfte meist deutlich mehr Freiheiten haben als in Deutschland, verdient man dort selten auch deutlich mehr als bei uns, und nur Sonne reicht eben nicht zum Leben.
Rechtsdepesche: Und welche Erfahrungen haben Sie in Ihren eigenen Einrichtungen mit Mitarbeitern aus dem Ausland gemacht?
Basche: Da müsste ich zuerst fragen: Wo ist Ausland? Doch vor allem im Kopf. Davon abgesehen: Ich habe zwar nicht gezählt, aber ich bin ziemlich sicher, dass inzwischen in meinen Einrichtungen die Kartoffeln höchstens noch die Hälfte der Belegschaften ausmachen.
Rechtsdepesche: Die Kartoffeln?
Basche: Das kennen Sie nicht? Auf den Schulhöfen vieler Berliner Quartiere ist das ein beliebtes Wort für die Deutschen.
Rechtsdepesche: Ist das nicht Rassismus?
Basche: Sicherlich ist es das. Aber wenn Rassismus in Deutschland nicht von Deutschen kommt, wird er ja gern durchgewunken. Jedenfalls haben wir viele großartige Kolleginnen in den Teams, die sich nicht ohne weiteres selbst als Deutsche bezeichnen würden. Wir haben eine sehr große Gruppe Polinnen, einen ganzen Klub Polski, mit zum Teil fabelhafter Fachlichkeit und einer ganz eigenen Herzlichkeit. Wir haben den ganzen Balkan an Bord von Ungarn bis Bulgarien, von Kroatien bis Rumänien. Wir haben natürlich Kolleginnen aus der Türkei, aber auch aus Russland und Kasachstan und von ganz weit weg: Kamerun, Kolumbien, Vietnam. Da kommt schon etwas zusammen. Und auch wenn das jetzt klingt wie aus dem Bilderbuch und Sie es vielleicht nicht glauben: Es funktioniert wunderbar, obwohl längst nicht alle so gut Deutsch sprechen, wie unsere Kunden sich das wünschen. Und es funktioniert ohne Denkverbote. Bei uns ist die jeweils andere Herkunft und Kultur der Kolleginnen ganz selbstverständlich Thema und wird nicht politisch korrekt weggeschwiegen. Aber wenn irgendwann alle Polenwitze erzählt und alle Bigos-Rezepte ausgetauscht sind, bleibt der Mensch übrig, und um den geht es ja.
Rechtsdepesche: Das kann vermutlich jeder unterschreiben. Läuft es denn überall so gut in der Zusammenarbeit mit Pflegekräften aus dem Ausland? Was sind Ihre Erfahrungen aus Ihrer pflegepolitischen Arbeit?
Basche: Leider läuft es meistens deutlich schlechter. Das zeigt auch das Ergebnis einer ganz aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu Konflikten in der Pflege. Diese Studie bestätigt alles, was wir schon angesprochen haben. Pflegefachkräfte aus Südeuropa und Südosteuropa übernehmen in ihren Herkunftsländern Managementaufgaben, was sie in Deutschland aber nicht dürfen. Gleichzeitig sollen sie hier Körperpflege durchführen, was sie für unter ihrem Niveau halten. Dadurch entsteht bei den in Deutschland ausgebildeten Pflegefachkräften der Eindruck, dass die neuen Kolleginnen gar nicht praxistauglich sind. Solange die Profession Pflege hier vor Ort nicht deutlich aufgewertet wird, und zwar mit konkreten Kompetenzen, wird sich dieses Problem in allen Einrichtungen wiederholen. In der Realität gibt es eben unterschiedliche Pflegekulturen.
Rechtsdepesche: Wie kann man das gegenseitige Verständnis zwischen den unterschiedlichen Pflegekulturen verbessern? Haben Sie da Vorschläge?
Basche: Ich wünsche mir dringend ein Erasmus-Programm für die Pflege. Wenn die Akademisierung ernst gemeint sein soll, dann sollen auch die Auszubildenden und Studierenden Gelegenheit bekommen herauszufinden, wie Pflege im Ausland funktioniert. Ich wünsche mir Tausende Florence-Nightingale-Stipendien, um in Großbritannien das NHS und seine Vor- und Nachteile kennenzulernen, oder Marie-Manthey-Stipendien, um in Seattle oder anderswo zu erfahren, was an Grey’s Anatomy nun eigentlich Fiktion ist und was nicht.
Wir müssen aber zuerst unsere Hausaufgaben machen. Es nutzt niemandem, wenn wir zukünftige Pflegeprofis ins Ausland schicken und die Kolleginnen dann nichts von dem, was dort möglich ist, in Deutschland umsetzen können. Da werden gerade schwere strategische Fehler gemacht. Von den Aufgaben, die im Pflegeberufegesetz neu definiert sind, taucht in der HKP-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses keine einzige auf. Dort ist die Häusliche Krankenpflege unverändert rein verrichtungsbezogen definiert als Blutzuckermessung, Wundversorgung etc. Für die Erhebung des Pflegebedarfs oder die Steuerung des Pflegeprozesses, also die neuen Vorbehaltstätigkeiten, gibt es gar keine Positionsnummern. Womit also sollen die neuen Akademikerinnen ihr Geld verdienen? Die können doch nicht alle ins Qualitätsmanagement! So viele Overhead-Stellen gibt es gar nicht. Mit diesen Fragen müssen sich die zuständigen Ministerien dringend beschäftigen.
Rechtsdepesche: Eine letzte Frage: Suchen Sie aktiv nach Pflegekräften im Ausland?
Basche: Nein. Ich halte diese Abwerbepraxis für postkolonialistischen Brain Drain. Den soll man auch nicht, wie man es jetzt öfters aus der Politik hört, schönreden mit dem Euphemismus, das seien junge Völker. Ich kenne kein Volk, in dem es zu viele Pflegekräfte gibt. Gleichzeitig bin ich für Freizügigkeit. Wer also in Deutschland wirklich arbeiten möchte und nicht machohaft die Nase rümpft über Frauenberufe, der soll willkommen sein. Ich habe allerdings schon hingewiesen auf den Kulturschock, der aufgrund der sehr unterschiedlichen Tätigkeitsinhalte die ausländischen Pflegefachkräfte in Deutschland erwartet und für den es noch keine Lösung gibt.
Die Alternative, in großer Zahl ausländische Interessenten in Deutschland selbst auszubilden, halte ich aufgrund der bekannten zahlreichen Unzulänglichkeiten des deutschen Aufenthaltsrechts für zu missbrauchsanfällig. Woran ich mich beteiligen würde, wären Ausbildungsprojekte mit deutschem Curriculum und integriertem Sprachunterricht direkt im Ausland. Solche Projekte sind aber fast nie ohne weiteres geeignet für Ambulante Pflegedienste mit ihren für derartige Abenteuer strukturell zu geringen Einrichtungsgrößen. Sie würden deshalb wohl nur als Netzwerkprojekte funktionieren. Ich würde gern erleben, dass die Politik da nicht allein großen Konzernen der Sozialwirtschaft die Türen etwa in China und Vietnam öffnet, sondern mit langem Atem auch die überwiegend kleinen und mittelständischen Unternehmen meiner Branche aktiv einbindet.
Rechtsdepesche: Also vom Ausland lernen und im Ausland ausbilden? Mich haben Sie überzeugt. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Basche: Das freut mich. Und ich danke Ihnen.
Michael Schanz, Chefredakteur der Zeitschrift „Rechtsdepesche für das Gesundheitswesen“ im Interview mit Dr. Jan Basche, Pflegeexperte und Geschäftsführer mehrerer ambulanter Pflegedienste.