Die Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems ist ein Problem, das Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) durch Umverteilung lösen will: Die Fallpauschalen – bisher ausschlaggebend für die Vergütung – sollen in den Hintergrund treten.
Statt dessen sollen Kliniken je nach Leistungsangebot für das Vorhalten von Personal und Ausstattung bezahlt werden. In eine andere Richtung geht ein radikaler Vorschlag des Bonner Virologen Hendrik Streeck, der fordert, nur der Behandlungserfolg solle von den Kassen bezahlt werden.
Fallpauschale: „Gesundheitssystem belohnt Diagnosen“
In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Paywall) erläutert Streeck seinen Ansatz: „Im Gesundheitssystem werden Diagnosen und medizinische Leistungen belohnt, jedoch nicht erfolgreiche Behandlungen oder die Verbesserung des Patientenwohls.“ Deshalb sollten seiner Meinung nach nicht einzelne Schritte des Behandlungsprozesses vergütet werden, sondern das Ergebnis.
„Mit Verträgen zwischen Hausärzten, medizinischen Versorgungszentren und Krankenkassen kann ein kopfpauschales Zahlungssystem etabliert werden, das die gesamte Versorgung abdeckt“, so Streeck. „Das verbessert Effizienz, Qualität und Patientenzufriedenheit – weil alle Beteiligten ein Interesse daran haben, dass der Patient schnell gesund wird.“
Das aktuelle System der Fallpauschalen, dass darauf basiert, dass Behandlungen und Eingriffe unabhängig vom Ergebnis bezahlt werden, schafft seiner Meinung nach die falschen Anreize: „Wiederholte aufwendige Untersuchungen in der langen Kette von Ärzten (Hausarzt, Facharzt, Klinik) kosten Zeit, Geld und Ressourcen, ohne dem Behandlungsziel zu dienen“, erläutert Streeck.
Zudem sei eine Verbesserung der Zusammenarbeit notwendig – dafür brauche es weit mehr als eine funktionierende digitale Patientenakte (ePA). „Die verschiedenen Player im Gesundheitssystem müssen verzahnt arbeiten – neben dem Zugriff auf gemeinsame Daten können dabei auch gemeinsame Erfolgs- oder Behandlungsprämien helfen, die ausgezahlt werden, wenn ein Patient nach bestimmten Kriterien effektiv behandelt wurde.“
Valide Kritikpunkte
Damit spricht Streeck valide Kritikpunkte an: Natürlich ist das deutsche Gesundheitssystem nicht auf Prävention, sondern auf Reparatur ausgelegt – ein Ansatz, der zu falschen Prioritäten führt, indem er die Behandlung selbst in den Mittelpunkt stellt, unabhängig vom Erfolg.
In Deutschland werden im europäischen Vergleich viele Operationen durchgeführt und sie zeigen nicht immer das gewünschte Ergebnis.
Besonders beim Thema Rückenschmerzen, der deutschen Volkskrankheit Nummer Eins, ist der Behandlungserfolg zweifelhaft: Etwa 15 Prozent aller Patienten, die sich einer Wirbelsäulenoperation unterziehen, leiden danach am sogenannten Failed Back Surgery Syndrome (auf Deutsch etwa „erfolglose Rückenoperation“), das heißt, nach der Operation bestehen Schmerzen fort, oder es treten neue Probleme auf.
Eine Finanzierung, die Eingriffe an der Wirbelsäule weniger lohnenswert macht, könnte ein Schritt in die richtige Richtung sein.
Bei der Kooperation von Hausärzten, Fachärzten und Kliniken ist ebenfalls noch Luft nach oben. Ganz abgesehen vom Aufwand durch wiederholte Untersuchungen sind auch widersprüchliche Verschreibungen ein Problem: So werden zum Beispiel Menschen mit chronischen Krankheiten in einer Arztpraxis Medikamente verschrieben, die in Kombination mit der von einer anderen Praxis verordneten Dauermedikation unerwünschte Wechselwirkungen haben.
Eine bessere Zusammenarbeit könnte diese Probleme lösen.
Kommentar: Auch die Kopfpauschale ist keine Lösung
Aber Streecks Vorschläge – so radikal sie auch klingen – können grundsätzliche Probleme des Gesundheitssystems nicht lösen. Denn die Ursachen der hohen Kosten sind vielfältig.
Der erste Faktor, der hier ins Gewicht fällt: Das, was Streeck eine „Kette von Ärzten (Hausarzt, Facharzt, Klinik)“ nennt, ist de facto ein paralleles Angebot. Patienten haben in Deutschland ein Recht auf freie Arztwahl, was bedeutet, dass sie ohne vorherige Konsultation mit ihrer Hausarztpraxis einen Facharzt aufsuchen dürfen. Auch ein Klinikbesuch ist ohne Überweisung möglich, genauso wie das Einholen einer Zweitmeinung. Mit dieser Wahlfreiheit sind auch höhere Kosten für das Gesundheitssystem verbunden.
Außerdem gibt es in Deutschland vergleichsweise viele Krankenhausbetten pro Einwohner, wie eine Erhebung der OECD aus den Jahren 2019 bis 2021 zeigt: Deutschland landet mit knapp acht Betten pro Kopf auf dem dritten Platz hinter Korea und Japan und ist damit besser aufgestellt als andere europäische Länder.
Zehn Arztbesuche pro Jahr
Darüber hinaus gehen Menschen in Deutschland auch häufiger zum Arzt: Mit knapp zehn Arztbesuchen pro Jahr (Stand 2020) liegt Deutschland über dem OECD-Durchschnitt von 6,6 Besuchen. Die Unterschiede zu anderen europäischen Ländern sind allerdings oft dadurch erklärbar, dass es vor Ort andere Lösungen für die Grundversorgung gibt, zum Beispiel Videotelefonate in Schweden oder die Registered Nurses in Großbritannien – von solchen Angeboten ist Deutschland weit entfernt.
Abgesehen davon, dass mit der Krankenhausreform die von Streeck kritisierten Fallpauschalen nicht mehr so stark ins Gewicht fallen: Schon die Einführung der Fallpauschalen war als Problemlösung gedacht, die dafür sorgen sollte, dass Menschen weniger lange im Krankenhaus bleiben.
Letztendlich ist auch Streecks Vorschlag eine Symptombekämpfung, die das vorhandene Geld anders verteilen soll. Es ist schwer vorstellbar, wie eine Umstellung auf eine Kopfpauschale die Kosten im Gesundheitssystem effizient senken soll, ohne dass wir uns gleichzeitig konsequent umorientieren: Weg von der Behandlung, hin zur Prävention.