Seit vielen Jahren sind die haftungsrechtlichen Verfahren wegen Sturzereignissen in der Rechtsprechung der Zivilgerichte mit überproportionaler Häufigkeit vertreten. Dies vor allen Dingen dann, wenn Hochbetagte oder kranke Menschen in der Obhut einer Einrichtung des Gesundheitswesens zu Fall gekommen sind. Immer steht dabei die zentrale Frage im Vordergrund, ob und wie der Sturz hätte vermieden werden können.
So geschehen auch in diesem Fall, in welchem das OLG Bamberg über den Sturz einer betreuten Seniorin in einer Tagespflegeeinrichtung, die einem Seniorenzentrum angeschlossen ist, zu entscheiden hatte.
Der Sturz in der Tagespflegeeinrichtung
In der von der Tochter, der im Laufe des Prozesses verstorbenen Seniorin, geführten Klage vertritt diese die Auffassung, dass ein folgenreicher Sturz ihrer Mutter hätte vermieden werden können.
Die Geschädigte unternahm gemeinsam mit einer weiteren Seniorin zur Mittagszeit des 21. Januar 2019 bei schlechten Witterungsverhältnissen einen Spaziergang, bei dem beide Damen von einer Praktikantin begleitet wurden. Bei dem Sturz zog sich die Geschädigte einen Oberschenkelhalsbruch zu. Es folgten eine operative Versorgung und ein stationärer Krankenhausaufenthalt bis zum 4. Februar 2019.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass der Spaziergang wegen der an diesem Tag herrschenden Glätte und des körperlichen Zustands der Geschädigten nicht hätte durchgeführt werden dürfen. Zudem sei die Praktikantin nicht ausreichend qualifiziert gewesen und hätte mit ihrer Mutter nur untergehakt laufen dürfen, was aber nicht geschehen sei. Der auf die am Unfallort bestehende Eisglätte zurückzuführende Sturz sei damit auf ein der Beklagten zuzurechnendes Pflege- bzw. Organisationsverschulden zurückzuführen.
Die Klägerin begehrt mindestens 25.000 Euro Schmerzensgeld, den Ersatz von Krankenhaus- und Pflegekosten in Höhe von 8.766,80 Euro, sowie die Zahlung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
Die erstinstanzliche Wertung
In der ersten Instanz hat das LG Bamberg die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass ein glättebedingtes Ausrutschen, bzw. ein glättebedingter Sturz der Geschädigten nicht nachgewiesen worden sei.
Ferner sei die Praktikantin auch nicht grundsätzlich ungeeignet gewesen, den Spaziergang durchzuführen; ein fehlerhaftes Verhalten bei der Begleitung der Geschädigten sei nicht belegt. Auch hätten weder das Wetter, noch die Konstitution der Geschädigten gegen einen Spaziergang gesprochen.
Spaziergang bei Glatteis stellt keine Sorgfaltswidrigkeit dar
Hiergegen hat die Tochter der Geschädigten Berufung eingelegt, die vom OLG Bamberg mittels Hinweisbeschluss kein Erfolg zugesprochen worden ist.
Ausdrücklich wurde dem Vorbringen, dass der Sturz glatteisbedingt geschehen sei, eine Absage erteilt. Prinzipiell wurde die Durchführung eines Spaziergangs trotz Glatteisgefahr nicht als schadensursächliche Sorgfaltswidrigkeit eingestuft. Hier seien auch andere Unfallursachen denkbar oder zumindest nicht auszuschließen sind (zum Beispiel: ein Stolpern der über die eigenen Beine).
Für den Erfolg der Klage würde es zudem an dem haftungsbegründenden Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen einem (unterstellt) pflichtwidrig trotz Glatteisgefahr durchgeführten Spaziergang und dem zum Schaden führenden Sturzgeschehen fehlen. Diese Hypothese gilt auch für den Vorwurf, dass die Praktikantin die Geschädigte zum Zeitpunkt des Sturzes nicht untergehakt habe. Die in Bezug genommene erstinstanzliche Beweisaufnahme habe dies hinreichend belegt.
Eine Absage erhielt die Klägerin auch mit der Inanspruchnahme der Beweiserleichterungsregelung des § 630h Absatz 1 BGB. Ein Sturz bei einem begleiteten Spaziergang im Rahmen der Betreuung in einer Tagespflegeeinrichtung stellt nach Auffassung des Senats kein „voll beherrschbares Behandlungsrisiko“ im Sinne dieser Vorschrift dar.
Kein voll beherrschbares Risiko
Zwar können zum vollbeherrschbaren Risiko neben den typischen Fallgruppen der Fehlerhaftigkeit von medizinischen Geräten und der Hygienemängel, grundsätzlich auch die Gefahr von Stürzen im Rahmen von pflegerischen Maßnahmen zu rechnen sein. Im vorliegenden Fall, in dem nicht eine pflegerische Maßnahme im engeren Sinne, sondern ein begleiteter Spaziergang im Raum steht, liegt ein voll beherrschbarer Gefahrenbereich jedoch nicht vor.
Voll beherrschbare Risiken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Klinik- oder Praxisbetrieb (hier: die Tagespflegeeinrichtung) gesetzt werden und durch dessen ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen. Sie sind abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen sind.
Ein Spaziergang, auch wenn dieser in Begleitung einer Pflegekraft unternommen wird, generiert keine spezifischen durch den Pflegebetrieb gesetzten Risiken, die durch eine ordnungsgemäße Gestaltung ausgeschlossen werden können und müssen. Soweit die Klägerin behauptet, die Praktikantin sei nicht hinreichend qualifiziert gewesen, ist nicht ersichtlich, weshalb im vorliegenden Fall eine nicht ausreichende Qualifikation für den Sturz kausal geworden sein soll.
Daher ist auch aus dem Gesichtspunkt des Einsatzes von „nicht hinreichend qualifizieren Personals“ keine Beweiserleichterung in Frage gekommen (vgl. § 630h Absatz 4 BGB).
Quelle: OLG Bamberg vom 21. Februar 2023 – 4 U 222/22 = RDG 2023, S. 151–154.