Stimme drängt zum Suizid
Mit Verdacht auf eine schizophrene Störung begab sich ein 25-jähriger Mann freiwillig in stationäre psychiatrische Behandlung. Zu diesem Zeitpunkt ging es ihm schon einige Monate schlecht. In seinem Kopf höre er eine Stimme, die ihn beeinflusse. Die Stimme habe imperativen Charakter und dränge ihn, sich das Leben zu nehmen.
Der Mann befand sich in den Monaten November und Dezember 2018 in stationärer Behandlung. Bei der Einweisung unterschrieb er eine Einverständniserklärung, mit der er einwilligte, im Bedarfsfall auch auf der geschlossenen Station behandelt zu werden.
Seine stationäre Behandlung unterbrach der Mann immer wieder gegen ärztlichen Rat. Er gab an, mit den Medikamenten zufrieden zu sein und dass er die Stimme nicht mehr höre. Trotzdem ließ er sich jedes Mal nur kurze Zeit später wieder in der Klinik aufnehmen – erneut mit Einwilligung zur geschlossenen Unterbringung, die jedoch nie erfolgte.
Ausgang zu Silvester gewährt
Ab dem 5. Dezember wurde der Mann nicht mehr als akut suizidal eingeschätzt. Nachdem er erneut Suizidgedanken und das Hören von Stimmen verneinte, wurde dem Mann vom 29. auf den 30. Dezember Ausgang gewährt, um Neujahr mit seiner Familie zu verbringen. Bei seinen Eltern angekommen, fuhr er alleine mit dem Fahrrad zu einer nahegelegenen Brücke und stürzte sich 20 Meter in die Tiefe. Er verletzte sich schwer.
Vor Gericht klagt er gegen die Klinik und begehrt Schmerzensgeld, Feststellung einer weitergehenden Ersatzpflicht und Zahlung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten wegen einer vermeintlich fehlerhaften psychiatrischen Behandlung.
Ausschlaggebend für die Entscheidung des Gerichts war, ob am 29. Dezember 2018 eine akute Selbstmordgefährdung des Klägers nicht richtig erkannt wurde und ob aus dieser falschen Annahme schließlich die Beurlaubung erfolgte.
Das Gericht hat der Klage schließlich in allen wesentlichen Punkten zugestimmt. Nach §§ 630a, 280 Absatz 1, 278, 823 Absatz 1, 831, 249 ff., 253 Absatz 2 BGB hat der Kläger tatsächlich Anspruch auf Schmerzensgeld und Feststellung einer weitergehenden Ersatzpflicht. Der Mann habe Schäden erlitten, die durch einen groben Behandlungsfehler entstanden sind.
Grober Behandlungsfehler
Die psychiatrische Behandlung sei in besonderem Maße hinter ärztlichen Standards zurückgeblieben. Befunde seien durch Gespräche mit dem Patienten und entsprechende Dokumentation nicht oft genug und nicht in ausreichender inhaltlicher Tiefe erhoben worden, um die anfängliche Diagnose fallen zu lassen.
Die Ärztinnen und Ärzten hätten zudem versuchen müssen, den Mann davon zu überzeugen in stationärer Behandlung zu bleiben. Hätte der Mann auf seinem Beurlaubungswunsch bestanden, wäre die zwangsweise Unterbringung auf der geschlossenen Station notwendig gewesen.
Wird also die Diagnose einer akuten Suizidalität zu früh aufgegeben, kann darin ein ärztlicher Behandlungsfehler liegen. Die akute Suizidgefahr begründet nämlich eine gesteigerte Sicherungspflicht. Hierbei haben vertrauensbildende Maßnahmen – wie das Gewähren eines Ausgangs – hinter der Sicherung des Patienten zurückzutreten.
Das Gericht erachtet ein Schmerzensgeld in Höhe von 120.000 Euro für angemessen. Zudem wird der Forderung nach Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten mit einer Höhe von 2.348,94 Euro stattgegeben.
Eine ausführliche Darstellung des Urteils mit allen Entscheidungsgründen ist in der Ausgabe Mai/Juni 2023 der Rechtsdepesche zu finden.
Quelle: OLG Hamm vom 20. Dezember 2022 – 26 U 15/22 = RDG 2023, S. 142 ff.