Prof. Dr. Angelika Zegelin ist ausgebildete Krankenschwester und hat bereits vor ihrem Studium viele Jahre als Pflegelehrerin in einer Krankenpflegeschule in Dortmund gearbeitet – damals reichte hierfür eine sechsmonatige Weiterbildung aus. Nicht aber für Dr. Zegelin, die anschließend berufsbegleitend ein Studium der Erziehungswissenschaften absolvierte. Bis 2015 war sie als Pflegewissenschaftlerin und Curriculums-Beauftragte am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke tätig. Heute lebt sie im Ruhestand, die Pflege lässt sie jedoch keineswegs los: Noch immer engagiert sie sich stark in diesem Bereich und arbeitet an verschiedenen Forschungs- und Praxisprojekten mit.
Ob es der Pflege an Berufsstolz fehlt und was sich ändern muss, damit der Berufsstolz in der Pflege wächst, wollten wir von ihr in einem Interview wissen. Sie hat zu dem Thema eine sehr klare Meinung. Sie ist unter anderem der Ansicht, dass sich die Pflege viel mehr wehren und dafür deutlich besser organisieren müsste.
Rechtsdepesche: Fehlt es der Pflege an Berufsstolz?
Prof. Dr. Angelika Zegelin: Ja absolut. Das ist aber speziell ein deutsches Thema, in der Schweiz beispielsweise ist das ganz anders. Im internationalen Vergleich habe ich festgestellt, dass es in der Pflege hierzulande an Selbstbewusstsein und beruflicher Identität fehlt. Pflegende sehen oft den Wert ihrer Arbeit nicht und das zieht einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich.
Rechtsdepesche: Woran liegt das? Verkaufen sich Pflegefachkräfte unter Wert? Immerhin stellen Pflegefachpersonen eine sehr große Berufsgruppe im Gesundheitswesen dar.
Zegelin: Das hat ganz viele Gründe. Im Grunde spiegeln die Pflegenden die Meinung der Gesellschaft wider. Gut, jetzt wurde ein bisschen für sie applaudiert, aber viele denken trotzdem: Das kann ja jeder machen und das ist eine minderwertige Tätigkeit. Ich wurde auch schon oft gefragt, warum für die Pflege überhaupt eine Ausbildung benötigt wird. Durch diese Fehlwahrnehmungen – anders kann ich das nicht nennen – ist das Image der Pflege eher schlecht in der Gesellschaft. Von Qualifikationen oder Karriere in den Pflegeberufen ist nicht die Rede. Das spiegelt die Pflege wider. Hinzu kommt, dass das Fallpauschalensystem und die Pflegeversicherung meiner Ansicht nach die Pflege kaputt gemacht haben. Wir haben eine ungeheure Zeitverdichtung in der Pflege, sodass nur noch das Nötigste gemacht wird. Deswegen brennen auch so viele aus, steigen aus, werden krank. In den letzten 20 Jahren haben die Pflegenden praktisch unter sehr schlechten Bedingungen gearbeitet. Sie werden nicht gut bezahlt und das Niveau wird abgesenkt.
Hinzu kommt – und das ist auch typisch für Deutschland –, dass jeder alles macht. Wir haben diese berufliche Trennung nicht, die im Ausland ganz stark ausgeprägt ist. In Skandinavien, in Großbritannien, in den USA, im arabischen und asiatischen Raum – da platzt die Pflege vor Stolz. Die kriegen auch eine hohe gesellschaftliche Anerkennung und entsprechende Gehälter, aber in Deutschland kommen die sich irgendwie als das aller Letzte vor. „Ich bin nur Krankenschwester, Mädchen für alles“, heißt es oft.
Sie lernen es außerdem auch nicht in der Ausbildung, stolz zu sein. Dafür bräuchten wir eigentlich ein Curriculum und die Ermutigung von Vorgesetzten und Lehrern, stolz zu sein. Der fehlende Berufsstolz hat in Deutschland auch etwas mit der Geschichte bzw. der Herkunft der Pflege zu tun. Hier kommt sie ganz ursprünglich aus den christlichen Ordensgemeinschaften, wodurch der Pflege von Beginn eine Art Opferrolle zugeordnet ist. Das ist in anderen Ländern auch anders.
Dies sind einige Gründe, aber es gibt durchaus noch weitere.
„Wenn ein Mensch Pflege braucht und pflegebedürftig ist, dann kann der nicht mehr für sich sorgen. Der ist also völlig abhängig von anderen, und wenn ich jetzt etwas für diesen Menschen mache, dann handle ich stellvertretend für ihn. Er wird durch mich wirksam. Und das ist sehr nah an dem Menschen.“
Angelika Zegelin
Rechtsdepesche: Was genau ist es denn, das den Beruf ausmacht? Weshalb sollten Pflegefachpersonen stolz auf ihren Beruf sein?
Zegelin: Es ist eigentlich einer der schönsten Berufe, die es gibt. Eigentlich. Der Pflegeberuf macht Sinn. Man bekommt sofort irgendwas zurück, ein Lächeln zum Beispiel, und ich kann einem Menschen unmittelbar wohltun. Der Beruf ist auch vielfältig, anspruchsvoll, verantwortungsvoll, weltweit gesucht. Und die Pflegekräfte brauchen auch viele Kenntnisse über Krankheiten, Medikamente, Wissen aus der Psychologie, die Pflege selber hat ja auch einige Konzepte, und so weiter. Das ist also eigentlich ein ganz toller, vielseitiger Beruf.
Ich muss es auch noch einmal etwas anders erklären. Und das hab ich noch nie so gesagt, wie ich das jetzt sage:
Wenn ein Mensch Pflege braucht und pflegebedürftig ist, dann kann der nicht mehr für sich sorgen. Der ist also völlig abhängig von anderen, und wenn ich jetzt etwas für diesen Menschen mache, dann handle ich stellvertretend für ihn. Er wird durch mich wirksam. Und das ist sehr nah an dem Menschen. Das hat auch viel mit Würde und Autonomie zu tun.
Für unser Wertesystem ist dieses Stellvertretende eine ganz vornehme Tätigkeit. Und zwar deswegen, weil die Menschen alle sehr unterschiedlich, individuell sind. Und als Pflegeperson muss ich den einzelnen Individuen gerecht werden.
Stellen Sie sich mal vor, Sie können sich noch nichtmal die Nase putzen und sind völlig von der Unterstützung eines anderen abhängig. Solche Situationen gibt es in der ambulanten Pflege, wo dann nur die Pflegeperson kommt und wieder geht. Das ist eine riesige Verantwortung, die ganz viel Wissen und das Einstellen auf den konkreten Menschen erfordert. Durch die veränderten Bedingungen werden die Individuen jedoch nicht mehr ausreichend fokussiert. Das können wir auch nicht mehr wieder gut machen. Für mich ist es wie gesagt eigentlich einer der schönsten und sinnvollsten Berufe, der aber durch Personal- und Zeitmangel verschwimmt. Aber die Pflege wehrt sich ja auch nicht.
„Die hoffen, durch Demut und Klagen wird schon jemand aufmerksam. Aber das ist natürlich nicht sexy.“
Angelika Zegelin
Rechtsdepesche: Warum wehrt die sich nicht?
Zegelin: Weil sie nicht organisiert ist, die Pflegenden agieren nur vereinzelt. Auf den Personalmangel antworten Politik und Träger mit Qualifikationsabsenkung. Das macht die Sache natürlich weiter kaputt, denn die engagierten Pflegepersonen verlieren dadurch zunehmend das Interesse an ihrem Beruf. Die mucken aber auch nicht auf. Eigentlich arbeiten sie schon seit vielen Jahren unter Streikbedingungen. Aber viele denken, „sonst macht‘s ja keiner“. Das hat auch viel mit Solidarität mit den zu Pflegenden und Kollegen zu tun. Zudem gibt es in vielen Einrichtungen ja auch gar keine Betriebsräte. Das einzige, was einige machen, sind Belastungsanzeigen zu verfassen, aber das ist ja letztlich auch nur ein bürokratischer Akt. Ansonsten wird die ganze Situation als stummes Leid ertragen und die schlechten Verhältnisse weitergetragen. Die hoffen, durch Demut und Klagen wird schon jemand aufmerksam. Aber das ist natürlich nicht sexy.
„Ich finde, stolze Leute sollten diese Prämie zurückweisen. Es kommt mir vor, als balgen sich die Würmer im Staub um ein paar Almosen.“
Angelika Zegelin
Rechtsdepesche: Hat sich durch die Corona-Krise etwas daran geändert, gehen Pflegefachkräfte nun selbstbewusster mit ihrem Beruf um? Und auf der anderen Seite: Ist die gesellschaftliche Anerkennung des Berufs gestiegen?
Zegelin: Gar nichts. Die Systeme sind so stabil und in Gesetze und Verordnungen gegossen, das ändert sich jetzt nicht durch die Corona-Krise. Im Gegenteil: Die ganze Handhabung mit den Corona-Prämien für einige Pflegepersonen finde ich sehr unwürdig. Ich finde, stolze Leute sollten diese Prämie zurückweisen. Es kommt mir vor, als balgen sich die Würmer im Staub um ein paar Almosen. In den Kliniken wird jetzt überlegt, wie die Gelder verteilt werden. Das ist ein Bürokratiemonster, das ganze viel Ärger machen und Enttäuschungen mit sich bringen wird.
Es müsste an vielen anderen Stellschrauben gedreht werden, um den Pflegeberuf zukunftsfähig zu machen. Die Pflege müsste besser bezahlt werden. Aber der Import von Fachpersonal aus dem Ausland beispielsweise zeigt ja, dass man nicht bereit ist, hierzulande an der Situation etwas zu ändern. Wir haben ja eigentlich sehr viele Pflegekräfte hier, die ihren Beruf niedergelegt haben. Wir müssten uns nur viel mehr Mühe geben, die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
„Das Wichtigste wäre, dass die Pflege sich ihrer Macht bewusst würde – aber nicht mit Demonstrationen, sondern mit Streiks.“
Angelika Zegelin
Rechtsdepesche: Was muss sich noch ändern, damit der Berufsstolz in der Pflege wächst? Glauben Sie, dass beispielsweise Pflegeberufekammern oder Gewerkschaften wie der neu gegründete „Bochumer Bund“ hier einen Beitrag leisten können?
Zegelin: Einzelne Personen können sicher nichts ausrichten. Das Wichtigste wäre, dass die Pflege sich ihrer Macht bewusst würde – aber nicht mit Demonstrationen, sondern mit Streiks. Die Pflege ist ja eine Reaktion auf unmittelbare Bedürfnisse der Menschen. Ich kann jemanden, der Pflege braucht, nicht vier Stunden alleine lassen. Das Pflegepersonal sitzt eigentlich an einem ganz starken Hebel. Wenn gestreikt wird, dann muss ganz schnell reagiert werden.
Es wäre auch wichtig, dass die Pflege sich richtig organisiert. Wir brauchen eine machtvolle Organisation für die Pflege. Die Ärzte machen uns das vor. Dazu benötigen wir alle Organe der Selbstverwaltung: Kammern, Berufsverbände, Gewerkschaften. Ich selber bin DBfK-Mitglied seit 50 Jahren, der hat 20.000 Mitglieder, müsste aber 500.000 Mitglieder haben. Und wir brauchen nicht viele kleine Bündnisse, sondern einen großen Verband. Hätte der DBfK 50.000 Mitglieder könnte er auch Gewerkschaft werden, so wie zum Beispiel der Marburger Bund für die Ärzteschaft.
Wir bräuchten meiner Ansicht nach auch ein Bundesministerium für Pflege, das ist schließlich ein so großer Bereich. All das haben wir ja gar nicht. Wir haben einen Pflegebeauftragten und das wars auf politischer Ebene. Die Pflege ist eine so große Hausnummer, wir brauchen hier einen ganz anderen Handlungs-Background.
Rechtsdepesche: Vielen Dank für das Interview.
Das Interview hat die Online-Redakteurin Maren van Lessen mit Dr. Angelika Zegelin am 7. September 2020 geführt.