
Leitsatz
Indirekte Sterbehilfe? Die Verabreichung von Morphin zur Bekämpfung von Vernichtungsschmerzen bei einem Sterbenden durch eine Pflegekraft kann auch dann durch erklärte oder mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt sein, wenn sie nicht der ärztlichen Verordnung entspricht. Ein zugleich vorliegender Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz (§ 29 Absatz 1 Nummer 6 Buchstabe b BtMG) steht dem nicht zwingend entgegen.
Ein Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 30.1.2019 (Az.: 2 StR 325/17):
Sachverhalt
Die Angeklagte war als Pflegekraft in der Seniorenresidenz im Nachtdienst tätig. Dort wurde im April 2016 der 84-jährige Herr R. aufgenommen, der an Darmkrebs im Endstadium litt. Kurz zuvor, am 19.3.2016, hatte dieser eine Patientenverfügung errichtet. In dieser bestimmte er, dass im „unabwendbaren unmittelbaren Sterbeprozess“ aufgrund einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr ergriffen werden sollten. Für diesen Fall hatte er den Wunsch geäußert, dass ihm „bei Schmerzen, Erstickungsängsten und Atemnot, Übelkeit, Angst sowie anderen qualvollen Zuständen und belastenden Symptomen Medikamente verabreicht werden“. Mit dem Ziel, ihn „von Schmerzen und größeren Belastungen (zu) befreien, selbst wenn dadurch sein Tod voraussichtlich früher eintreten“ werde.
Nach der Aufnahme in die Seniorenresidenz verschlechterte sich der Gesundheitszustand zunehmend. Er litt unter starken Schmerzen. Dennoch lehnte er eine palliativmedizinische Behandlung mit Medikamenten und Schmerzmitteln sowie eine Nahrungsaufnahme häufig ab und wollte in Ruhe gelassen werden. Die Pflegekräfte hatten den Eindruck, dass er stark litt. Für sie war klar, dass er bald schmerzhaft sterben würde. Sie hatten großes Mitleid mit ihm. Das galt auch für die Angeklagte, die sich besonders um den Patienten kümmerte. Sie bat ihn regelmäßig darum, die Verabreichung von Schmerzmitteln zu dulden. Nach ihrer Ansicht tat die behandelnde Ärztin zu wenig, um ihn von Schmerzen zu erlösen.
Palliativmedizinische Behandlung
Am 13.5.2016 verschlechterte sich der Gesundheitszustand weiter. Die in der Mittagszeit herbeigerufene Ärztin stellte einen veränderten Atemrhythmus sowie eine Marmorierung der Haut fest. Dies wertete sie als Anzeichen des bevorstehenden Todes. Sie ging davon aus, dass der Patient spätestens in der Nacht zum 14.5.2016 sterben werde. In Absprache mit den Angehörigen setzte sie alle Medikamente ab und ordnete an, dass nur noch alle vier Stunden 5 mg Morphin injiziert werden sollten. Dabei handelt es sich um ein in der Palliativmedizin gebräuchliches Mittel. Krebspatienten können auch Dosen zwischen 10 und 30 mg Morphin in einem zeitlichen Abstand von vier bis sechs Stunden „regelkonform“ verabreicht werden.
Die erste Dosis Morphin spritzte die Ärztin dem Patienten gegen 12:00 Uhr selbst. Dann ließ sie zehn Ampullen zu je 10 mg Morphin in der Seniorenresidenz zurück, die von den Pflegekräften nach ihrer Verordnung verabreicht werden sollten. Für Rückfragen gab sie ihre Telefonnummer an. Sie notierte in der Behandlungsdokumentation unter anderem, der Patient sei „präfinal“. Nach Absprache mit seinen Kindern solle keine Therapie mehr“ durchgeführt, sondern nur noch Morphin verabreicht werden. Die diensthabende Pflegerin dokumentierte die Besprechung mit der Ärztin. Um 16:00 Uhr und um 20:00 Uhr injizierte sie Herrn R. jeweils 5 mg Morphin. Dann trat die Angeklagte ihren Nachtdienst an und wurde von der abzulösenden Kollegin über die Situation unterrichtet. Sie wusste auch um die Wirkung von Morphin.
Herr R. war aufgrund der Morphininjektion zunächst ruhig. Gegen 22:00 Uhr stellte die Angeklagte fest, dass er unruhiger wurde. Er begann erneut zu stöhnen und hatte Schmerzen. Gegen 23:00 Uhr rief die Ärztin an; die Angeklagte berichtete ihr, dass sich sein Zustand nicht verändert habe.
Eigenmächtige indirekte Sterbehilfe?
Um Mitternacht sollte die Angeklagte die nächste Spritze verabreichen. Sie zog zunächst 5 mg Morphin mit der Spritze auf. Dann hielt sie inne, dachte an die Schmerzen des Patienten und fand, dass die ärztlich verordnete Menge Morphin nicht ausreichend sei. Sie entschloss sich, dem Patienten die doppelte Menge zu spritzen. Obwohl sie wusste, dass die Verabreichung von 10 mg Morphin von der ärztlichen Verordnung nicht gedeckt war, zog sie mit der gleichen Spritze auch die zweite Hälfte des Inhalts der Morphinampulle auf. Dann verabreichte sie dem Patienten dieses Morphin.
Sie wusste, dass dies zu einer Änderung des Schmerzempfindens, einer Verflachung der Atmung und zu Atemaussetzern führen würde. Der Angeklagten war zudem bekannt, dass dies weder von einer Einwilligung des Patienten noch von der Patientenverfügung, deren genauen Inhalt sie nicht kannte, gedeckt sein konnte, weil die von ihr eigenmächtig erhöhte Dosierung der ärztlich angeordneten Heilbehandlungsmaßnahme zuwiderlief.
Wie von der Angeklagten erwartet, verflachte aufgrund des verabreichten Morphins der Atemrhythmus des Patienten gegen 0:30 Uhr. Hinzu kamen Atemaussetzer, die teilweise bis zu zwei Minuten dauerten. Aufgrund eines solchen Atemaussetzers ging die Angeklagte davon aus, dass er bereits gestorben sei. Sie rief die Zeugin Frau P. herbei. Diese stellte aber fest, dass Herr R. weiter flach atmete. Um 0:47 Uhr verstarb dieser an Herz-Lungen-Versagen. Das Landgericht (LG) Darmstadt konnte nicht feststellen, dass der Tod des Patienten durch die Morphininjektion verursacht wurde. In der Handlung der Angeklagten ist eine Körperverletzung im Sinne von § 223 Absatz 1 StGB gesehen worden; die festgesetzte Freiheitsstrafe von einem Jahr wurde zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten.
Entscheidung
Die Revision ist begründet. Die bisher getroffenen Feststellungen und Wertungen tragen den Schuldspruch wegen rechtswidriger Körperverletzung nicht. Das Urteil des LG Darmstadt wird aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist als Körperverletzung zu bewerten, auch wenn er in heilender Absicht erfolgt. Er ist nur bei einer wirksam erklärten oder mutmaßlichen Einwilligung des Patienten gerechtfertigt. Das Landgericht hat diesen Tatbestand allein durch Verabreichung des Betäubungsmittels als verwirklicht angesehen. Das ist rechtsfehlerhaft. In einer solchen vorsätzlichen Verabreichung liegt nicht notwendig eine Gesundheitsbeschädigung im Sinne des § 223 Absatz 1 StGB.
Indes können Betäubungsmittel, je nach den Umständen des Einzelfalls, Wirkungen hervorrufen, die sich gleichwohl als Gesundheitsschädigung im Sinne von § 223 StGB darstellen. Dies gilt etwa dann, wenn sie zu Rauschzuständen mit weiteren körperlichen Nebenwirkungen, zur Suchtbildung oder zu Entzugserscheinungen führen. Allerdings fehlt es hier für die tatbestandliche Annahme, die Angeklagte habe durch die Morphininjektion das Tatbestandsmerkmal einer Gesundheitsbeschädigung erfüllt, an einer tragfähigen Beweisgrundlage. Dies gilt insbesondere für den verursachten und vom eigentlichen Sterbeprozess zu unterscheidenden pathologischen Zustand, zumal die Verursachung des Todes des Patienten durch die Morphingabe nicht feststellt werden konnte.
Kein Verstoß gegen die guten Sitten
Durchgreifend rechtsfehlerhaft ist zudem die Verneinung einer Rechtfertigung der Handlung der Angeklagten.
Gemäß § 228 StGB ist auch die mit einer Einwilligung des Verletzten vorgenommene Körperverletzung rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. Das Gesetz knüpft die Rechtsfolgen einer ausdrücklich oder konkludent erklärten Einwilligung begrifflich an ethisch-moralische Kategorien. Diese finden ihre juristische Grundlage im Zivilrecht. Ob für eine mutmaßliche Einwilligung als gewohnheitsrechtlich anerkannter, aber selbstständiger Rechtfertigungsgrund im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den guten Sitten bei Beachtung des Bestimmtheitsgebots von Artikel 103 Absatz 2 GG dasselbe gelten kann und gegebenenfalls – erst recht – gelten muss, kann offenbleiben.
Jedenfalls ist ein Verstoß gegen die guten Sitten vom LG nicht nach allgemeinen Maßstäben festgestellt worden. Entgegen seinem Ansatz führt die Tatsache, dass die Handlung der Angeklagten auch gegen das Handlungsverbot der Verabreichung von Betäubungsmitteln ohne ärztliche Approbation oder Anordnung gemäß § 29 Absatz 1 Nummer 6 Buchstabe b BtMG verstoßen hat, nicht zwingend zur Sittenwidrigkeit der Körperverletzung im Sinne von § 228 StGB.
Vielmehr ist allgemein zu prüfen, ob die Körperverletzung wegen des Gewichts des Rechtsgutsangriffs durch die Verursachung der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung als solche sittenwidrig erscheint. Bei medizinischen Maßnahmen steht dabei die Frage der Verfolgung eines anerkennenswerten Zwecks im Vordergrund; Maßnahmen, die medizinisch indiziert sind, verstoßen grundsätzlich nicht gegen die guten Sitten. Lässt sich daher die Sittenwidrigkeit der Tat nicht sicher feststellen, scheidet die Annahme einer rechtswidrigen Körperverletzung aus, sofern die Handlung mit der erklärten oder mutmaßlichen Einwilligung des Patienten vorgenommen wird. Das hat das LG nicht abschließend geprüft.
Neue Wertvorstellungen zum Konsum illegaler Drogen
Parallelwertend ist der Konsum illegaler Drogen heute nicht mehr nach allgemein anerkannten Wertvorstellungen als unvereinbar mit den guten Sitten anzusehen. Gleiches gilt dann auch für eine Körperverletzung, verursacht durch einverständliches Verabreichen eines Betäubungsmittels. Deshalb ist es rechtlich möglich, dass eine durch Verabreichen von Betäubungsmitteln begangene Körperverletzung durch Einwilligung gerechtfertigt ist.
Unter welchen Umständen dies der Fall ist, entzieht sich einer generellen Bewertung. Selbst das Verabreichen „harter“ Drogen reicht für sich genommen nicht zur Annahme von Sittenwidrigkeit aus. Die damit verbundenen Gefahren lassen sich im Einzelfall durch einen billigenswerten Zweck der Handlung, wie der Bekämpfung von Vernichtungsschmerzen eines Sterbenden, kompensieren. Ein gleichzeitiger Verstoß gegen § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 6 Buchstabe b BtMG führt nicht zwingend zur Sittenwidrigkeit der Körperverletzung.
Hier hängt die Prüfung der Sittenwidrigkeit von Körperverletzungen durch medizinische Eingriffe vom Zweck der Handlung und nicht vom Gewicht des Rechtsgutseingriffs ab. § 228 StGB beschränkt bei Körperverletzungsdelikten die Freiheit des Einzelnen, über sein Individualrechtsgut der körperlichen Unversehrtheit zu disponieren. Hiervon zu trennen ist der Schutz anderer Rechtsgüter, über die der Einzelne nicht verfügen kann. Hält es der Gesetzgeber für erforderlich, eine Handlung, die auch die Gefahr einer Körperverletzung in sich birgt, zum Schutz von Universalrechtsgütern, wie der Volksgesundheit, gesondert zu regeln (§ 13 BtMG) und diesbezügliche Regelverletzungen unter Strafe zu stellen (§ 29 Absatz 1 Satz 1 Numer 6 BtMG), so ist die Einwilligung eines Betroffenen für das Betäubungsmittelrecht ohne Belang. Betäubungsmitteldelikte sind wegen der fehlenden Dispositionsbefugnis des Einzelnen über das Rechtsgut der Volksgesundheit einer rechtfertigenden Einwilligung nicht zugänglich.
Betäubungsmittelgesetz nicht allein entscheidend
Umgekehrt lässt sich aus dem Schutz von Universalrechtsgütern durch das Betäubungsmittelgesetz, auch wenn dadurch mittelbar der Schutz von Individualrechtsgütern bewirkt wird, nichts für die Beantwortung der Frage herleiten, ob eine Einwilligung des Geschädigten in die Verletzung seiner körperlichen Unversehrtheit wegen der Sittenwidrigkeit der Tat unbeachtlich ist.
Diese Überlegungen sind zur Handhabung von § 228 StGB für den Bereich der „indirekten Sterbehilfe“ maßgebend. Hier hat die Freiheit zur Disposition über das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit besondere Bedeutung. Das LG hat sich den Blick auf die Notwendigkeit einer näheren Prüfung der mutmaßlichen Einwilligung in diesem Sinne verstellt, indem es aus der Abweichung der Angeklagten von der ärztlichen Verordnung eine generelle Unmöglichkeit der Rechtfertigung der Körperverletzung durch mutmaßliche Einwilligung abgeleitet hat. Nach den Urteilsfeststellungen wurde eine Einwilligung in die konkrete Handlung nicht erklärt. Ob von einer mutmaßlichen Einwilligung auszugehen ist, wäre durch Gesamtschau aller Umstände zu prüfen gewesen. Diese hat das LG Darmstadt – von seinem Standpunkt aus folgerichtig – aber unterlassen.
Die Grundsätze der Rechtfertigung von Maßnahmen zur Ermöglichung eines schmerzfreien Todes sind aber nicht ausnahmslos auf Handlungen durch einen Arzt oder aufgrund ärztlicher Anordnung beschränkt. Im Ausnahmefall kann auch ein Nichtarzt medizinische Maßnahmen zur Leidensminderung durchführen, wenn sie der Sache nach den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen und sich im Rahmen einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten bewegen. Dies gilt auch deshalb, weil das Unterlassen einer vom Patienten erwünschten Schmerzbekämpfung durch einen Garanten eine Körperverletzung sein kann.
Palliativmedizinische Behandlung: Morphingabe im Interesse des Patienten?
Beim Sterben eines unheilbar Kranken, dem unmittelbar vor dem Tod nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden kann, besteht eine besondere Ausnahmesituation. Tritt deshalb der Gesichtspunkt des Handelns aufgrund einer ärztlichen Verordnung in den Hintergrund, schließt die Eigenschaft des Handelnden als Nichtarzt oder sein Handeln unter Abweichung von einer ärztlichen Anordnung die Rechtfertigung einer Körperverletzung durch mutmaßliche Einwilligung nicht zwingend aus. Die Strafkammer hätte daher eine Gesamtwürdigung aller Umstände vornehmen müssen, die für den mutmaßlichen Patientenwillen von Bedeutung sein können. Dabei wäre zu berücksichtigen gewesen, dass im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten der Inhalt seines Willens aus seinen persönlichen Umständen, individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln ist.
Hat der Patient nach seiner bindenden Patientenverfügung in der Sterbephase eine effektive Schmerzbekämpfung sogar um den Preis einer Lebensverkürzung gewünscht, so entspricht eine später durchgeführte Schmerzmedikation, die medizinisch vertretbar ist, prinzipiell seinem Interesse. Weitere Indizien können sich aus dem Verhalten des Patienten in dem Pflegeheim ergeben. Welche Äußerungen Herr R. dort gemacht hat, insbesondere, als die Angeklagte ihn gebeten hat, „die Verabreichung von Medikamenten und Schmerzmitteln oder kleinere Maßnahmen der Körperpflege zu dulden“, die er zunächst abgelehnt hatte, teilt das angefochtene Urteil aber nicht mit.
Zwar gehört die Beachtung ärztlicher Anordnungen im Regelfall zudem, was als gemeinhin vernünftig anzusehen ist. Jedoch kann beim eigentlichen Sterbevorgang unmittelbar vor dem Tod auch die Schmerzbekämpfung mit allen verfügbaren und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Mitteln als vernünftig und deshalb dem mutmaßlichen Patientenwillen entsprechend anzusehen sein. Das gilt besonders, wenn – wie hier festgestellt – die ärztlich verordnete Schmerzmedikation allenfalls an der Untergrenze des medizinisch Angemessenen gelegen hat. Zudem ist bei der Gesamtwürdigung in den Blick zu nehmen, wie nahe der Patient dem Tode war.
Weitere Infos zum Thema: Das zugrunde liegende Urteil zu indirekter Sterbehilfe: BGH vom 30.1.2019 – 2 StR 325/17