Fallpauschale
Prof. Dr. med. Hendrik Streeck Bild: BMG – Frank Burkhardt

Die Finan­zie­rung des deutschen Gesund­heits­sys­tems ist ein Problem, das Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl Lauter­bach (SPD) durch Umver­tei­lung lösen will: Die Fallpau­scha­len – bisher ausschlag­ge­bend für die Vergü­tung – sollen in den Hinter­grund treten.

Statt dessen sollen Klini­ken je nach Leistungs­an­ge­bot für das Vorhal­ten von Perso­nal und Ausstat­tung bezahlt werden. In eine andere Richtung geht ein radika­ler Vorschlag des Bonner Virolo­gen Hendrik Streeck, der fordert, nur der Behand­lungs­er­folg solle von den Kassen bezahlt werden.

Fallpau­schale: „Gesund­heits­sys­tem belohnt Diagno­sen“

In einem Gastbei­trag für die Frank­fur­ter Allge­meine Zeitung (Paywall) erläu­tert Streeck seinen Ansatz: „Im Gesund­heits­sys­tem werden Diagno­sen und medizi­ni­sche Leistun­gen belohnt, jedoch nicht erfolg­rei­che Behand­lun­gen oder die Verbes­se­rung des Patien­ten­wohls.“ Deshalb sollten seiner Meinung nach nicht einzelne Schritte des Behand­lungs­pro­zes­ses vergü­tet werden, sondern das Ergeb­nis.

„Mit Verträ­gen zwischen Hausärz­ten, medizi­ni­schen Versor­gungs­zen­tren und Kranken­kas­sen kann ein kopfpau­scha­les Zahlungs­sys­tem etabliert werden, das die gesamte Versor­gung abdeckt“, so Streeck. „Das verbes­sert Effizi­enz, Quali­tät und Patien­ten­zu­frie­den­heit – weil alle Betei­lig­ten ein Inter­esse daran haben, dass der Patient schnell gesund wird.“

Das aktuelle System der Fallpau­scha­len, dass darauf basiert, dass Behand­lun­gen und Eingriffe unabhän­gig vom Ergeb­nis bezahlt werden, schafft seiner Meinung nach die falschen Anreize: „Wieder­holte aufwen­dige Unter­su­chun­gen in der langen Kette von Ärzten (Hausarzt, Facharzt, Klinik) kosten Zeit, Geld und Ressour­cen, ohne dem Behand­lungs­ziel zu dienen“, erläu­tert Streeck.

Zudem sei eine Verbes­se­rung der Zusam­men­ar­beit notwen­dig – dafür brauche es weit mehr als eine funktio­nie­rende digitale Patien­ten­akte (ePA). „Die verschie­de­nen Player im Gesund­heits­sys­tem müssen verzahnt arbei­ten – neben dem Zugriff auf gemein­same Daten können dabei auch gemein­same Erfolgs- oder Behand­lungs­prä­mien helfen, die ausge­zahlt werden, wenn ein Patient nach bestimm­ten Krite­rien effek­tiv behan­delt wurde.“

Valide Kritik­punkte

Damit spricht Streeck valide Kritik­punkte an: Natür­lich ist das deutsche Gesund­heits­sys­tem nicht auf Präven­tion, sondern auf Repara­tur ausge­legt – ein Ansatz, der zu falschen Priori­tä­ten führt, indem er die Behand­lung selbst in den Mittel­punkt stellt, unabhän­gig vom Erfolg.

In Deutsch­land werden im europäi­schen Vergleich viele Opera­tio­nen durch­ge­führt und sie zeigen nicht immer das gewünschte Ergeb­nis.

Beson­ders beim Thema Rücken­schmer­zen, der deutschen Volks­krank­heit Nummer Eins, ist der Behand­lungs­er­folg zweifel­haft: Etwa 15 Prozent aller Patien­ten, die sich einer Wirbel­säu­len­ope­ra­tion unter­zie­hen, leiden danach am sogenann­ten Failed Back Surgery Syndrome (auf Deutsch etwa „erfolg­lose Rücken­ope­ra­tion“), das heißt, nach der Opera­tion bestehen Schmer­zen fort, oder es treten neue Probleme auf.

Eine Finan­zie­rung, die Eingriffe an der Wirbel­säule weniger lohnens­wert macht, könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Bei der Koope­ra­tion von Hausärz­ten, Fachärz­ten und Klini­ken ist ebenfalls noch Luft nach oben. Ganz abgese­hen vom Aufwand durch wieder­holte Unter­su­chun­gen sind auch wider­sprüch­li­che Verschrei­bun­gen ein Problem: So werden zum Beispiel Menschen mit chroni­schen Krank­hei­ten in einer Arztpra­xis Medika­mente verschrie­ben, die in Kombi­na­tion mit der von einer anderen Praxis verord­ne­ten Dauer­me­di­ka­tion unerwünschte Wechsel­wir­kun­gen haben.

Eine bessere Zusam­men­ar­beit könnte diese Probleme lösen.

Kommen­tar: Auch die Kopfpau­schale ist keine Lösung

Aber Streecks Vorschläge – so radikal sie auch klingen – können grund­sätz­li­che Probleme des Gesund­heits­sys­tems nicht lösen. Denn die Ursachen der hohen Kosten sind vielfäl­tig.

Der erste Faktor, der hier ins Gewicht fällt: Das, was Streeck eine „Kette von Ärzten (Hausarzt, Facharzt, Klinik)“ nennt, ist de facto ein paral­le­les Angebot. Patien­ten haben in Deutsch­land ein Recht auf freie Arztwahl, was bedeu­tet, dass sie ohne vorhe­rige Konsul­ta­tion mit ihrer Hausarzt­pra­xis einen Facharzt aufsu­chen dürfen. Auch ein Klinik­be­such ist ohne Überwei­sung möglich, genauso wie das Einho­len einer Zweit­mei­nung. Mit dieser Wahlfrei­heit sind auch höhere Kosten für das Gesund­heits­sys­tem verbun­den.

Außer­dem gibt es in Deutsch­land vergleichs­weise viele Kranken­haus­bet­ten pro Einwoh­ner, wie eine Erhebung der OECD aus den Jahren 2019 bis 2021 zeigt: Deutsch­land landet mit knapp acht Betten pro Kopf auf dem dritten Platz hinter Korea und Japan und ist damit besser aufge­stellt als andere europäi­sche Länder.

Zehn Arztbe­su­che pro Jahr

Darüber hinaus gehen Menschen in Deutsch­land auch häufi­ger zum Arzt: Mit knapp zehn Arztbe­su­chen pro Jahr (Stand 2020) liegt Deutsch­land über dem OECD-Durch­schnitt von 6,6 Besuchen. Die Unter­schiede zu anderen europäi­schen Ländern sind aller­dings oft dadurch erklär­bar, dass es vor Ort andere Lösun­gen für die Grund­ver­sor­gung gibt, zum Beispiel Video­te­le­fo­nate in Schwe­den oder die Regis­tered Nurses in Großbri­tan­nien – von solchen Angebo­ten ist Deutsch­land weit entfernt.

Abgese­hen davon, dass mit der Kranken­haus­re­form die von Streeck kriti­sier­ten Fallpau­scha­len nicht mehr so stark ins Gewicht fallen: Schon die Einfüh­rung der Fallpau­scha­len war als Problem­lö­sung gedacht, die dafür sorgen sollte, dass Menschen weniger lange im Kranken­haus bleiben.

Letzt­end­lich ist auch Streecks Vorschlag eine Symptom­be­kämp­fung, die das vorhan­dene Geld anders vertei­len soll. Es ist schwer vorstell­bar, wie eine Umstel­lung auf eine Kopfpau­schale die Kosten im Gesund­heits­sys­tem effizi­ent senken soll, ohne dass wir uns gleich­zei­tig konse­quent umori­en­tie­ren: Weg von der Behand­lung, hin zur Präven­tion.