Sturzprophylaxe Maßnahmen
Der Sturz einer 94-jähri­gen in einer Pflege­ein­rich­tung endete im Kranken­haus.

Eine 94-jährige Frau hatte Pflege­grad 4 und befand sich deshalb in einer Pflege­ein­rich­tung. Die Frau hatte Gangun­si­cher­hei­ten, Gleich­ge­wichts­stö­run­gen und eine fortge­schrit­tene Demenz. Bereits sieben Mal ist sie in der Einrich­tung gestürzt.

Ein achter Sturz endete für die Frau im Kranken­haus – sie erlitt eine Gehirn­er­schüt­te­rung und brach sich die Hüfte. Sie wurde operiert und anschlie­ßend statio­när behan­delt. Einige Tage nach dem Vorfall verstarb sie im Kranken­haus.

Keine Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men?

Die Tochter der Frau macht für den Tod die Pflege­ein­rich­tung verant­wort­lich, die angeb­lich keine Maßnah­men zur Sturz­pro­phy­laxe unter­nahm. Der Tod der Mutter sei kausal auf den Sturz zurück­zu­füh­ren. Hätte die Einrich­tung für die Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men ergrif­fen, wäre ihre Mutter noch am Leben.

Folgende Maßnah­men der Sturz­pro­phy­laxe hätten nach Meinung der Tochter vorge­nom­men werden:

  • Aufklä­rung, dass ein selbs­stän­di­ges Laufen zu unter­las­sen ist
  • Versor­gung mit Windeln
  • Rufmög­lich­kei­ten nach Perso­nal
  • Alarm­sen­so­ren am Bett
  • Hüftpro­tek­to­ren
  • Niedrige Bettgit­ter

Weil all diese Sturz­pro­phy­laxe Maßnah­men nicht ergrif­fen wurden, klagt die Tochter vor Gericht gegen die Pflege­ein­rich­tung. Sie begehrt ein Hinter­blie­be­nen­geld in Höhe von 8.000 Euro sowie 450 Euro antei­lige Beerdi­gungs­kos­ten.

Pflege­ein­rich­tung sieht keine Fehler

Die Pflege­ein­rich­tung sieht das nicht so. Sie ist der Meinung sie hätte sehr wohl für die Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men ergrif­fen, die erfor­der­lich waren. Ein detail­lier­ter Maßnah­men­plan zur Sturz­pro­phy­laxe in der Pflege der Frau sei nicht notwen­dig gewesen.

Die Frau sei bei der Benut­zung ihres Rolla­tors stets beglei­tet worden. Außer­dem wurden im Sinne der Sturz­pro­phy­laxe Risiko­fak­to­ren mit ihr abgespro­chen. Eine Rufmög­lich­keit war ebenfalls gegeben, in Form eines Notruf­tas­ters am Bett, im Vorraum, am Wasch­be­cken und in der Dusche.

Alarm­sen­so­ren hinge­gen seien für die Pflege­ein­rich­tung wirtschaft­lich unzumut­bar und nicht umzuset­zen. Hüftpro­tek­to­ren hätten die Verlet­zun­gen nicht verhin­dert und ein Gitter am Bett der Frau hätten das Sturz­ri­siko nur erhöht.

Die Pflege­ein­rich­tung behaup­tet, dass nur eine Fixie­rung oder eine lücken­lose Beobach­tung einen Sturz zuver­läs­sig verhin­dert hätte.

Sachver­stän­dige: „Organi­sa­ti­ons­ver­sa­gen der Einrich­tung“

Das Gericht gibt der Tochter zumin­dest zum Teil recht. Ihr steht tatsäch­lich ein Hinter­blie­be­nen­geld und eine Erstat­tung der Beerdi­gungs­kos­ten zu, aller­dings nicht in gefor­der­tet Höhe.

Die vor Gericht hinzu­ge­zo­gene Sachver­stän­dige geht von einem Organi­sa­ti­ons­ver­sa­gen der Pflege­ein­rich­tung aus. Es hätten für eine angemes­sene Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men in einer Pflege­pla­nung gebün­delt werden müssen, die bei einer Person zusam­men­lau­fen.

Die Beweis­auf­nahme hätte jedoch gezeigt, dass dies nicht der Fall war. Vielmehr gab es unter­schied­li­che Ansprech­per­so­nen. Eine Konti­nui­tät der Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men konnte nicht festge­stellt werden.

Außer­dem hätte es eine Fallbe­spre­chung geben müssen, die auch die gesetz­li­chen Vertre­ter mit einbe­zieht, da die Frau kogni­tiv nicht zurech­nungs­fä­hig war. Bei dieser Fallbe­spre­chung hätte eine fachlich fundierte Einschät­zung über den Zustand der Frau abgege­ben werden müssen.

In der Fallbe­spre­chung hätten Maßnah­men zur Mobili­täts­för­de­rung und Förde­rung der Selbst­be­stim­mung disku­tiert werden müssen. Bei der Abwägung des Sturz­ri­si­kos hätte auch der Hausarzt mitein­be­zo­gen werden müssen, da die Medika­tion ggf. Schwin­del hervor­ruft.

Keine Fallbe­spre­chung = grober Pflege­feh­ler

Generell hätte in der Fallbe­spre­chung eine Abwägung zwischen Freiheits­rech­ten und dem Schutz vor Verlet­zun­gen vorge­nom­men werden müssen.

Ob eine Fallbe­spre­chung den Tod der Frau verhin­dert hätte, kann die Sachver­stän­dige nicht sagen. Aller­dings sieht sie in der Unter­las­sung der Fallbe­spre­chung einen groben Pflege­feh­ler.

Eine Sturz­pro­phy­laxe nach Exper­ten­stan­dard hätte nach jedem Sturz (insge­samt waren es acht) der Frau eine Neueva­lua­tion und Neuein­schät­zung zu weite­ren Maßnah­men vorge­se­hen.

Auch wurde nach der Änderung des Ernäh­rungs­sta­tus keine Neube­wer­tung der Situa­tion vorge­nom­men, was nach Ansicht der Sachver­stän­di­gen ganz klar gegen den Exper­ten­stan­dard „Sturz­pro­phy­laxe“ verstößt.

Einrich­tung konnte nicht den Beweis erbrin­gen, dass sie nicht für den Tod der Frau verant­wort­lich ist

In Bezug auf die Todes­ur­sa­che der Frau führt die Sachver­stän­dige aus, dass hier keine eindeu­ti­gen Aussa­gen gemacht werden können. Dazu fehlen Daten. Klar ist, dass der Tod unabhän­gig vom Sturz­ge­sche­hen einge­tre­ten ist.

Die Pflege­ein­rich­tung hätte vor Gericht bewei­sen müssen, dass der Tod nicht kausal mit dem Sturz zusam­men­hängt. Einen solchen Beweis konnte sie aller­dings nicht erbrin­gen.

Aus diesem Grund muss sie eine angemes­sene Entschä­di­gung an die Tochter der Frau zahlen. Entge­gen der verlang­ten 8.000 Euro, hält das Gericht 2.000 Euro Hinter­blie­be­nen­geld für angemes­sen.

Bei der Bemes­sung der Hinter­blie­ben­gel­des ist zu beach­ten, dass auch die Tochter als gesetz­li­che Betreue­rin in der Verant­wor­tung steht, sich um ihre Mutter zu kümmern – gerade bei Demenz­er­krank­ten.

Außer­dem ist zu beach­ten, dass die Frau schon 94 Jahre alt war und dass in diesem Alter praktisch zu jeder Zeit ein Ableben möglich ist. Ferner konnte ein kausa­ler Zusam­men­hang zwischen Sturz und Tod nicht nachge­wie­sen werden.

Fazit

Ob der Sturz der Frau tatsäch­lich kausal für den Tod der Frau ist, bleibt offen. Fakt ist aber: Es hätten für eine ausrei­chende Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men ergrif­fen werden müssen, die nicht gegeben waren.

Das Urteil gibt durch das Gutach­ten der Sachver­stän­di­gen Aufschluss darüber wie der Exper­ten­stan­dard „Sturz­pro­phy­laxe“ aussieht. Im vorlie­gen­den Fall müssen nach Einschät­zung der Sachver­stän­di­gen folgende Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men in der Pflege umgesetzt werden:

  • Fallbe­spre­chung mit gesetz­li­chen Vertre­tern
  • Abgabe einer fachlich fundier­ten Einschät­zung zum Zustand der Betrof­fe­nen (Hausarzt ggf. hinzu­zie­hen wegen Medika­tion)
  • Pflege­pla­nung durch eine Ansprech­per­son
  • Aufklä­rung der betrof­fe­nen Person
  • Mobili­täts­för­de­rung und Förde­rung der Selbst­be­stim­mung
  • Abwägung des Sturz­ri­si­kos
  • Abwägung zwischen Freiheits­rech­ten und dem Schutz vor Verlet­zung
  • Neueva­lua­tion der Maßnah­men nach einem Sturz
  • Neube­wer­tung der Situa­tion nach Änderung des Ernäh­rungs­sta­tus
  • Varia­ble Maßnah­men und Hilfmit­tel für den Einzel­fall: Versor­gung mit Windeln, Rufmög­lich­kei­ten nach Perso­nal, Alarm­sen­so­ren am Bett, Hüftpro­tek­to­ren, Bettgit­ter, Überwa­chung, Fixie­rung

FAQ

Was versteht man unter Sturz­pro­phy­laxe?

Bei der Sturz­pro­phy­laxe in der Pflege geht es darum, die Patien­ten vor Stürzen zu bewah­ren und so das Verlet­zungs­ri­siko zu minimie­ren. Das verant­wort­li­che Pflege­fach­per­so­nal kann hierbei verschie­dene Maßnah­men nutzen, um Stürzen vorzu­beu­gen.

Welche Sturz­pro­phy­laxe-Maßnah­men in der Pflege gibt es?

In jedem Fall sollte eine Fallbe­spre­chung mit den gesetz­li­chen Vertre­tern statt­fin­den. Auch die betrof­fene Person muss über ihren Zustand aufge­klärt werden. Die Pflege­pla­nung sollte von einer Ansprech­per­son geführt werden. Es muss eine Abwägung des Sturz­ri­si­kos statt­fin­den, das auch die Medika­tion beach­tet. Generell müssen die Freiheits­rechte der Betrof­fe­nen und das Verlet­zungs­ri­siko gegen­ein­an­der aufge­wo­gen werden. Im Einzel­fall können zum Beispiel die Versor­gung mit Windeln, Rufmög­lich­kei­ten nach Perso­nal, Alarm­sen­so­ren, Hüftpro­tek­to­ren, Bettgit­ter, Überwa­chung oder sogar Fixie­rung genutzt werden.

Was ist der Exper­ten­stan­dard „Sturz­pro­phy­laxe“?

Der Exper­ten­stan­dard „Sturz­pro­phy­laxe“ ist eine pflege­ri­sche Leitli­nie, die Maßnah­men zur Vorbeu­gen von Stürzen in Gesund­heits­ein­rich­tun­gen festlegt. Im vorlie­gen­den Urteil diente er dem Sachver­stän­di­gen als Grund­lage, um einen Behand­lungs­feh­ler festzu­stel­len.

Quelle: LG Lands­hut vom 2. März 2023 – 42 O 2378/19