Darm
Hochkom­plex: der mensch­li­che Darm

Der damals 53-Jährige Mann kam mit einem Adeno­kar­zi­nom des Rektums in ein Kranken­haus. Am 29. Septem­ber 2017 unter­zog er sich einer Opera­tion, bei der das Karzi­nom im Wege einer Rekto­sig­mo­id­re­sek­tion entfernt wurde. Im Anschluss an die Darmkrebs­ope­ra­tion folgte eine ambulante Chemo­the­ra­pie. Hierbei entwi­ckelte der Betrof­fene Fieber, einen Harnwegs­in­fekt und eine Pneumo­nie. Die Folge war eine weitere statio­näre Behand­lung in dem Haus, in dem auch schon die Opera­tion statt­fand. Eine Bauch­so­no­gra­fie im Zuge der Behand­lung erbrachte einen weitest­ge­hend unauf­fäl­li­gen Befund.

Darmver­schluss durch Bauch­tuch

Am 24. April 2018 kam der Mann erneut in dasselbe Haus mit dem Verdacht auf einen Darmver­schluss im Bereich des Colon descen­dens. Da es sich um einen akuten Notfall handelte, wurde der Mann umgehend am Bauch operiert mit Stoma-Anlage. Am Folge­tag ergaben eine Compu­ter­to­mo­gra­fie und eine Endosko­pie, dass sich in der Darmlich­tung des Colon sigmo­ideum ein grünes, zusam­men­ge­press­tes Bauch­tuch befand. Das Tuch wurde dann am nächs­ten Tag opera­tiv entfernt. Nach einer weite­ren Opera­tion am 12. Juni 2018 zur Stoma-Rückver­le­gung stell­ten sich Kompli­ka­tio­nen ein, die zu einer weite­ren Behand­lung führten.

Haben die Ärzte das Tuch verges­sen?

Für den Betrof­fe­nen war der Fall klar: Er behaup­tete, die Ärzte hätten das Bauch­tuch bei der Opera­tion am 29. Septem­ber 2017 grob fehler­haft in seinem Darm verges­sen. Nur so konnte es zum Darmver­schluss kommen. Zusätz­lich führte der Mann in seiner Klage vor dem Landes­ge­richt Leipzig ein Gutach­ten des Medizi­ni­schen Diens­tes der Kranken­ver­si­che­run­gen (MDK) an, das seine Behaup­tung stützte.

Die Beklagte bestritt aller­dings, dass das Bauch­tuch von der besag­ten Opera­tion stammte. Eine Zählkon­trolle nach der OP sei vollstän­dig gewesen. Eine histo­lo­gi­sche Unter­su­chung habe zusätz­lich ergeben, dass das Tuch nur via natura­lis per anal in den Darm gelangt sein könne. Der Mann soll sich also das Tuch selbst einge­führt haben.

Das LG Leipzig gab der Beklag­ten recht und wies die Klage nach Anhörung des Klägers ab – aus zwei Gründen. Erstens war das Gericht der Ansicht, dass die erfolgte Zählkon­trolle gegen die Behaup­tung des Klägers spreche. Zweitens wider­lege auch der Patho­lo­gie­be­richt über die histo­lo­gi­sche Unter­su­chung die Behaup­tung des Klägers. Das MDK-Gutach­ten sei zudem unergie­big.

Eine Entschei­dung, die der Kläger nicht hinneh­men konnte. In seiner Berufung stellte er sich gegen die Ansich­ten des Landge­richts: Die „Selbst­bei­brin­gung“ des Tuchs sei unmög­lich, nicht wahrschein­lich und erst recht nicht durch den Patho­lo­gie­be­richt erwie­sen. Zudem habe das Gericht die Entschei­dung ohne einen Sachver­stän­di­gen­be­weis getrof­fen. Mit dem MDK-Gutach­ten habe sich das Gericht ebenfalls nicht ausrei­chend ausein­an­der­ge­setzt.

Der Kläger forderte deshalb Schmer­zens­geld von mindes­tens 75.000 Euro, Schadens­er­satz von 17.581,56 Euro und die Feststel­lung, dass die Beklagte verpflich­tet ist, ihm sämtli­che weitere entstan­de­nen und künftig noch entste­hen­den materi­el­len Schäden, welche aus der fehler­haf­ten Behand­lung entstan­den sind, zu erset­zen. Außer­dem verlangt er den Ersatz der vorge­richt­li­chen Rechts­an­walt­kos­ten von 3.371,03 Euro.

Gewähr­leis­tung prozes­sua­ler Waffen­gleich­heit nicht gegeben

In der Berufung werden einige Rechts­feh­ler im Prozess vor dem LG Leipzig deutlich. Das angefoch­tene Urteil auf Antrag des Klägers war aufzu­he­ben und die Sache an das Landes­ge­richt zurück­zu­ver­wei­sen. Der Fehler lag vor allem darin, dass das Gericht keinen Sachver­stän­di­gen zurate gezogen hatte. Nach Artikel 103 Absatz 1 des Grund­ge­set­zes wurde hiermit der Anspruch des Klägers auf Gewäh­rung recht­li­chen Gehörs verletzt.

In einem Arzthaf­tungs­pro­zess – wie es in diesem Fall auch einer ist – darf das Gericht nur maßvolle Anfor­de­run­gen an die Darle­gungs- und Substan­ti­ie­rungs­last des klagen­den Patien­ten stellen. Das Gericht muss deshalb – sollte der Patient den maßvol­len Anfor­de­run­gen genügen – den Sachver­halt „von Amts wegen“ aufklä­ren. Damit soll die prozes­suale Waffen­gleich­heit der Parteien gewähr­leis­tet werden.

Daraus resul­tiert für das Gericht eine gestei­gerte Verpflich­tung zur Sachver­halts­auf­klä­rung gemäß § 139 der Zivil­pro­zess­ord­nung (ZPO), die bis hin zur Einho­lung eines Sachver­stän­di­gen­gut­ach­tens (§ 144 Absatz 1 Satz 1 ZPO) von Amts wegen reicht. Ein Sachver­stän­di­gen­gut­ach­ten ist dann notwen­dig, wenn der Patient darauf angewie­sen ist, dass der Sachver­halt durch ein solches aufbe­rei­tet wird. Ohne ein solches Gutach­ten darf das Gericht meist nicht den medizi­ni­schen Sorgfalts­maß­stab festle­gen.

Berufung zeigt mehrere Rechts­feh­ler auf

Für den obigen Fall bedeu­tet das, dass durch die Klage­ab­wei­sung der Anspruch des Klägers auf recht­li­ches Gehör verletzt wurde. Der Kläger erfüllte nämlich alle maßvol­len Anfor­de­run­gen; Er hatte alle Voraus­set­zun­gen eines Schadens­er­satz­an­spru­ches infolge des behand­lungs­feh­ler­haf­ten Vorge­hens – auch durch das vorge­legte MDK-Gutach­ten – vorge­tra­gen. Auch der Beweis des ersten Anscheins sprach für die Annahme eines Behand­lungs­feh­lers. So bestand nicht nur ein zeitli­cher Zusam­men­hang zwischen der Darmkrebs­ope­ra­tion und dem Fund des Bauch­tuchs, sondern auch OP-Gebiet und Fundort des Tuchs stimm­ten überein.

Die Berufung zeigte auch – entge­gen der Ansicht des Landes­ge­richts -, dass die Behaup­tung des Klägers nicht allein durch den vorge­leg­ten Patho­lo­gie­be­richt entkräf­tet wird. Der Bericht geht nämlich nur hypothe­tisch davon aus, dass das Bauch­tuch nach der OP nicht verges­sen wurde. Sollte dem tatsäch­lich so gewesen sein, wäre es nur möglich, dass das Tuch durch den Bauch­raum heraus in die Darmlich­tung gelangt sei. Dies war jedoch höchst unwahr­schein­lich und somit auszu­schlie­ßen.

Hat der Kläger sich das Bauch­tuch selbst einge­führt?

Der Behaup­tung, das Tuch selbst einge­führt zu haben, entgeg­nete der Kläger mit der Gegen­dar­stel­lung, dass es üblich sei, bei der durch­ge­führ­ten Darmope­ra­tion auch Tücher in der Darmlich­tung zu verwen­den. Diese Behaup­tung findet sich auch in dem vorge­leg­ten MDK-Gutach­ten wieder.

Ohne einen Sachver­stän­di­gen hätte sich das Landes­ge­richt Leipzig niemals über diese Behaup­tung hinweg­set­zen können. Es wäre somit richtig gewesen, ein Sachver­stän­di­gen­gut­ach­ten einzu­ho­len, das diesen Anscheins­be­weis entkräf­tet. Das Gutach­ten wäre darüber hinaus nicht nur sinnvoll gewesen, um die Behaup­tung des Klägers zu überprü­fen, sondern auch die der Beklag­ten. Es blieb nämlich die Frage zu klären, ob es überhaupt möglich ist, sich ein solches Bauch­tuch bis zu der Höhe, in der es gefun­den wurde, selbst einzu­füh­ren.

Gegen die Annahme der Selbst­bei­brin­gung spricht aber ohnehin, dass solch ein Verhal­ten sehr selbst­schä­di­gend wäre. Für eine Schadens­er­satz­neu­rose des Klägers gab es aber keine Anhalts­punkte. Wie der Kläger in den Besitz eines solchen Bauch­tuchs gekom­men sein soll, ist zudem fraglich.

Arzt und Klinik tragen Darle­gungs- und Beweis­last

Da es sich beim Zurück­las­sen eines Fremd­kör­pers im OP-Gebiet um den voll beherrsch­ba­ren Bereich des Arztes bzw. der Klinik handelt, liegt die Darle­gungs- und Beweis­last für die Gewähr einwand­freier Voraus­set­zun­gen ohnehin vielmehr beim Kranken­haus­trä­ger bzw. bei den Ärzten. Welche Vorkeh­run­gen bei der OP des Klägers für einen reibungs­lo­sen Ablauf nötig gewesen wäre, blieb vor Gericht zwischen den Parteien aller­dings strei­tig.

Auch hier wäre ein Sachver­stän­di­gen­gut­ach­ten sinnvoll gewesen. Die von der Beklag­ten angeführte Zählkon­trolle war darüber hinaus nicht ausrei­chend. In dem digita­len OP-Bericht würde bei der Zählkon­trolle ledig­lich „Ja“ angeben. Die Beklagte ist der Dokumen­ta­ti­ons­pflicht somit nicht im notwen­di­gen Maße nachge­kom­men.

Angesichts der Mängel des Verfah­rens in der ersten Instanz, ist eine Aufhe­bung des Urteils und eine Zurück­ver­wei­sung gerecht­fer­tigt. Sollte sich erwei­sen, dass das Bauch­tuch opera­tiv einge­bracht wurde, muss das Landge­richt zudem klären, ob das verse­hent­li­che Zurück­las­sen ein – mögli­cher­weise grober – Behand­lungs­feh­ler ist.