S3-Leitlinie und deren haftungsrechtliche Verbindlichkeit
S3-Leitli­nie und deren haftungs­recht­li­che Verbind­lich­keit

Einlei­tung

Die wissen­schaft­li­chen Diszi­pli­nen Medizin und Pflege sind dynamisch und streben stetig nach einer Verbes­se­rung ihrer Leistun­gen. Das leitende Maß ist dabei immer der anerkannte Stand der Wissen­schaft und Forschung (siehe hierzu § 630a Absatz 2 BGB). Nieder­schlag findet dieser „anerkannte Stand“ unter anderem in dem Regel­werk der Arbeits­ge­mein­schaft der Wissen­schaft­li­chen Medizi­ni­schen Fachge­sell­schaf­ten e.V. (AWMF).

Damit Ärzte und Patien­ten prakti­sche Orien­tie­rungs- und Entschei­dungs­hilfe über die state-of-the-art Versor­gung bei spezi­fi­schen Gesund­heits­pro­ble­men erhal­ten, stehen augen­blick­lich 820 Leitli­nien im AWMF-Regis­ter zur Verfü­gung, die syste­ma­tisch entwi­ckelte Aussa­gen über den gegen­wär­ti­gen Erkennt­nis­stand von derzeit 183 wissen­schaft­lich arbei­ten­den medizi­ni­schen Fachge­sell­schaf­ten und drei assozi­ier­ten Gesell­schaf­ten enthal­ten.

Die Evidenz der S3-Leitiene zur Lagerungs- und Mobili­sa­ti­ons­the­ra­pie

Am 25. Juli 2023 hat die „Lagerungs­the­ra­pie und Mobili­sa­tion von kritisch Erkrank­ten auf Inten­siv­sta­tio­nen“ unter Feder­füh­rung der Deutschen Gesell­schaft für Anästhe­sio­lo­gie und Inten­siv­me­di­zin e.V. (DGAI) ein Update im Evidenz­grad erhal­ten und steht seither auf dem höchs­ten entwick­lungs­me­tho­di­schen Quali­täts­ni­veau einer hochwer­ti­gen S3-Leitli­nie zum Abruf bereit.

Den adres­sier­ten ärztli­chen und nicht­ärzt­li­chen Berufs­grup­pen auf den Inten­siv­sta­tio­nen der statio­nä­ren Versor­gungs­ein­hei­ten sollen durch die Handlungs­emp­feh­lun­gen Entschei­dungs­hil­fen an die Hand gereicht werden, die eine möglichst hohe Quali­tät und Sicher­heit in Bezug auf die Lagerungs- und Mobili­sa­ti­ons­the­ra­pie gewähr­leis­ten, die sich prognos­tisch positiv auf Endpunkte wie Morta­li­tät, Funktio­na­li­tät, Lebens­qua­li­tät, Kogni­tion, Beatmungs­dauer oder die Inten­siv­sta­ti­ons- sowie Kranken­haus­ver­weil­dauer auswir­ken können. Auf der Thera­pie- und Quali­täts­si­che­rungs­ebene spielen die Leitli­nien damit eine wichtige Rolle für die schnelle und kompe­tente Verbrei­tung der heuti­gen inten­siv­me­di­zi­ni­schen Behand­lungs­pfade.

Mobili­sie­rung nach S3-Leitli­nie: wann, wer und wie?

Auch vor dem Hinter­grund einer schwa­chen perso­nel­len Beset­zung, dem fehlen­den Equip­ment und der zu gerin­gen finan­zi­elle Unter­stüt­zung der Inten­siv­sta­tio­nen ist die konsen­tierte wissen­schaft­li­che Meinung für die Einlei­tung von passi­ven oder aktiven Bewegungs­maß­nah­men an den Patien­ten, die zuvor funktio­nell unabhän­gig waren und bei denen keine Kontra­in­di­ka­tio­nen vorlie­gen, eindeu­tig:

Mit einem starken Empfeh­lungs­grad wird die Frühmo­bi­li­sa­tion in der Leitli­nie als Beginn der Mobili­sa­tion inner­halb von 72 Stunden nach Aufnahme auf der Inten­siv­sta­tion empfoh­len und wird nicht nur den Physio­the­ra­peu­ten als Aufgabe, sondern dem gesam­ten Behand­lungs­team zur Abstim­mung in einem Trainings- und Mobili­sa­ti­ons­plan zugewie­sen. Bezogen auf spezi­elle Krank­heits­bil­der (z. B. Subarach­no­idal­blu­tung) oder Behand­lungs­ar­ten (z. B. konti­nu­ier­li­cher Nieren­er­satz­the­ra­pie (CRRT), CMO-/ECLS-Thera­pie) werden die Empfeh­lungs­grade einer Risiko-Nutzen-Abwägung unter­zo­gen und modifi­ziert, bezie­hungs­weise dahin gehend abgeän­dert, dass eine medizi­nisch notwen­dige Immobi­li­sa­tion expli­zit angeord­net werden soll (z. B. bei Patien­ten unter ECMO-Thera­pie).

Zur Vermei­dung von Sicher­heits­ri­si­ken wird für die Durch­füh­rung der (Früh-)Mobilisation ein proto­koll­ba­sier­tes Vorge­hen und die Integra­tion von Sicher­heits­kri­te­rien in das Mobili­sa­ti­ons­pro­to­koll (z.B. pulmo­n­ale und kardio­vas­ku­läre Voraus­set­zun­gen) empfoh­len. Zur Überwa­chung der Vital­pa­ra­me­ter während Mobili­sa­tion sollten Herzfre­quenz, Blutdruck und periphere Sauer­stoff­sät­ti­gung konti­nu­ier­lich und engma­schig erfasst werden. Bei beatme­ten Patien­ten sollten zudem die wichtigs­ten Beatmungs­pa­ra­me­ter konti­nu­ier­lich darge­stellt werden.

Einsatz von Hilfs­mit­teln

Ziel des Einsat­zes von Hilfs­mit­teln ist es, dem Muskel­ab­bau durch passive, aktiv-unter­stützte oder aktive Mobili­sie­rung vorzu­beu­gen und Behand­lungs­er­geb­nisse von kritisch erkrank­ten Patien­ten zu verbes­sern. Hilfs­mit­tel umfas­sen geräte­un­ter­stützte Maßnah­men für passive, assis­tiert-aktive oder aktive Mobili­sa­tion und den Einsatz von Robotik.

Ihre Anwen­dung ist häufig Teil von hetero­ge­nen, multi­mo­da­len Studi­en­in­ter­ven­tio­nen in Kombi­na­tion mit (Früh-)Mobilisation, dem jewei­li­gen Behand­lungs­stan­dard oder neuro­mus­ku­lä­rer Elektro­sti­mu­la­tion. Während bei den klassi­schen Hilfs­mit­teln das Bettfahr­rad und Laufband mit Körper­ge­wichts­un­ter­stüt­zung in der Leitli­nie nur mit einem schwa­chen Empfeh­lungs­grad verse­hen worden sind, weil auf musku­lä­rer Ebene keine Effekte nachge­wie­sen werden konnten, wurde den automa­ti­sier­ten Syste­men der robotik­un­ter­stütz­ten Maßnah­men zur (Früh-)Mobilisation eine höhere Wahrschein­lich­keit für den Nutzen zugespro­chen. In der Leitli­nie wird ausdrück­lich darauf hinge­wie­sen, dass vor dem Kauf von Robotik­sys­te­men eine Prüfung des mögli­chen Nutzens durch­ge­führt werden sollte.

Recht­li­che Wirkung der S3-Leitli­nie

Auf der juris­ti­schen Ebene sind diese Inhalte der Ausgangs­punkt für jedwede Verbind­lich­keits­wir­kung. Ob sich eine Klinik an die quali­ta­ti­ven Vorga­ben einer Leitli­nie hält, kann mit vielfäl­ti­gen recht­li­chen Konse­quen­zen verknüpft sein. Im medizi­ni­schen Haftungs­recht ist der entschei­dende Blick darauf gerich­tet, „ob in einer medizi­ni­schen Behand­lung das ärztli­che und nicht­ärzt­li­che Perso­nal unter Einsatz der von ihnen zu fordern­den medizi­ni­schen Kennt­nisse und Erfah­run­gen im konkre­ten Fall vertret­bare Entschei­dun­gen über die thera­peu­ti­schen Maßnah­men getrof­fen und diese Maßnah­men sorgfäl­tig durch­ge­führt hat“.

Bezogen auf die AWMF S3-Leitli­nie der Deutschen Gesell­schaft für Anästhe­sio­lo­gie und Inten­siv­me­di­zin e.V. bedeu­tet dies: Sollten die Maßnah­men zur Frühmo­bi­li­sie­rung überhaupt nicht, bezie­hungs­weise unter Missach­tung der Quali­täts­vor­ga­ben erbracht werden, kann dies als schuld­haf­ter Verstoß gegen die Sorgfalts­pflicht im Sinne von § 276 Abs. 2 BGB bzw. 630a Abs. 2 BGB gewer­tet werden und im Schaden­fall eine Ersatz­pflicht auslö­sen.

Anerkann­ter­ma­ßen wird den AWMF-Leitli­nien in der gericht­li­chen Praxis als sog. „Entschei­dungs­kor­ri­dor“ zwar nur ein „Empfeh­lungs­cha­rak­ter“ zugespro­chen. Jedoch geht das Gesetz und die Recht­spre­chung vor dem Hinter­grund der Verpflich­tung aus dem Behand­lungs­ver­trag (§ 630a Absatz 2 BGB) überein­stim­mend davon aus, dass die „Zusage des Standards“ auch Gegen­stand des ärztli­chen Leistungs­an­ge­bots ist.

Reprä­sen­tiert wird dieses Quali­täts­ni­veau nach der gefes­tig­ten Recht­spre­chung des Bundes­ge­richts­hof aus den, „zum Behand­lungs­zeit­punkt gesicher­ten natur­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen, die zur Errei­chung des Behand­lungs­ziels erfor­der­lich sind und sich in der Erpro­bung bewährt haben“.

Gespro­chen in den Worten des heraus­ra­gen­den Mediz­in­ju­ris­ten Dieter Hart ist eine Leitli­nie in diesem Sinne medizi­nisch verbind­lich, wenn sie dem Standard entspricht und erlangt recht­li­che Verbind­lich­keit, weil sie dem Standard entspricht. In der haftungs­recht­li­chen Praxis fragen die Richter daher in allen Instan­zen danach, ob die medizi­ni­schen Leistun­gen hinter dem Gefor­der­ten zurück­ge­blie­ben sind und die Verant­wort­li­chen hierfür eine Einstands­pflicht trifft.

Prozes­sual wird dieses Votum in einem medizi­ni­schen Haftungs­pro­zess durch das Gutach­ten des gericht­li­chen Sachver­stän­di­gen präzi­siert, der regel­mä­ßig auf Leitli­nien-Basis einen Abgleich des medizi­ni­schen Behand­lungs­ge­sche­hens mit den ärztlich-insti­tu­tio­nel­len Vorga­ben vornimmt. In der Urteils­fin­dung stehen dem Richter sodann die objek­ti­ven Vorga­ben der medizi­ni­schen Fachge­sell­schaf­ten zur Schlüs­sig­keits­prü­fung des Sachver­stän­di­gen­gut­ach­tens und der abschlie­ßen­den Bewer­tung des Fehlver­hal­ten zur Verfü­gung.

Ein Abwei­chen von dem anerkann­ten Stand der medizi­ni­schen Wissen­schaft und Forschung ist nur dann angezeigt, wenn medizi­ni­sche Gründe dies gebie­ten oder, wenn dies mit dem Patien­ten verein­bart wurde (§ 630 Abs. 2 BGB). In diesem Fall muss der Arzt den Patien­ten darüber aufklä­ren, dass nicht standard­kon­form behan­delt wird und keine gesicher­ten Erkennt­nisse darüber vorlie­gen, welchen Erfolg und welche Risiken das standard­ab­wei­chende Behand­lungs­kon­zept beinhal­tet.

Wird zum Beispiel die Frühmo­bi­li­sa­tion nicht inner­halb des gebote­nen Zeitfens­ters von 72 Stunden, sondern erst nach einer Woche vorge­nom­men, muss es entwe­der medizi­ni­sche Gründe für die Verspä­tung geben oder die Abwei­chung Teil der Verein­ba­rung mit dem Patien­ten sein. Liegt beides nicht vor, können der Einrich­tung sowie den Behan­deln­den haftung­recht­li­che Konse­quen­zen drohen.

Fazit

Die Standar­di­sie­rung der Medizin durch Leitli­nien darf der Entwick­lung neuer Verfah­ren, die bessere Chancen zur Bekämp­fung von Krank­hei­ten eröff­nen nicht im Wege stehen. In diesem Sinne sind Leitli­nien als maßgeb­li­ches Instru­ment der Standar­di­sie­rung der medizi­ni­schen Wissen­schaft dauern­den Verän­de­run­gen unter­wor­fen.

Die Beweg­lich­keit ist gewis­ser­ma­ßen Wesens­merk­mal. Schon in der Vergan­gen­heit hat sich leider wieder­holt gezeigt, dass die Umset­zung der (Früh-)Mobilisation auf den Inten­siv­sta­tio­nen hinter der vorge­ge­be­nen Quali­tät und Quanti­tät zurück­ge­blie­ben ist. Zurück­zu­füh­ren ist dies in der Haupt­sa­che auf die perso­nel­len Engpässe in den inten­siv­me­di­zi­ni­schen Versor­gungs­ein­hei­ten. Abseh­bar wird sich dieser Effekt vor dem Hinter­grund der schwin­den­den Perso­nal­res­sour­cen schon in naher Zukunft drama­tisch verstär­ken. Die Öffnungs­klau­sel zu Gunsten der Robotik­sys­teme zur Verbes­se­rung der Behand­lungs­er­geb­nisse von kritisch erkrank­ten Patien­ten erscheint da als angemes­sene Lösung zur gegen­wär­tig dringend gebote­nen Perso­nal­ent­las­tung. An der techno­lo­gi­schen Unter­stüt­zung der Frühmo­bi­li­sa­tion scheint in der aktuel­len Zeit kein Weg vorbei­zu­füh­ren.

Von Prof. Dr. Volker Großkopf und Michael Schanz