Wer hat geklagt?
Thema Überdosierung: Bei der Klägerin handelt es sich um eine 1961 geborene examinierte Altenpflegerin, die von der Beklagten als verantwortliche Nachtwache auf der Pflegestation beschäftigt wurde. Die Beklagte betreibt ein Alten- und Pflegeheim mit 375 Bewohnerinnen und Bewohnern, von denen die überwiegende Zahl wesentlich älter als 85 Jahre ist. 40 Personen sind aufgrund ihres Pflegebedarfs in der Pflegestation der Einrichtung untergebracht.
Zu den Aufgaben der Klägerin gehört es unter anderem, die Bewohnerinnen und Bewohner mit den jeweiligen Medikamenten zu versorgen, deren Verabreichung aufgrund ärztlicher Anordnung zeitlich in ihre Schicht fällt.
Als Leiterin des Nachtdienstes fällt zudem die Vorbereitung der Medikamentengabe für die nachfolgende Frühschicht in ihrer Verantwortung: Hierzu werden die jeweiligen Medikamente aus dem Medikamentenschrank entnommen und in die zur Vergabe vorgesehenen Behältnisse gefüllt. Im Anschluss wird das Tablett mit den vorbereiteten Medikamenten in einen unverschlossenen Schrank gestellt.
Die hierfür notwendigen Angaben sind dem Medikamentenblatt, das sich in der jeweiligen Patientenakte der Bewohnerin bzw. des Bewohners befindet, zu entnehmen. Um sicherzustellen dass jede Schicht über Änderungen in der Medikation informiert ist, wird in dem bei der Beklagten geführten Übergabebuch ein entsprechender Hinweis hinterlassen, der von der jeweiligen Schichtleitung zu Kenntnis zu nehmen und abzuzeichnen ist.
Verabreichung bereits abgesetzter Medikamente
Auf der Pflegestation der Beklagten sind unter anderem zwei Bewohnerinnen untergebracht, die aufgrund ärztlicher Verordnung das Beruhigungsmittel Diazepam erhielten. Das Medikament war in Zäpfchenform einmal morgens und einmal abends zu verabreichen.
Am 13. Juni 2000 änderte der behandelnde Arzt die Verordnung dahingehend, dass das Zäpfchen nur noch am Morgen gegeben werden sollte. Der Hinweis im Übergabebuch, dass bei den Bewohnerinnen eine Medikationsänderung vorlag, hat die Klägerin kenntnisnehmend abgzeichnet.
Wie die Klägerin später im Übergabebuch festhielt, waren die zugehörigen Medikamentenblätter in den Patientenakten der Bewohnerinnen nicht auffindbar. Tatsächlich wurde diese erst am Folgetag von der Pflegedienstleiterin nachgereicht und standen somit erst zum Beginn der nächsten Nachschicht wieder zur Verfügung. In der Zwischenzeit hatte der behandelnde Arzt das Diazepam für beide Bewohnerinnen vollständig abgesetzt.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 2000 verabreichte die Klägerin beiden Bewohnerinnen ein Zäpfchen Diazepam. Die beklagte Einrichtung mahnte sie daraufhin ab.
Überdosierung beim Medikamentenstellen
In der Nachschicht vom 10. August 2000 bereitete die Klägerin wie üblich die Medikamente vor, die von den Mitarbeitern der Frühschicht den Patienten gegeben werden sollten. Hierbei kam es jedoch in drei Fällen zu einer Überhöhung der Dosierung:
- Bei einer Bewohnerin wurden 15 ml (statt 10 ml) des Abführmittels Bifiteral vorbereitet.
- Bei einer Bewohnerin wurden 5 ml (statt 2 ml) des Neuroleptikums Dipiperons vorbereitet.
- Bei einem Bewohner wurden 5 ml (statt 2 ml) des Antipsychotikums Eunerpan vorbereitet.
Nach Auffassung der Beklagten rechtfertige dieser Vorfall die fristlose, hilfsweise fristgerechte, Kündigung des Arbeitsverhältnisses.
Fristgerechte Kündigung wirksam
Hiergegen wehrte sich die Klägerin mittels eines Kündigungsschutzverfahrens vor dem Arbeitsgericht Lübeck an (Az.: 1 Ca 2503/00). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sah es die Kammer jedoch als erwiesen an, dass entsprechende Überdosierungen vorgelegen haben und erkannten die fristgerechte Beendigung des Arbeitsverhältnisse für rechtswirksam. Die Klägerin legte daraufhin Berufung vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Schleswig-Holstein ein.
Das LAG wies die Berufung ab (Az.: 1 Sa 78 e/01) und erklärte: Die Kündigung ist in ihrer ordentlichen Form gemäß § 1 Absatz 1 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) rechtswirksam. Zu rechtfertigen sei dies mit dem fahrlässigen Verhalten der Klägerin.
Die Beklagte weise zu Recht darauf hin, dass die Pflicht zur ordnungsgemäßen Verabreichung der Medikamente eine besonders wichtige für eine Altenpflegerin sei. Die einschlägig abgemahnte Klägerin habe nach nur einem Monat erneut gegen diese Pflicht verstoßen.
Die Schwere der Fahrlässigkeit äußerst sich konkret durch die Menge der falsch verabreichten Medikamente. Es handle sich um eine Überdosierung von 150 Prozent bei Beruhigungs- und Abführmitteln. Eine solche Überdosierung kann bei älteren Menschen gefährliche Folgen nach sich ziehen.
Die Klägerin kann sich des Weiterrn nicht drauf berufen, dass eine vernünftige Dosierung aufgrund der dickflüssigen Konsistenz der Medikamente nicht möglich gewesen sei. Die Pharmafirmen legen schließlich jedem Medikament eine Dosierhilfe bei. Kommt diese abhanden, liegt es an der Klägerin, mittels entsprechender Werkzeuge die richige Dosierung vorzunehmen, so das Gericht.
Vor diesem Hintergrund dürfe ein solches Verhalten unter keinen Umständen vorkommen.
Hinweis: Auch wenn die Klägerin in diesem Fall offiziell abgemahnt wurde, so kann ein fahrlässiges Verhalten auch zu einer ordentlichen Kündigung führen, ohne dass es zuvor einer Abmahnung bedarf.
Tipp: Überdosierung vermeiden durch die „6‑R-Regel“
Um eine fehlerhafte Medikamentverabreichung zu vermeiden empfiehlt es sich, sich an den sogenannten sechs „R’s“ zu orientieren und folgendes zu kontrollieren:
- Richtiger Patient
- Richtiges Arzneimittel
- Richtige Dosierung
- Richtige Applikation
- Richtiger Zeitpunkt
- Richtige ärztliche Anordnung
Quelle: LAG Schleswig-Holstein vom 24. Juli 2001 – 1 Sa 78 e/01 = RDG 2021, Heft 5, Urteilskartei.