Suizid
Nach einem Selbst­mord­ver­such klagt der Mann nun gegen die Klinik (Symbol­bild) Bild: 16391475/Pixabay.com

Stimme drängt zum Suizid

Mit Verdacht auf eine schizo­phrene Störung begab sich ein 25-jähri­ger Mann freiwil­lig in statio­näre psych­ia­tri­sche Behand­lung. Zu diesem Zeitpunkt ging es ihm schon einige Monate schlecht. In seinem Kopf höre er eine Stimme, die ihn beein­flusse. Die Stimme habe impera­ti­ven Charak­ter und dränge ihn, sich das Leben zu nehmen.

Der Mann befand sich in den Monaten Novem­ber und Dezem­ber 2018 in statio­nä­rer Behand­lung. Bei der Einwei­sung unter­schrieb er eine Einver­ständ­nis­er­klä­rung, mit der er einwil­ligte, im Bedarfs­fall auch auf der geschlos­se­nen Station behan­delt zu werden.

Seine statio­näre Behand­lung unter­brach der Mann immer wieder gegen ärztli­chen Rat. Er gab an, mit den Medika­men­ten zufrie­den zu sein und dass er die Stimme nicht mehr höre. Trotz­dem ließ er sich jedes Mal nur kurze Zeit später wieder in der Klinik aufneh­men – erneut mit Einwil­li­gung zur geschlos­se­nen Unter­brin­gung, die jedoch nie erfolgte.

Ausgang zu Silves­ter gewährt

Ab dem 5. Dezem­ber wurde der Mann nicht mehr als akut suizi­dal einge­schätzt. Nachdem er erneut Suizid­ge­dan­ken und das Hören von Stimmen verneinte, wurde dem Mann vom 29. auf den 30. Dezem­ber Ausgang gewährt, um Neujahr mit seiner Familie zu verbrin­gen. Bei seinen Eltern angekom­men, fuhr er alleine mit dem Fahrrad zu einer nahege­le­ge­nen Brücke und stürzte sich 20 Meter in die Tiefe. Er verletzte sich schwer.

Vor Gericht klagt er gegen die Klinik und begehrt Schmer­zens­geld, Feststel­lung einer weiter­ge­hen­den Ersatz­pflicht und Zahlung vorge­richt­li­cher Rechts­ver­fol­gungs­kos­ten wegen einer vermeint­lich fehler­haf­ten psych­ia­tri­schen Behand­lung.

Ausschlag­ge­bend für die Entschei­dung des Gerichts war, ob am 29. Dezem­ber 2018 eine akute Selbst­mord­ge­fähr­dung des Klägers nicht richtig erkannt wurde und ob aus dieser falschen Annahme schließ­lich die Beurlau­bung erfolgte.

Das Gericht hat der Klage schließ­lich in allen wesent­li­chen Punkten zugestimmt. Nach §§ 630a, 280 Absatz 1, 278, 823 Absatz 1, 831, 249 ff., 253 Absatz 2 BGB hat der Kläger tatsäch­lich Anspruch auf Schmer­zens­geld und Feststel­lung einer weiter­ge­hen­den Ersatz­pflicht. Der Mann habe Schäden erlit­ten, die durch einen groben Behand­lungs­feh­ler entstan­den sind.

Grober Behand­lungs­feh­ler

Die psych­ia­tri­sche Behand­lung sei in beson­de­rem Maße hinter ärztli­chen Standards zurück­ge­blie­ben. Befunde seien durch Gesprä­che mit dem Patien­ten und entspre­chende Dokumen­ta­tion nicht oft genug und nicht in ausrei­chen­der inhalt­li­cher Tiefe erhoben worden, um die anfäng­li­che Diagnose fallen zu lassen.

Die Ärztin­nen und Ärzten hätten zudem versu­chen müssen, den Mann davon zu überzeu­gen in statio­nä­rer Behand­lung zu bleiben. Hätte der Mann auf seinem Beurlau­bungs­wunsch bestan­den, wäre die zwangs­weise Unter­brin­gung auf der geschlos­se­nen Station notwen­dig gewesen.

Wird also die Diagnose einer akuten Suizi­da­li­tät zu früh aufge­ge­ben, kann darin ein ärztli­cher Behand­lungs­feh­ler liegen. Die akute Suizid­ge­fahr begrün­det nämlich eine gestei­gerte Siche­rungs­pflicht. Hierbei haben vertrau­ens­bil­dende Maßnah­men – wie das Gewäh­ren eines Ausgangs – hinter der Siche­rung des Patien­ten zurück­zu­tre­ten.

Das Gericht erach­tet ein Schmer­zens­geld in Höhe von 120.000 Euro für angemes­sen. Zudem wird der Forde­rung nach Erstat­tung der vorge­richt­li­chen Rechts­ver­fol­gungs­kos­ten mit einer Höhe von 2.348,94 Euro statt­ge­ge­ben.

Eine ausführ­li­che Darstel­lung des Urteils mit allen Entschei­dungs­grün­den ist in der Ausgabe Mai/Juni 2023 der Rechts­de­pe­sche zu finden.

Quelle: OLG Hamm vom 20.12.2022 – 26 U 15/22