Freiheitsentziehende Maßnahmen
Pflegende und ärztli­ches Perso­nal sollten sich im Klaren darüber sein, was Freiheits­ent­zug bedeu­tet

Die Pflege von älteren, kranken oder demen­ten Perso­nen mit einer gerin­gen Mobili­tät stellt Pflege­kräfte häufig vor ein Problem: Diese Perso­nen weisen oftmals ein erhöh­tes Sturz­ri­siko auf, welches durch freiheits­ent­zie­hende Maßnah­men, wie Fixie­run­gen, Steck­ti­sche am Rollstuhl oder Gitter am Bett verhin­dert werden kann.

Damit beraubt man dem Patient in diesen Situa­tio­nen eines seiner Grund­rechte, seiner Freiheit, und handelt damit unrecht­mä­ßig, solange der Patient nicht bei vollem Bewusst­sein in diese Maßnah­men einwil­ligt oder eine richter­li­che Geneh­mi­gung für die Durch­füh­rung der freiheits­ent­zie­hen­den Maßnahme vorliegt.

Ziel der Pflege sollte daher sein, auch ohne Fixie­run­gen und freiheits­be­rau­bende Maßnah­men auszu­kom­men.

Projekt „PROTECT“ zur Vermei­dung von freiheits­ent­zie­hen­den Maßnah­men

Eine Studie der Univer­si­täts­me­di­zin Halle (Saale) mit dem Namen „PROTECT“ hat sich geau diesem Thema angenom­men und unter­sucht, mit welchen Strate­gien und Abläu­fen freiheits­ent­zie­hende Maßnah­men im statio­nä­ren Kranken­haus­be­reich vermie­den und „ersetzt“ werden können.

Das Bundes­mi­nis­te­rium für Bildung und Forschung (BMBF) bezuschusst das Projekt mit knapp 580.000 Euro über die nächs­ten drei Jahre.

Studi­en­lei­ter Dr. Jens Abraham vom Insti­tut für Gesund­heits- und Pflege­wis­sen­schaft der Univer­si­täts­me­di­zin Halle erklärt am Beispiel der Bettgit­ter:

„Man glaubt, damit Stürze zu verhin­dern. […] Tatsäch­lich ereig­nen sich nicht mehr Stürze, wenn das Bettgit­ter wegge­las­sen wird und andere Maßnah­men ergrif­fen werden. Tenden­zi­ell passie­ren sogar schwe­rere Unfälle, weil beispiels­weise Patien­tin­nen und Patien­ten über das Bettgit­ter klettern und damit aus größe­rer Höhe fallen. Hinzu­kommt, dass sich Pflegende und ärztli­ches Perso­nal im Klaren sein müssen, was Freiheits­ent­zug bedeu­tet und dass dies auch eine ethische Frage­stel­lung ist.“
Dr. Jens Abraham

Insge­samt nehmen in den nächs­ten sechs Monaten der rando­mi­sier­ten Studie sechs bis acht Kranken­häu­ser mit voraus­sich­tich 28 Statio­nen aus der Region Halle-Leipzig an „PROTECT“ teil. Dabei soll jedoch nur die Hälfte der Statio­nen das Inter­ven­ti­ons­pro­gramm durch­füh­ren, die andere Hälfte bleibt bei ihrer üblichen Versor­gung als Kontrolle.

So wolle man am Ende ein evidenz­ba­sier­tes Konzept für das Weglas­sen von freiheits­ent­zie­hen­den Maßnah­men und den Einsatz von alter­na­ti­ven Starte­gien entwi­ckeln, sagt Dr. Jens Abraham.

Möglich sei unter anderem der Einsatz von Sturz­mat­ten, Mobili­täts­hil­fen, Niedrig­bet­ten, aber auch verän­derte Arbeits­ab­läufe, wie etwa verän­derte nächt­li­che Rundgangs­re­geln.

„Es ist ein patien­ten­ori­en­tier­ter Ansatz, der aber auf Erkennt­nis­sen der Pflege­for­schung basiert und – so hoffen wir, zeigen zu können – pflege­ri­sche Maßnah­men für alle Betei­lig­ten nachhal­tig positiv verän­dern kann.“
Dr. Jens Abraham

Niedrig­flur­bet­ten und „Boden­pflege“ als Alter­na­tive in der Pflege

Die wohl gängigste Alter­na­tive zum Bettgit­ter sind die verstell­ba­ren Pflege­bet­ten oder auch Niedrig­flur­bet­ten. Während die Bettgit­ter bei einem normal hohen Pflege­bett einen Patient­zen­sturz aus knapp einem halben Meter verhin­dern sollen, vermin­dert sich die Sturz­ge­fahr bei einem niedri­ge­ren Bett alleine durch die gerin­gere Fallhöhe schon einmal deutlich.

Will man darüber hinaus die mögli­chen Sturz­fol­gen so gering wie möglich halten, kann man versu­chen, die Aufprall­flä­che etwas weicher zu gestal­ten und beispiels­weise zusätz­lich eine Matratze vor das Bett legen. Weiter­hin ist es möglich, die Knochen der Patien­ten mit Medika­men­ten zu stärken, um sie vor einer sogenann­ten Osteo­po­rose zu bewah­ren, die sie anfäl­li­ger für Knochen­brü­che macht.

Etwas ungewöhn­li­cher, aber mittler­weile hier und dort bereits etabliert ist die Pflege von älteren Patien­ten in sogenann­ten „Bettnes­tern“, bei denen sich die Matratze samt dem auf ihr liegen­den Patien­ten auf dem Bogen liegt und die Person auch am Boden gepflegt wird.

Die Mobili­tät der Patien­ten ist hierbei quali­ta­tiv zwar gerin­ger, jedoch nicht durch eine Fixie­rung komplett einge­schränkt.

Freiheits­ent­zie­hende Maßnah­men adé? Welche Ersatz­wege gibt es?

Stürzen vorbeu­gen heißt nicht, den Patien­ten bewegungs­un­fä­hig zu machen. Im Gegen­teil: Wer mobil ist, stürzt weniger!

Es gilt in erster Linie, die Situa­tio­nen, in denen sich Stürze öfters ereig­nen, zu vermei­den. Dazu zählen das Aufste­hen aus dem Bett, das eigen­stän­dige Laufen und die Bewegung im dunkeln. Gehhil­fen erleich­tern schon einmal die Bewegung am Tag, da sich der Patient an ihnen festhal­ten kann und bei der Bewegung unter­stützt wird.

Sollte es dabei doch zu einen Sturz kommen, kann der Patient durch das Tragen eines Sturz­helms und Hüftpro­tek­to­ren größere Verlet­zun­gen zumin­dest abfedern.

Damit der Patient beim Aufste­hen aus dem Bett nicht ins Leere tritt, gibt es Sensor- bezie­hunsgweise Tritt­mat­ten, die vor das Bett gelegt werden können, damit sich der Patient daran orien­tie­ren kann. Auch ein Bewegungs­licht unter­halb oder in der Nähe des Bettes stellt eine geeig­nete Maßnahme dar, da sie den Raum erhel­len, wenn sich der Patient bewegen möchte.

Und auch eine „Misch­form“ zwischen freiheits­ent­zie­hen­den und freiheits­ge­ben­den Maßnah­men ist denkbar. Ähnlich wie bei den Pflege­bet­ten gibt es auch verstell­bare Pflege­roll­stühle die sowohl das Sitzen, als auch ein beque­me­res Liegen ermög­li­chen – aller­dings häufig von pflege­ri­schem Perso­nal bedient und gefah­ren werden müssen.

Zuletzt wäre da noch die Möglich­keit des geteil­ten Bettgit­ters, bei der der Patient im Pflege­bett durch eine Vorrich­tung am Bett vor dem Heraus­fal­len bewahrt wird, jedoch die Möglich­keit hat, an dem Teil des Bettes, an der kein Gitter im Weg ist, aus dem Bett zu klettern.

Weitere Alter­na­ti­ven

  • Regel­mä­ßige Kranken­gym­nas­tik und Balance­trai­ning
  • Instal­la­tion eines Hausnot­ruf­sys­tems
  • Sitzwa­che oder regel­mä­ßige Kontrolle
  • Stopper­so­cken

Die beste Lösung ist am Ende jedoch zu versu­chen, die Patien­ten so mobil wie möglich zu halten und bewegungs­för­dernde Maßnah­men anzubie­ten. Wer mobil ist, stürzt weniger, bezie­hungs­weise kann die Folgen eines Sturzes besser kompen­sie­ren. Des Weite­ren sollte – gerade in der häusli­chen Pflege – eine sichere Fortbe­we­gung gewähr­leis­tet sein, indem mögli­che Stolper­ge­fah­ren besei­tigt und Gefah­ren­stel­len wie Treppen mit Gelän­dern und rutsch­fes­ten Matten abgesi­chert werden.