Sachverhalt
Die Patientin stellte sich an einem Wochenende in der belegärztlich geführten chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses mit starken Schmerzen im Rücken sowie vom linken Knie bis zur Hüfte vor. Anamnestisch wurden zudem chronische Schmerzen angegeben. Schon vor der notfallmäßigen Vorstellung im Krankenhaus litt die adipöse Patientin an arterieller Hypertonie, Harninkontinenz, und einer Schilddrüsenunterfunktion. Zudem wurde Sie bereits im Jahr 2000 mit einer Umstellungsosteotomie am linken Knie sowie 2002 mit einem künstlichen Hüftgelenk links versorgt. Zwei Jahre nach dem in Streit stehenden Behandlungsgeschehen wurde bei der Patientin eine Knie TEP links erforderlich.
Der diensthabende Belegarzt veranlasste eine stationäre Aufnahme. Unter der Verdachtsdiagnose einer akuten Lumboischialgie erfolgten eine Röntgenaufnahme des linken Beines sowie eine Computertomografie der Wirbelsäule. Zudem wurde eine Laboruntersuchung des Blutes beauftragt. Diese zeigte eine sehr deutliche Vermehrung der Leukozyten sowie eine starke Erhöhung des CRP Wertes. Die Auswertung der routinemäßig in Auftrag gegebenen Laborwerte sollte, entsprechend den Vereinbarungen der Belegärzte, durch den diensthabenden Arzt der darauffolgenden Visite erfolgen.
Aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen wurden die Laborergebnisse von allen Ärzten jedoch erst fünf Tage später zur Kenntnis genommen, nachdem sich der Gesundheitszustand der Patientin massiv verschlechtert hatte. Aus den durchgeführten bildgebenden Untersuchungen ergaben sich eine Vorwölbung der Bandscheibe im Segment L2/L3, sowie links laterale Bandscheibenvorfälle mit teilweisem Kontakt zur Wurzel. Eine MRT Untersuchung des Knies zeigte keinen Hinweis auf einen eitrigen Kniegelenkserguss.
Unter Beachtung dieser, zum Vorerkrankungsbild passenden Befunde, wurde die Patientin in der Folge ausschließlich mit verschiedenen Schmerztherapien und intrakutanen Infiltrationen behandelt. Am sechsten stationären Tag zeigte sich dann ein septisches Krankheitsbild, wodurch die Verlegung auf die anästhesiologische Intensivstation der Uniklinik erforderlich wurde.
In der Zusammenschau erkrankte die Patientin letztlich an einer schwer verlaufenden Staphylococcus aureus-Infektion (Spondylodiszitis), die zu einer Sepsis mit Erregeraussat in Haut-und Weichteile führte. Als Dauerschädigung infolge der Sepsis wurde eine Tetraplegie durch Polyneuropathie und Myopathie (Critical illness polyneuropathy) diagnostiziert. Die Behandlung gestaltete sich komplikationsreich über Monate. Im Anschluss an die stationären Behandlungen beantragte die Patientin erstmals Leistungen der Pflegversicherung und bekam unter Einbeziehung aller gesundheitlichen Dauerbeeinträchtigungen einen Pflegegrad zuerkannt.
Rechtliche Würdigung
Der Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, dass bei bereits bestehenden deutlichen Entzündungszeichen in Verbindung mit Schmerzen im Rücken und Beinbereich unmittelbar an ein infektiöses Geschehnis, insbesondere an eine bakterielle Spondylodiszitis gedacht werden muss. Die Nichtzurkenntnisnahme und Nichtberücksichtigung der pathologischen Laborwerte der Blutuntersuchung während des stationären Behandlungsverlaufs seien zudem als grob fehlerhaft zu werten.
Liegt ein grober Behandlungsfehler vor, so geht die Beweislast hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden vom Patienten auf den Arzt über. Zu seiner Entlastung müsste dieser dann nachweisen, dass der eingetretene Gesundheitsschaden des Patienten auch bei einem rechtmäßigen ärztlichen Vorgehen eingetreten wäre. Ein solcher Nachweis kann nur in seltenen Fällen erbracht werden. Dies gilt auch für die Beurteilung der Fragestellung, ob und in welchem Umfang sich der Behandlungsfehler auf den vorgeschädigten Gesamtzustand ausgewirkt und diesen verschlechtert hat.
Im vorliegenden Fall konnte der Beweis nicht gelingen, dass der Krankheitsverlauf auch bei rechtzeitiger Antibiose eingetreten wäre. Lediglich der Behauptung, die zwei Jahre nach der Fehlbehandlung erforderliche Knie TEP sei ebenfalls Folge des septischen Geschehens, konnte erfolgreich entgegengetreten werden, weil hier der insoweit eindeutige MRT-Befund des linken Knies den Gegenbeweis ermöglichte.
Regulierung
Im Ergebnis waren sämtliche im Zusammenhang mit dem septischen Verlauf stehenden Ansprüche der Patientin zu regulieren.
Schwierig gestaltete sich indes die Zukunftsbetrachtung bei der doch deutlich vorgeschädigten Patientin. Hier stellte sich die Frage, in welchem Umfang die bestehenden vermehrten Bedürfnisse der Patientin auf den Behandlungsfehler bzw. die Folgen der Sepsis zurückgeführt werden müssen oder aber den umfangreichen Vorschäden zuzurechnen sind.
Vorliegend wurde ein Pflegegrad erstmals nach der Sepsis beantragt und bewilligt. Während nun seitens der Pflegekasse der Pflegebedarf auf die erworbenen Critical illness polyneuropathy zurückgeführt wurde, spricht die allgemeine Lebenserfahrung wegen der bestehenden erheblichen Anlageleiden für eine zumindest künftige Hilfe- und Pflegebedürftigkeit der Patientin. Aber auch dieser entlastende hypothetische Ursachenzusammenhang ist von dem Behandler nachzuweisen. Der Beweis für den Eintritt einer sogenannten überholenden Kausalität der Anlageleiden verlangt wiederum eindeutige Anhaltspunkte und ist naturgemäß nur schwer zu erbringen. Auf dieser Diskussionsgrundlage konnten sowohl mit der Patientin als auch dem Kranken- und Pflegeversicherer Vergleiche geschlossen werden. Die Regulierung aller Ansprüche belief sich im sechsstelligen Bereich.
Fazit
Die Beachtung eingegangener Befunde im laufenden Behandlungszeitraum ist unverzichtbar. Dies gilt für Arztbriefe anderer Behandler, insbesondere aber für die selbst in Auftrag gegebenen Untersuchungen. Wird dieser Standard nicht gewährleistet und kommt es in der Folge zu einer Gesundheitsverschlechterung beim Patienten, ist regelmäßig von einem groben Behandlungsfehler des Arztes auszugehen. Im Falle der Zusammenarbeit mehrerer Ärzte ist zur Vermeidung dieser Organisationsfehler die konsequente Einhaltung getroffener Absprachen und Verantwortlichkeiten von entscheidender Bedeutung.
Bei stark vorgeschädigten Patienten können Behandlungsfehler Gesundheitsverschlechterungen herbeiführen, die erstmalig eine Hilfe- und Pflegebedürftigkeit mit erheblichen materiellen Aufwendungen auslösen. Die Abgrenzung und der Beweis, ab wann diese vermehrten Bedürfnisse nur noch dem Anlageleiden des Patienten zuzuordnen sind, gelingen nur schwer. Es besteht damit immer die Gefahr, dass der Behandlungsfehler „das Fass zum Überlaufen“ bringt und der Gesamtschaden ungeachtet der Vorschädigungen auszugleichen ist. Der Differenzialdiagnostik kommt demnach bei vorgeschädigten Patienten eine besondere Bedeutung zu.
Quelle: Assessor jur. Daniela Lubberich, HDI Versicherung AG Köln