Sturz in der Tagespflegeeinrichtung
Das Gericht hatte über den Sturz einer betreu­ten Senio­rin in einer Tages­pfle­ge­ein­rich­tung zu entschei­den (Symbol­bild) Bild: Coco Parisienne/Pixabay.com

Seit vielen Jahren sind die haftungs­recht­li­chen Verfah­ren wegen Sturz­er­eig­nis­sen in der Recht­spre­chung der Zivil­ge­richte mit überpro­por­tio­na­ler Häufig­keit vertre­ten. Dies vor allen Dingen dann, wenn Hochbe­tagte oder kranke Menschen in der Obhut einer Einrich­tung des Gesund­heits­we­sens zu Fall gekom­men sind. Immer steht dabei die zentrale Frage im Vorder­grund, ob und wie der Sturz hätte vermie­den werden können.

So gesche­hen auch in diesem Fall, in welchem das OLG Bamberg über den Sturz einer betreu­ten Senio­rin in einer Tages­pfle­ge­ein­rich­tung, die einem Senio­ren­zen­trum angeschlos­sen ist, zu entschei­den hatte.

Der Sturz in der Tages­pfle­ge­ein­rich­tung

In der von der Tochter, der im Laufe des Prozes­ses verstor­be­nen Senio­rin, geführ­ten Klage vertritt diese die Auffas­sung, dass ein folgen­rei­cher Sturz ihrer Mutter hätte vermie­den werden können.

Die Geschä­digte unter­nahm gemein­sam mit einer weite­ren Senio­rin zur Mittags­zeit des 21. Januar 2019 bei schlech­ten Witte­rungs­ver­hält­nis­sen einen Spazier­gang, bei dem beide Damen von einer Prakti­kan­tin beglei­tet wurden. Bei dem Sturz zog sich die Geschä­digte einen Oberschen­kel­hals­bruch zu. Es folgten eine opera­tive Versor­gung und ein statio­nä­rer Kranken­haus­auf­ent­halt bis zum 4. Februar 2019.

Die Kläge­rin ist der Auffas­sung, dass der Spazier­gang wegen der an diesem Tag herrschen­den Glätte und des körper­li­chen Zustands der Geschä­dig­ten nicht hätte durch­ge­führt werden dürfen. Zudem sei die Prakti­kan­tin nicht ausrei­chend quali­fi­ziert gewesen und hätte mit ihrer Mutter nur unter­ge­hakt laufen dürfen, was aber nicht gesche­hen sei. Der auf die am Unfall­ort bestehende Eisglätte zurück­zu­füh­rende Sturz sei damit auf ein der Beklag­ten zuzurech­nen­des Pflege- bzw. Organi­sa­ti­ons­ver­schul­den zurück­zu­füh­ren.

Die Kläge­rin begehrt mindes­tens 25.000 Euro Schmer­zens­geld, den Ersatz von Kranken­haus- und Pflege­kos­ten in Höhe von 8.766,80 Euro, sowie die Zahlung der vorge­richt­li­chen Rechts­an­walts­kos­ten.

Die erstin­stanz­li­che Wertung

In der ersten Instanz hat das LG Bamberg die Klage abgewie­sen und zur Begrün­dung im Wesent­li­chen ausge­führt, dass ein glätte­be­ding­tes Ausrut­schen, bzw. ein glätte­be­ding­ter Sturz der Geschä­dig­ten nicht nachge­wie­sen worden sei.

Ferner sei die Prakti­kan­tin auch nicht grund­sätz­lich ungeeig­net gewesen, den Spazier­gang durch­zu­füh­ren; ein fehler­haf­tes Verhal­ten bei der Beglei­tung der Geschä­dig­ten sei nicht belegt. Auch hätten weder das Wetter, noch die Konsti­tu­tion der Geschä­dig­ten gegen einen Spazier­gang gespro­chen.

Spazier­gang bei Glatt­eis stellt keine Sorgfalts­wid­rig­keit dar

Hierge­gen hat die Tochter der Geschä­dig­ten Berufung einge­legt, die vom OLG Bamberg mittels Hinweis­be­schluss kein Erfolg zugespro­chen worden ist.

Ausdrück­lich wurde dem Vorbrin­gen, dass der Sturz glatt­eis­be­dingt gesche­hen sei, eine Absage erteilt. Prinzi­pi­ell wurde die Durch­füh­rung eines Spazier­gangs trotz Glatt­eis­ge­fahr nicht als schadensur­säch­li­che Sorgfalts­wid­rig­keit einge­stuft. Hier seien auch andere Unfall­ur­sa­chen denkbar oder zumin­dest nicht auszu­schlie­ßen sind (zum Beispiel: ein Stolpern der über die eigenen Beine).

Für den Erfolg der Klage würde es zudem an dem haftungs­be­grün­den­den Pflicht­wid­rig­keits­zu­sam­men­hang zwischen einem (unter­stellt) pflicht­wid­rig trotz Glatt­eis­ge­fahr durch­ge­führ­ten Spazier­gang und dem zum Schaden führen­den Sturz­ge­sche­hen fehlen. Diese Hypothese gilt auch für den Vorwurf, dass die Prakti­kan­tin die Geschä­digte zum Zeitpunkt des Sturzes nicht unter­ge­hakt habe. Die in Bezug genom­mene erstin­stanz­li­che Beweis­auf­nahme habe dies hinrei­chend belegt.

Eine Absage erhielt die Kläge­rin auch mit der Inanspruch­nahme der Beweis­erleich­te­rungs­re­ge­lung des § 630h Absatz 1 BGB. Ein Sturz bei einem beglei­te­ten Spazier­gang im Rahmen der Betreu­ung in einer Tages­pfle­ge­ein­rich­tung stellt nach Auffas­sung des Senats kein „voll beherrsch­ba­res Behand­lungs­ri­siko“ im Sinne dieser Vorschrift dar.

Kein voll beherrsch­ba­res Risiko

Zwar können zum vollbe­herrsch­ba­ren Risiko neben den typischen Fallgrup­pen der Fehler­haf­tig­keit von medizi­ni­schen Geräten und der Hygie­ne­män­gel, grund­sätz­lich auch die Gefahr von Stürzen im Rahmen von pflege­ri­schen Maßnah­men zu rechnen sein. Im vorlie­gen­den Fall, in dem nicht eine pflege­ri­sche Maßnahme im engeren Sinne, sondern ein beglei­te­ter Spazier­gang im Raum steht, liegt ein voll beherrsch­ba­rer Gefah­ren­be­reich jedoch nicht vor.

Voll beherrsch­bare Risiken sind dadurch gekenn­zeich­net, dass sie durch den Klinik- oder Praxis­be­trieb (hier: die Tages­pfle­ge­ein­rich­tung) gesetzt werden und durch dessen ordnungs­ge­mäße Gestal­tung ausge­schlos­sen werden können und müssen. Sie sind abzugren­zen von den Gefah­ren, die aus den Unwäg­bar­kei­ten des mensch­li­chen Organis­mus bzw. den Beson­der­hei­ten des Eingriffs in diesen Organis­mus erwach­sen und deshalb der Patien­ten­sphäre zuzurech­nen sind.

Ein Spazier­gang, auch wenn dieser in Beglei­tung einer Pflege­kraft unter­nom­men wird, generiert keine spezi­fi­schen durch den Pflege­be­trieb gesetz­ten Risiken, die durch eine ordnungs­ge­mäße Gestal­tung ausge­schlos­sen werden können und müssen. Soweit die Kläge­rin behaup­tet, die Prakti­kan­tin sei nicht hinrei­chend quali­fi­ziert gewesen, ist nicht ersicht­lich, weshalb im vorlie­gen­den Fall eine nicht ausrei­chende Quali­fi­ka­tion für den Sturz kausal gewor­den sein soll.

Daher ist auch aus dem Gesichts­punkt des Einsat­zes von „nicht hinrei­chend quali­fi­zie­ren Perso­nals“ keine Beweis­erleich­te­rung in Frage gekom­men (vgl. § 630h Absatz 4 BGB).

Quelle: OLG Bamberg vom 21. Februar 2023 – 4 U 222/22 = RDG 2023, S. 151–154.