Ein Bewohner eines Seniorenheims entflieht nachts unbemerkt. Auf die Notrufsignale erfolgt keine Reaktion. Ist eine Kündigung des Nachtdienstmitarbeiters gerechtfertig?
Ein Bewoh­ner eines Senio­ren­heims entflieht nachts unbemerkt. Auf die Notruf­si­gnale erfolgt keine Reaktion. Bild: Photo 151454155 © Blurf – Dreamstime.com

Ein Bewoh­ner eines Senio­ren­heims begibt sich in der Nacht gegen 0:45 raus aus dem Heim. Da er augen­schein­lich hilflos wirkt, werden Jugend­li­che auf ihn aufmerk­sam, die darauf­hin die Polizei alarmie­ren. Die Beamten wollen ihn zurück ins Senio­ren­heim bringen, dies ist jedoch mit einigen Hürden verbun­den, da weder auf die Klingel am Haupt­ein­gang noch auf Anrufe reagiert wird. Sie steigen deshalb durch ein geöff­ne­tes Fenster und machen durch Rufe auf sich aufmerk­sam.

Das Senio­ren­heim besteht aus fünf Wohnbe­rei­chen mit je 21 Bewoh­nern bezie­hungs­weise 8 Bewoh­nern im letzten Wohnbe­reich. Ab 19:30 wird die Haupt­tür geschlos­sen, ledig­lich durch die Seiten­tür kann das Senio­ren­heim noch verlas­sen werden. Hierbei wird dann ein Signal an einen Pager ausge­löst. Die Rufe der Beamten bleiben ebenso erfolg­los wie ein gegen 2:00 Uhr getätig­ter Notruf eines hinzu­ge­kom­me­nen Heimbe­woh­ners. Die Polizei­be­am­ten rufen die Pflege­dienst­lei­te­rin an, ihre Nummer ist auf einem Zettel mit Notfall­num­mern aufge­führt gewesen.

Als diese gegen 2:50 eintrifft, bringt sie zunächst den Bewoh­ner mithilfe eines Rollstuhls zurück in die Einrich­tung. Erst dann kommt auch der Nacht­dienst­mit­ar­bei­ter hinzu und fragt, was die Anwesen­den im Senio­ren­heim machen würden. Die Pflege­dienst­lei­te­rin übergibt ihm den Bewoh­ner und weist auf Blutspu­ren an seinen Füßen sowie auf eine Unter­küh­lung hin. Der Bewoh­ner wird von ihm auf sein Zimmer gebracht und gelagert, eine ärztli­che Unter­su­chung wird nicht veran­lasst.

Im Anschluss an den Vorfall bittet die Pflege­dienst­lei­te­rin den Mitar­bei­ter, der auch Mitglied und Vorsit­zen­der im Betriebs­rat ist, sowie seine Kolle­gin, die ebenfalls im Nacht­dienst in dem Senio­ren­heim tätig ist, um eine Stellung­nahme. Dem Betriebs­rats­vor­sit­zen­den zufolge muss die Nacht­schelle der Eingangs­tür sowie die Rufan­lage nicht ordnungs­ge­mäß funktio­niert haben. Doch für die Pflege­dienst­lei­te­rin scheint dies nicht auszu­rei­chen und beantragt deshalb die Zustim­mung des Betriebs­ra­tes zur außer­or­dent­li­chen frist­lo­sen Kündi­gung. Der Betriebs­rat jedoch verwei­gert die Kündi­gung und auch das Arbeits­ge­richt weist den Antrag der Pflege­dienst­lei­te­rin auf ersatz­weise Zustim­mung zurück. Anschlie­ßend reicht sie Beschwerde beim Landes­ar­beits­ge­richt Hamm ein (Az.: 7 TaBV 3/16).

Außer­or­dent­li­che Kündi­gung nur mit wichti­gem Grund

Prinzi­pi­ell ist es möglich, dass die nicht erteilte Zustim­mung des Betriebs­ra­tes zur außer­or­dent­li­chen Kündi­gung durch eine Zustim­mung des Arbeits­ge­richts ersetzt wird – sofern sie unter Berück­sich­ti­gung aller Umstände gerecht­fer­tigt ist. § 626 Absatz 1 BGB schreibt vor, dass dafür ein wichti­ger Grund vorlie­gen muss. Genauer gesagt heißt das, dass Tatsa­chen vorlie­gen müssen, die das Arbeits­ver­hält­nis für den Kündi­gen­den unzumut­bar machen, unter Berück­sich­ti­gung aller Umstände des Einzel­falls und unter jewei­li­ger Inter­es­sen­ab­wä­gung. Zudem muss die außer­or­dent­li­che Kündi­gung immer die letzte mögli­che Maßnahme (ultima ratio) sein, wenn keine anderen milde­ren Mittel mehr in Betracht kommen.

Laut Entschei­dung des Landes­ar­beits­ge­richts liegt in diesem Fall kein wichti­ger Grund für eine außer­or­dent­li­che Kündi­gung vor:

  • Dass der Mitar­bei­ter nicht auf die Rufe und die Klingel reagiert hat, war nachzu­voll­zie­hen.
  • Wenn eine Reaktion auf die Nacht­glo­cke – unabhän­gig von einem Defekt – sicher­ge­stellt werden will, hätte es einer klaren techni­schen Lösung bedurft oder einer entspre­chen­den Anwei­sung, die hier nicht gegeben war.
  • Das Nicht­hö­ren der Rufe konnte nicht zwingend als arbeits­ver­trag­li­che Pflicht­ver­let­zung gewer­tet werden.
  • Bezüg­lich der getätig­ten Notruf­si­gnale über die Pager liegt die Darle­gungs­last bei der Arbeit­ge­be­rin: sie muss darle­gen, dass sämtli­che Pager in besag­ter Nacht voll funkti­ons­fä­hig gewesen sind. Dies war ihr nicht gelun­gen.
  • Auch der Vorwurf, der Mitar­bei­ter habe wegen eines unter­las­se­nen Kontroll­gangs ein „sperr­an­gel­weit“ aufste­hen­des Fenster nicht gesehen, wurde zurück­ge­wie­sen. Es hat sich in der Anhörung heraus­ge­stellt, dass in den arbeits­ver­trag­li­chen Aufga­ben des Nacht­diens­tes keine geson­der­ten Kontroll­gänge vorge­se­hen waren. Vielmehr sollten sie im Rahmen der anderen pflege­ri­schen Versor­gungs­durch­gänge gemacht werden (Medika­men­ten­gabe, Lagerung, Nahrungs­zu­be­rei­tung). Ein unter­las­se­ner Kontroll­gang war also ausge­schlos­sen.
  • Dass keine nächt­li­che ärztli­che Unter­su­chung des Bewoh­ners veran­lasst wurde, stellte ebenso wenig eine arbeits­ver­trag­li­che Pflicht­ver­let­zung dar. Schließ­lich sah auch die darauf­fol­gende Frühschicht keine Notwen­dig­keit für eine ärztli­che Unter­su­chung.

Insge­samt wurde die Beschwerde damit als unbegrün­det abgewie­sen, da hier keine vertrag­li­chen Pflicht­ver­let­zun­gen vorla­gen. Vielmehr hätte es zunächst einer Abmah­nung des Mitar­bei­ters bedurft.

Quelle: RDG 2017, 14(1), S. 20–34