Rechtsdepesche: Lieferkettenprobleme, Grippewelle, die deutsche Vergabepraxis oder die Rabattverträge der Kassen: Was sind in Ihren Augen die Ursachen der aktuellen Versorgungsprobleme?
Andreas Aumann: Eine aktuelle grundsätzliche Ursache für mögliche Lieferengpässe liegt in der labilen weltwirtschaftlichen und pandemischen Lage, in der Lieferketten insbesondere aus Asien abbrechen können. Ein strukturell bedingter Grund für Lieferschwierigkeiten ist vor allem die weltweite Konzentration der Wirkstoffproduktion.
Dies ist dem Kostendruck im Gesundheitswesen geschuldet. Die ausufernde Sparpolitik der Krankenkassen im Arzneimittelbereich hat die Versorgungssituation insbesondere bei versorgungsrelevanten Wirkstoffen derart verschärft, dass oftmals nur wenige Anbieter im Markt sind.
Die Arzneimittelpreise sind in Deutschland sowohl für GKV als auch für PKV nahezu lückenlos reguliert. Seit 2010 sind die Preise für viele Arzneimittel eingefroren (Stichwort Preismoratorium). Heißt: Für Arzneimittel gilt ein Preisstopp; Preiserhöhungen sind quasi ausgeschlossen. Diese Regelung wurde durch das kürzlich beschlossene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz nochmals für vier Jahre verlängert.
Das trifft die pharmazeutischen Unternehmen in Zeiten steigender Energie- und Rohstoffpreise und hoher Inflation umso härter. Das bestätigte uns auch das Statistische Bundesamt: Im August und September 2022 wurden die höchsten Anstiege der Erzeugerpreise gegenüber einem Vorjahresmonat seit Beginn der Erhebung im Jahr 1949 gemessen (+45 Prozent).
Zwar verlangsamt sich der Preisauftrieb auf Erzeugerebene seither, doch auch noch im November 2022 waren die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte um 28 Prozent höher als im November 2021. Gleichzeitig zahlt die Industrie beispielsweise für Erdgas mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Durch das seit Jahren gesunkene Preisniveau insbesondere im Generikamarkt, wo der durchschnittliche Preis pro Tagestherapie nach Abzug der Rabatte bei 6 Cent liegt, lohnt es sich unter diesen Voraussetzungen für pharmazeutische Unternehmen oft schlicht nicht, die Produktion bestimmter Arzneimittel aufrechtzuerhalten.
Preisgrenzen wirken für die übrigen Arzneimittel über Fest- und Erstattungsbeträge sowie über Rabattverträge. Für diese gibt es keine Inflationsanpassung.
Um Lieferengpässe zu verhindern, bedarf es daher einer flexiblen und an der aktuellen Inflation orientierten Möglichkeit, die Preise anzupassen. Versorgungsrelevante Arzneimittel müssen vom Preisstopp ausgenommen werden. Wir sehen in aktuellen Gesetzgebungsverfahren, dass es bereits Ausnahmen für bestimmte Arzneimittelgruppen gibt, weil die Versorgungssituation völlig desolat ist.
Für einige der im Preismoratorium befindlichen Arzneimittel gibt es seit 2018 einen Inflationsausgleich auf retrospektiver Basis. Die aktuelle durchschnittliche Inflation kann also erst ab Sommer dieses Jahres über Preisanpassungen ausgeglichen werden. Diese kann aber die krisenbedingte Kostenexplosion bei weitem nicht ausgleichen. Zudem müssen die Unternehmen den Inflationsstau der Jahre 2010 bis 2018 ohne Ausgleich schultern.
Es bleibt abzuwarten, wie sich dies auf die Verfügbarkeit von Arzneimitteln auswirken wird. Diese Entwicklungen können zu akuten Lieferengpässen führen. Schlimmstenfalls drohen Versorgungsengpässe für die Patienten sowie immer neue Abhängigkeiten von Billiglohnländern. Preiserhöhungen sind theoretisch im verschreibungsfreien Markt zwar möglich, hier gibt es aber natürliche Grenzen. Dieser Markt lebt davon, dass Arzneimittel auch bezahlbar sind.
Die Problematik von Lieferengpässen liegt auch in der Natur der Ausschreibungspraktiken der Krankenkassen. Das Risiko für Lieferengpässe wäre geringer, wenn es grundsätzlich erst Ausschreibungen für Arzneimittel geben darf, wenn mindestens vier leistungsfähige Anbieter im Markt sind und zudem die Krankenkassen an mindestens drei Anbieter Zuschläge erteilen müssen.
Eine Arzneimittelproduktion in der EU sollte mit gesondertem Los Berücksichtigung finden. Diese Vorschläge haben wir als BPI schon vor längerer Zeit veröffentlicht. Bisher hat die Politik sie aber leider noch nicht umgesetzt. Stattdessen setzt man, wie am neuen GKV-Finanzstabilisierungsgesetz deutlich wird, wieder einmal nur auf Kostendämpfung. Dies konterkariert die im Koalitionsvertrag festgehaltene Absicht, den Pharmastandort und die Arzneimittelversorgung zu stärken.
„Sicherung der Arzneimittelversorgung in Deutschland ist eine strategische Frage.“
Die Sicherung der Arzneimittelversorgung in Deutschland ist außerdem eine strategische Frage. Eine Stärkung der Arzneimittelproduktion in Deutschland und Europa führt zu mehr Versorgungssicherheit. Wir schlagen deshalb vor, Kostendämpfungsmaßnahmen wie etwa das Preismoratorium zu streichen und die Rabattverträge so anzupassen, dass pharmazeutische Unternehmen wirtschaftlich arbeiten können.
So ließe sich drohenden Versorgungsengpässen entgegenwirken. Eine Standortstärkung (anstatt Rückholung) bedeutet aber auch, dass Investitionen notwendig sind. Der Aufbau von Produktionsanlagen dauert etwa fünf Jahre. Eine Arzneimittelproduktion in Europa wird also automatisch zu höheren Preisen führen.
Doch die damit gewonnene größere Versorgungssicherheit sollte uns das wert sein. Es darf nicht mehr allein um den günstigsten Preis gehen.
Eine weitere Ursache für Lieferengpässe sind hohe Sicherheitsstandards in Deutschland. Bei dem kleinsten Verdacht zum Beispiel auf Verunreinigungen, wird aus Sicherheitsgründen die Produktion und Auslieferung angehalten. Hohe Qualitätsstandards sind wichtig, schließlich geht es um Gesundheitsschutz – und gerade deshalb benötigen wir eine Anbietervielfalt, damit Lieferausfälle kompensiert werden können.
„Die Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder ist aufwendiger.“
Rechtsdepesche: Warum gehen Medikamente für Kinder als erstes aus?
Aumann: Kommt es zu Infektionswellen wie wir sie aktuell erleben, entsteht eine verstärkte Nachfrage bei speziell für Kindern zugelassenen Präparaten. Sind jedoch nur wenige Anbieter im Markt vertreten, ist eine Kapazitätserweiterung oftmals nicht möglich. Ein Ausweichen auf Alternativen ist bei Kindern viel problematischer als bei Erwachsenen, so dass sich die Lage schnell zuspitzen kann.
Zurückzuführen ist dies unter anderem auf eine verfehlte Gesundheitspolitik, mit der wir in den vergangenen Jahren die Anbietervielfalt verloren haben. Zusätzlich sind die Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln speziell für Kinder aufwendiger und kostenintensiver als bei Arzneimitteln für Erwachsene.
Zwar gibt es seit Inkrafttreten der Kinderarzneimittelverordnung einen Trend bei der Zunahme von neuen Kindermedikamenten, doch werden die Erwartungen, die man in die Verordnung gesetzt hatte, bei weitem nicht erfüllt. Das regulatorische Umfeld für Innovationen konterkariert derzeit noch immer das Prinzip der Wirtschaftlichkeit in diesem Bereich der Arzneimittelforschung.
Eine grundlegende Anpassung der frühen Nutzenbewertung bei Kinderarzneimitteln könnte die Versorgungslage verbessern. Im Rahmen des Bündnisses „Future for kids“ hat der BPI das neue Positionspapier zur Frühen Nutzenbewertung bei Kinderarzneimitteln erarbeitet. Aber auch für den Bestandsmarkt benötigen wir Modifikationen, insbesondere bei den Festbeträgen. Hier hat man bislang überwiegend zugewartet, nun muss sich dringend etwas ändern.
Lieferengpässe auch bei Krebsmedikamenten
Rechtsdepesche: Krebsmedikamente sind derzeit rar, welches Ressort ist als nächstes betroffen?
Aumann: Es lässt sich nicht vorhersagen, welche Arzneimittel als nächstes von einem Mangel betroffen sein könnten, da dies von vielen Faktoren abhängt, wie zum Beispiel auch von erhöhten Nachfragen nach bestimmten Arzneimitteln, Produktionsproblemen und Lieferengpässen.
Rechtsdepesche: Wie dynamisch ist die Pharmaindustrie, was die kurzfristige Kompensation von lebenswichtigen Arzneien angeht? Wie schnell kann man Alternativen beschaffen?
Aumann: Die Arzneimittelproduktion ist ein komplexer Vorgang mit vielen einzelnen Schritten. Die Wirkstoffherstellung ist dabei nur der erste Schritt einer langen und oft globalisierten Fertigungskette. Dabei kann die Produktion durch ein Unternehmen selbst oder im Zuge von Lohnherstellung für sich selbst und/oder andere Unternehmen erfolgen.
Wirkstoffe und Hilfsstoffe bilden die wichtigen Ausgangsstoffe für die Herstellung eines Arzneimittels. Gibt es nur wenige Bezugsquellen hierfür, ist der Produktionsprozess sehr häufig anfällig für Störungen durch Lieferschwierigkeiten.
Zudem sind bestehende Produktionskapazitäten auf Monate hinaus im Voraus verplant sind, sodass pharmazeutische Hersteller, wenn überhaupt, nur bedingt agil reagieren können. Nur selten gibt es freie Kapazitäten zur Kompensation, nicht alles kann auf jeder Produktionsstraße hergestellt werden.
Eine Mehrproduktion ist auch ohne den Festpreis für pharmazeutische Unternehmen kurzfristig nicht umsetzbar. Es braucht mehr Vielfalt im Markt, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Damit wieder mehr Unternehmen in die Produktion einsteigen sind langfristige Anreize notwendig, ein temporäres Aussetzen der Festbeträge genügt dafür nicht.
Tiefgreifende Korrekturen in Preisregulierungsmaßnahmen müssen bei allen Arzneimitteln der Grundversorgung erfolgen, zudem gilt es den Forschungs- und Produktionsstandort in Deutschland und Europa zu stärken.
Lesen Sie auch Teil 2 des Interviews!
Zur Person: Andreas Aumann ist seit dem 1. Januar 2020 Pressesprecher und Geschäftsfeldleiter Kommunikation beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e.V. Außerdem ist er Mitglied des BPI-Managementboards für den Bereich Kommunikation.