Kindheit im falschen Geschlecht
Ein Chirurg verpfuschte ihr Leben: Christiane Völling wurde im April 1959 am Niederrhein geboren und wuchs in ihrer Kindheit als Junge auf. Die ehemalige Krankenpflegerin war bei ihrer Geburt von der Hebamme fälschlicherweise als Junge bestimmt worden, weil ihre Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig waren. Trotz Zweifel wurde die vergrößerte Klitoris als Penis bezeichnet und sie fortan Thomas genannt.
In ihren Kinder- und Jugendjahren fühlte sie sich jedoch stets als Mädchen – hat das auch immer wieder von sich selbst behauptet. Dass sich bei ihr auch männliche sekundäre Geschlechtsmerkmale entwickelt hatten, lag an einer Stoffwechselerkankung an der sie seit ihrer Geburt leidet.
Das Adrenogenitale Syndrom (AGS) stört die Produktion gewisser Hormone, was zu einem Hormonungleichgewicht führt. Dass Christiane von dieser Krankheit betroffen war, wusste damals noch niemand.
Bereits als Kind kam sie dadurch vorzeitig in die Pubertät, hatte gesundheitliche Probleme und wurde von Gleichaltrigen gemieden. All das hat auch zu psychischen Problemen und Selbstmordgedanken geführt.
Plötzlich, im Alter von 12 Jahren, hörte das vorschnelle Wachstum auf. Auch heute noch ist Christiane 1,56 Meter groß und muss mit gesundheitlichen Beschwerden kämpfen.
Christiane erfährt zufällig von ihrer Intersexualität
Bei einer Operation im Alter von 16 Jahren wurde bei ihr ein angeblicher Hodenhochstand diagnostiziert. Anschließende Untersuchungen konnten jedoch weder im Hodensack noch in der Leistengegend Hoden feststellen.
Stattdessen entdeckten die Ärzte Gebärmutter, Eileiter und Eierstöcke und teilten Christiane mit, sie sei zu 60 Prozent eine Frau. Was sie damals nicht erfuhr: Eine Chromosomenanalyse ergab eine normal weibliche Chromosomenkonstitution.
Im Interview mit der taz erzählt sie, dass ein Arzt zu ihr sagte: „Solche Menschen wie dich hat man früher auf dem Jahrmarkt ausgestellt“.
Zunächst zutiefst verunsichert plagten sie Selbstmordgedanken. Nachdem sich ihr psychischer Zustand gefestigt hatte, entschied sie sich dazu eine operative Anpassung an ihr Erscheinungsbild vorzunehmen.
Die fatale Operation: Chirurg entfernt alle weiblichen Geschlechtsorgane
Die Operation führte der damalige Oberarzt der Chirurgischen Abteilung des Krankenhauses durch. Mit dabei war der Oberarzt der Chirurgischen Klinik. Laut Anästhesieprotokoll war eine „Testovarektomie“ vorgesehen. Hierbei sollte eine Keimdrüse entfernt werden, die angeblich sowohl männliches als auch weiblichen Gewebe enthielt.
Womit die Ärzte nicht rechneten: Es zeigte sich ein völlig anderer Befund als durch die Voruntersuchung vermutet wurde. Es wurde ein gemischt-männliches Geschlecht mit verkümmerten weiblichen Geschlechtsorganen erwartet. Stattdessen zeigte sich eine normale weibliche Anatomie.
Statt die OP abzubrechen und die Patientin über den neuen Befund aufzuklären, führten die Ärzte den Eingriff fort. Sie entfernten Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter. Männliches Keimdrüsengewebe wurde nicht gefunden. Sie war also in Bezug auf ihr Keimdrüsengewebe und ihre Chromosem seit der Geburt tatsächlich weiblich.
Christiane war nicht klar, dass die Ärzte normale weibliche Anatomie entfernen würden. In ihrem Glauben handelte es sich um einen korrektiven Eingriff, der dazu beiträgt, dass eins von zwei vorhandenen Geschlechtern angepasst und beibehalten wird. Tatsächlich wurde das einzig vorhandene Geschlecht entfernt – das weibliche.
Dass die Ärzte normale weibliche Genitale entfernt hatten, wurde Christiane nicht gesagt. Die Ärzte behaupteten das Gewebe hätte sich bereits zu einem Tumor entwickelt.
Erst 2006 erhält sie Einsicht in ihre Krankenhausakte. Das war 29 Jahre nach der Operation. Daraufhin verklagt sie ihren Chirurgen vor Gericht auf Schadensersatz und fordert 100.000 Euro.
Selbstbestimmungsrecht wurde in „ganz erheblichem Maße“ verletzt
Bereits das erstinstanzliche Urteil vor dem Landgericht Köln hat den Chirurg für schuldig befunden. Seine Berufung vor dem Oberlandesgericht Köln im September 2008 wurde abgelehnt.[1]
Das Gericht stellt fest, dass Christiane nicht ausreichend über die Operation aufgeklärt wurde. Sie gab ihre Einwilligung für einen Eingriff, der so letztlich nicht stattgefunden hat. Über die tatsächliche Natur des Eingriffs wurde sie nicht informiert. Ohne wirksame Einwilligung ist die durchgefürte Operation rechtswidrig und das Selbstbestimmungsrecht „in ganz erheblichem Maße“ verletzt.
Doch dadurch allein ergebe sich noch keine Haftung, so der Chirurg vor Gericht. Schließlich wurde er nur für die Durchführung der Operation herangezogen und müsse sich dabei auf die Anweisungen sowie die korrekte Aufklärung seitens der überweisenden Ärzte verlassen können.
In Bezug auf die Aufklärung mag der Einwand des Chirugs stimmen. Eine Pflicht für den Chirurg sich im Vorfeld der Operation zu vergewissern, dass eine hinreichende Aufklärung vorlag, konnte das Gericht nicht erkennen.
Allerdings darf der Chirurg nicht einfach blind dem folgen, was die überweisenden Ärzte sagen. Sollten sich Bedenken gegen das diagnostische Vorgehen und die Aufklärung des überweisenden Arztes ergeben, kann der Chirurg den Angaben nicht mehr vertrauen.
Ignoriert er dann sein Zweifel, beteiligt er sich schuldhaft ein einem rechtswidrigen Eingriff. Dass solche Zweifel im vorliegenden Fall aufgetreten sein müssen, steht für das Gericht außer Frage.
Chirurg hätte Operation abbrechen müssen
Entgegen den Angaben der überweisenden Ärzte zeigte sich während der Operation für den Chirurg ein völlig anderes Bild. Ein Testovar, was er eigentlich entfernen sollte, konnte er nicht finden. Stattdessen zeigten sich normale weibliche Geschlechtsorgane.
Die Angaben des Internisten und weitere pathologische Berichte bestätigen den intraoperativen Befund. „Es musste auch ihm [dem Chirurg] also klar sein, dass das Vorgefundene sich essenziell von dem unterschied, zumindest über das hinausging, worauf offenbar die Indikation gründete“, so das Gericht.
Der Chirurg hätte also erkennen müssen, dass sich die Einwilligung der Patientin offensichtlich nicht auf die Entfernung sämtlicher und ausschließlich vorhandener weiblicher Genitalien bezog. Das Vertrauen, welches er gemäß der Arbeitsteilung in die Angaben seiner Kollegen hatte, hätte durch seine Feststellung während der OP erschüttert sein müssen.
Da er den Eingriff tortzdem fortführte, trägt auch er die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit des Eingriffs. In der Hinsicht ist es auch egal, dass ein weiterer Arzt (Internist) anwesend war.
Der Chirurg ist auch nach Urteil des Oberlandesgerichts Köln schuldig und muss 100.000 Schmerzensgeld zahlen.
Christiane Völlings Kampf für Gerechtigkeit und Aufklärung
Christiane Völling ist heute Aktivistin für Intersexualität und hat über ihren Fall ein Buch[2] geschrieben. Dort schildert sie ihre Erfahrungen mit Ärzten, Eltern sowie Mitmenschen.
Dass am Ende des Gerichtsverfahrens nur noch der Chirurg verurteilt wurde, liegt an der Verjährungfrist. Verantwortlich für das Leben von Christiane ist aber nicht nur er. An vielen Stellen haben Ärztinnen und Ärzte nicht korrekt gehandelt.
Über 46 Jahre lebte sie als Mann, obwohl sie sich stets als Frau fühlte. Ihr Fall gilt als weltweit erster, bei dem eine intersexuelle Person mit solch einer Klage Recht bekommen hat.
FAQ
Wer ist Christiane Völling?
Christiane Völling ist eine deutsche Frau, die als Intersexuelle geboren wurde und fälschlicherweise als Junge aufgezogen wurde. Im Jugendalter wurde sie ohne ausreichende Aufklärung operiert, weobei ihr weibliche Geschlechtsorgane entfernt wurden. Jahrzehnte später geann sie einen wegweisen Schadensersatzprozess gegen den verantwortlichen Chirurgen, wodurch ihr Fall internationale Aufmerksamkeit erlangte.
Warum wurde der Chirurg im Zwitterprozess verurteilt?
Der Chirurg wurde verurteilt, weil er während der Operation entgegen den vermuteten Befunden normale weibliche Geschlechtsorgane vorfand. Statt die Operation abzubrechen hat er sie entfernt, ohne erneut Rücksprache mit Christiane Völling zu halten. Das Gericht stellte fest, dass die Einwilligung der Patientin für den tatsächlichen Eingriff nicht vorlag, was die Operation rechtswidrig machte. Der Chirurg hätte den angeordneten Eingriff anzweifeln müssen, als sich ihm intraoperativ ein anderes Bild zeigte als vermutet wurde.
Welche Bedeutung hat der Zwitterprozess für die Rechtssprechung?
Der Zwitterprozess hat eine bedeutende Präzedenzwirkung für die Rechtssprechung, da ein Gericht erstmals einer intersexuellen Person Schadensersatz wegen medizinisches Fehlbehandlung zusprach. Das Urteil betont die Notwendigkeit umfassender Aufklärung und Zustimmung der Patienten vor medizinischen Eingriffen.
Quellen:
- OLG Köln vom 3. September 2008 – 5 U 51/08
- Völling, Christiane (2010): Ich war Mann und Frau. Mein Leben als Intersexuelle. Köln: Fackelträger Verlag.